Tagesdosis

Japans neue Ministerpräsidentin setzt auf Remilitarisierung | Von Rainer Rupp

audio-thumbnail
Tagesdosis 20251128 apolut
0:00
/503.232

… und reißt historische Wunden in China auf.

Ein Kommentar von Rainer Rupp.

Kaum einen Monat im Amt, hat Japans neue Ministerpräsidentin Sanae Takaichi mit einer einzigen Aussage einen explosiven Start hingelegt und heftige diplomatische Reaktion ausgelöst. Ein „Taiwan-Notfall“, so erklärte sie, sei eine „existenzbedrohende Situation für Japan“. Für Peking war dies eine direkte Einmischung in innere Angelegenheiten Chinas und ein Bruch mit dem international anerkannten „Ein-China-Prinzip“. Chinas Außenamtssprecher Lin Jian warnte Japan öffentlich, es solle „aufhören, mit dem Feuer zu spielen“.

Takaichis Tabu-Bruch war kein Ausrutscher, sondern Teil einer Serie von Provokationen Tokios seit ihrem Amtsantritt. Die Regierungschefin folgt damit einer Linie, die stark an die deutsche Entwicklung unter Verteidigungsminister Pistorius und Kanzler Merz erinnert: In beiden Ländern wird der Nachkriegspazifismus sichtbar zurückgedrängt, während militärische Fähigkeiten und sicherheitspolitische Ambitionen wachsen.

Ein belasteter Begriff und seine Wirkung

Der Kern der chinesischen Empörung liegt jedoch in Takaichis Wortwahl. „Existenzbedrohende Situation“ ist nicht nur ein juristischer Terminus des japanischen Sicherheitsrechts. Er weckt Erinnerungen an die Rhetorik der japanischen Militärführung vor und während des Zweiten Weltkriegs.

Damals beriefen sich japanische Führer auf „Überlebensbedrohungen Japans“, um ihre mit äußerster Brutalität vorangetriebenen Aggressionen in Ostasien, insbesondere aber die Invasion Chinas zu rechtfertigen. Dies begann mit dem Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg (1895), der zur Annexion Taiwans führte, und steigerte sich durch die Invasion der Mandschurei (1931) bis hin zum totalen Krieg (1937–1945), der über 30 Millionen chinesische Tote, massive Zerstörungen und Gräueltaten wie das Massaker von Nanjing Zigtausende von Toten forderte.

Dieser Begriff der „Überlebensbedrohung“ diente auch zur Begründung des Angriffs auf Pearl Harbor (1941) als präventive „Überlebensmaßnahme“. Für China streut die Benutzung dieses Begriffs durch Japans Ministerpräsidentin Salz in immer noch rohe Wunden. Denn Tokio hat sich für seine „enormen Verbrechen“, einschließlich biologischer Kriegsführung und Experimente mit chinesischen Gefangenen und Zivilisten, z.B. durch die berüchtigte Einheit 731, nie entschuldigt. Das macht die aktuelle Rhetorik für China umso schmerzhafter.

Abkehr von strategischer Ambiguität

In einer Parlamentsanhörung am 7. November 2025 erklärte Takaichi, schon eine chinesische Blockade Taiwans könne eine „überlebensbedrohende Krise“ darstellen. Damit gab Japan erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg seine strategische Zweideutigkeit gegenüber Taiwan offiziell auf. Selbst eine Blockade ohne Invasion würde nach dieser Logik militärische Intervention im Rahmen kollektiver Selbstverteidigung an der Seite der USA juristisch erlauben.

Diese Entwicklung ähnelt Deutschlands sicherheitspolitischem Kurswechsel. Berlin hat nach Jahrzehnten militärischer Zurückhaltung unter dem Druck geopolitischer Spannungen ebenfalls rote Linien verschoben, von der Aufrüstung der Bundeswehr bis zur engeren Anbindung an US-Sicherheitsstrategien.

Historische Last und neue Eskalation

