Die Mehrheit finanziert den Staat, entscheidet aber nichts

Zeitenwende im Finanzsystem (Teil 4)

Ein Kommentar von Rob Kenius.

Wenn wir versuchen, das Finanzsystem zu durchschauen, stehen wir vor einer großen Schwierigkeit: Das menschliche Gehirn ist nicht in der Lage, Zahlen wie eine Milliarde zu erfassen. Wir könnten nicht einmal bis zu einer Milliarde leise vor uns hin zählen, dazu brauchte man mehr als 150 Jahre.

Was ist uns eine Milliarde wert?

Die Vorstellung großer Zahlen endet etwa bei hunderttausend. Ein großes Stadion voll Menschen und davon das Doppelte oder die Bevölkerung einer großen Stadt, das sind hunderttausend. An den Begriff der Million haben wir uns gewöhnen müssen. Wir leben vielleicht in einer Millionenstadt oder kennen aus der Ferne eine Millionärin.

Ein Milliardär hat soviel Geld wie tausend Millionärinnen zusammen und Susanne Klatten vermehrt ihr Milliardenvermögen um etwa 150.000 Euro pro Stunde! Ohne einen Finger zu rühren und ohne aus dem Bett aufzustehen.

Das Unverständnis für die Milliarde als Zahl, auch auf Seite der Finanzen und der Politik, ist ein psychologischer Grund für die Finanzexplosion, bei der alle Zahlen, die großes Geld bedeuten, in wenigen Jahren vervielfacht wurden. Die Mehrheit der Menschen glaubt wohl, diejenigen, die mit Milliarden umgehen, hätten ein Verständnis für die Menge. Das ist nicht so. Das lebendige Gehirn des Menschen kann die Milliarde nicht. Computer sind uns überlegen, sie verarbeiten beliebige Zahlen in Millisekunden.

Trotzdem will ich versuchen, die Zahl hundert Milliarden Euro, die Herr Scholz so locker in Rüstung investiert, zu veranschaulichen. Man könnte mit diesem Geld 10 Millionen Menschen jeweils 10.000 Euro auszahlen, also allen in Pflegeberufen und vielen anderen prekär Beschäftigten einen Jahreszuschlag von 10.000 Euro gewähren, insgesamt 10 Millionen Menschen. Man kann natürlich auch 10.000 Menschen mit 10 Millionen beglücken und das ist genau das, was in Wirklichkeit in der liberalen Demokratie geschieht.

Wenn man das Geld für Waffen ausgibt, müsste man schnell die allgemeine Wehrpflicht einführen, um die Menge des Materials zu lagern, zu transportieren und zu warten. Vom Kriegseinsatz ganz zu schweigen. Eine einfache Möglichkeit, das Geld schnell anzulegen, ist dagegen, man kauft das Allerteuerste, was die US-Waffenindustrie zu bieten hat. (Nuklearwaffen sind nicht im Handel.)

Finanzpolitik gegen die Mehrheit

Um die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler nicht zu erschrecken, wurden die hundert Schulden-Scholz-Milliarden ein Sondervermögen genannt, welches aber eine Staatsschuld ist. Was bedeutet Staatsschuld? Und was hat der Staat dagegen für Einnahmen? Es sind die Steuern. Laut OXFAM bringt die Lohnsteuer 18%, die Einkommensteuern 19%, aber die Kapitalertragsteuer nur 14%.

Den Hauptanteil bringt die Mehrwertsteuer mit 44%. Auf den ersten Blick erscheint uns die MWSt gerecht, weil sie für alle Bürger den gleichen Prozentsatz ausmacht. Aber Normalbürger geben 50% oder mehr für Konsum und Lebenshaltung aus und zahlen neben der Lohn- oder EK-Steuer noch MWSt obendrauf. Wer aber nur 5% seines Einkommens für Konsum ausgibt und den Rest im Finanzsektor investiert, kommt viel besser weg.

Der hohe Anteil der MWSt am Staatshaushalt verhindert auch, dass die Umweltbelastung etwa durch Konsumeinschränkungen reduziert wird. Der Staat hat sich finanziell vom Massenkonsum abhängig gemacht. Deshalb geschieht auch nichts gegen sinnlosen, Sucht erregenden oder krank machenden Konsum. Der Staat braucht die Steuer der uninformierten Konsumentinnen und Konsumenten, weil die Reichen viel zu wenig Steuern zahlen. Mit Konsumverzicht würde außerdem der Fetisch Wirtschaftswachstum angetastet.

Für dieses Problem gibt es eine einfache rationale Lösung ohne etwas zu verbieten: eine gestaffelte Mehrwertsteuer, bei welcher der schädliche Konsum sehr viel höher besteuert wird. Diese Idee wird in meinem schon mehrmals genannten Buch genau ausgeführt.

Skandalös ist die niedrige Kapitalertragsteuer von pauschal nur 25%. Für kleine Erträge ist das noch so gerade mit der Einkommensteuer vergleichbar. Es ist aber ein übler Witz, dass Milliardärinnen auf ihren Kapitalertrag weniger Steuern zahlen als ein Ehepaar der Mittelklasse. Indem von den Einkommensteuern (19% des Aufkommens) ebenfalls ein großer Teil von Normalbürgern aufgebracht wird, wird der Staat ganz überwiegend von der Mehrheit der Normalbürger finanziert und nicht von den Geldbesitzern.

Staatsschulden aus rationaler Sicht

Hinzu kommt eine Erkenntnis, die vielen mit sozialer Seele nicht gefallen wird, die aber rational unumstößlich ist: Unser Kanzler nimmt gerne hunderte Milliarden an Schulden in die Hand. Er leiht sich Geld von denen, die Geld in Überfluss haben. (Das ist auch deswegen so, weil sie prozentual weniger Steuern zahlen.)

Die Staatsschulden plus Zinsen werden dann überwiegend von den Normalverdienern über ihre Steuern zurückgezahlt. Darin steckt eine absurde Logik: Weil die Mehrheit den Staat finanziert, soll die Mehrheit auch die Schulden und Zinsen der Regierung tragen, die der reichen Minderheit zugute kommen.

Durch Staatsschulden wird also, im jetzigen System, auf kaum erkennbare Weise, eine Menge Geld von unten nach oben verschoben. Das geschieht erstens über die Zinsen und zweitens, weil Staatsschulden die Geldmenge beträchtlich erhöhen, was an erster Stelle der Finanzwelt zugute kommt.

Die vernünftige, gerechte und demokratische Lösung wäre die, dass der Staat sich per Steuern das Geld bei denen holt, die am meisten Geld und alle Vergünstigungen auf ihrer Seite haben, anstatt durch Schulden und Zinsen noch mehr Finanzen nach oben zu transferieren.

Es gibt noch weitere Wege der Umverteilung nach oben, die ich teils schon erwähnt habe: An erster Stelle Zinsen, sie stecken auch in jedem Wirtschaftsgut, das von einer Firma geliefert wird, die einen Kredit aufgenommen hat, sie sind in die Preise einkalkuliert und werden beim Konsum dann noch einmal mit MWSt belastet. Zinsen stecken erst recht in allen Mieten, weil Wohnungsbau fast immer mit Krediten finanziert wird. Zinsen stecken in allen kommunalen Gebühren, weil fast alle Kommunen sich hoch verschuldet haben.

Auch schon erwähnt wurde die Tatsache, dass reine Finanzgeschäfte, die den schnellsten Gewinn bringen und die geringste Steuerlast tragen, nur von denen getätigt werden können, die genug Geld besitzen, bei 100 Millionen geht es los. Das ist der Grund, warum ganz oben die Vermögen besonders schnell wachsen.

Umverteilung geschieht in mehreren Strängen oder auf verschiedenen Ebenen und immer begünstigen die Regierenden die Geldbesitzer gegenüber der Mehrheit, durch geringe Steuern und Aufnahme von Schulden im Namen und auf Kosten der großen Mehrheit.

Wer verteidigt die Demokratie?

Man fragt sich, wie kommt es, dass die Mehrheit Parteien wählt, deren Abgeordnete uns im Bundestag vertreten sollen, die dann eine Regierung zusammenstellen, welche gegen die Interessen der Mehrheit und zu Gunsten der Finanzbesitzer entscheidet? Und schließlich leiht die Regierung sich Geld auf dem Finanzmarkt, anstatt es sich über Steuern da zu holen, wo es in Überfluss vorhanden ist!

Aus meiner Sicht ist das finanzielle Verhalten der Regierung absurd und gegen die Interessen derer gerichtet, die sie gewählt haben. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr funktioniert, jedenfalls nicht im Interesse der Mehrheit.

Die Mehrheit wählt ihre Parteien und indirekt die Regierung und finanziert über Steuern den Staat. Der Staat nimmt das Geld der Mehrheit dankend an und sorgt dafür, dass der größere Anteil in die Taschen einer reichen Minderheit wandert. Wenn das Steuergeld nicht reicht, borgt die Regierung sich Geld bei der reichen Minderheit und die Mehrheit muss es mit Zinsen zurückzahlen.

Die Macht geht von den größten Zahlen auf Geldkonten aus. Die Macht in der Demokratie sollte von Zahlen der gültigen Stimmen ausgehen, bei denen alle Stimmen gleichberechtigt sind. Die feudale Finanzmacht hat unsere Demokratie ausgehebelt, aber dieses System geht seinem Untergang entgegen, weil es sich selbst nicht unter Kontrolle hat und mehrere große Staaten außerhalb der Westlichen Werte-Welt nach besseren Lösungen suchen.

Geld, das zu viel ist, muss durch Inflation seinen Wert verlieren

Die Medien verbergen diese Zusammenhänge. Was sich aber nicht mehr verbergen lässt, ist die Inflation. Sie begann schon vor Jahren auf dem Finanzsektor. Die Geldflut schwappte über auf den Aktienmarkt und brachte reiche Firmen dazu, mit ihren Gewinnen eigene Aktien zu kaufen. Dadurch steigt der Wert der Firma an der Börse, ohne dass irgendein Fortschritt erzielt wird.

Nach der Finanzinflation setzte Inflation auf dem Immobilienmarkt ein, weil Investoren nach Geldanlagen suchten, die sicherer sind als Börsenwerte. Während die Vertreter der neoliberalen Ideologie behaupten, dass Reichtum von oben nach unten durchsickert und der Allgemeinheit zugute kommt, geschah etwas anderes: Es steigen die Preise und nicht die Löhne und Gehälter. Wenn Geld zu viel da ist, fällt dessen Wert auf dem Markt und das sieht man an steigenden Preisen.

Auch bei der Inflation sind die Geldbesitzer wieder im Vorteil: Zuerst steigt die Geldmenge und damit das Finanzeinkommen, dann überlegt man sich, was machen wir mit dem vielen Geld? Und dann steigen die Preise. Der Preisanstieg geschieht zuerst da, wo viele das Gleiche mit dem Geld machen, Derivate, Aktien und dann Immobilien.

Bei den Normalverdienern ist es aber genau umgekehrt. Erst steigen die Mieten, dann die Preise für Konsumwaren und die Leute fragen sich, wie kommen wir an das nötige Geld zum Leben? Dann gehen die ersten Streiks los. Das geschieht heutzutage ziemlich langsam. Bis es einen Ausgleich für die Inflation bei normalen Einkommen gibt, kann es Jahre dauern.

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Rob Kenius ist freier Publizist und betreibt die systemkritische Webseite https://kritlit.de. Dort wird auch sein neues Buch über den Finanzfeudalismus vorgestellt: Hunderttausend Milliarden zu viel. Hier finden  Sie den 1. Teil, 2. Teil und 3. Teil der Artikel-Serie.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: Deemerwha studio / Shutterstock.com

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Kommentare (2)

2 Kommentare zu: “Die Mehrheit finanziert den Staat, entscheidet aber nichts

  1. wassenaar sagt:

    In dem Buch von Bert Engelmann, "Schwarzbuch – Helmut Kohl" ist eine gute Erklärung zur Einordnung der Milliarde vorgenommen worden.
    Das 1. KAPITEL des Buches trägt die Überschrift, "Was versteht man unter großem Geld?"
    Wer einen Jackpot gewinnt 5 Mio. und sich das Geld in der Sparkasse auszahlen läßt und stapelt, kommt auf einen Stapel von angenommen 5 Meter. Zu der Zeit hatten die Brüder Schwarz 9 Mrd. Diese aufgestapelt würde ihnen Stapel von 9.000m ausmachen. Der Mount Everest reicht nicht aus um auf diesen Stapel zu blicken."
    Kann man von dieser Bergspitze den 5 Meter im Tal noch sehen, kann man die Sparkasse erkennen.
    Weiter: "Menschen, die so viel Geld haben, heben gern mal 200.000 … 300.000 ab und beschenken damit Freunde und Bekannte. Daß diese ausschließlich in der Politik tätig sind, ist reiner "Zufall"! Das die Beschenken alles unternehmen, um auf der Liste der Beschenken zu bleiben, ist menschlich verständlich.
    Wenn nun beispielsweise der Merk-Konzern ein Medikament entwickelt und dort ist eine geringe Menge einer verbotenen Substanz enthalten, findet sich mit Sicherheit einer auf der Beschenkten-Liste, der die Rote Liste korrigiert.."

  2. coronistan.blogspot.com sagt:

    "Die Mehrheit finanziert den Staat, entscheidet aber nichts" Genau so muss es sein aus der Sicht derer, die die gesamte Welt im Würgegriff haben.

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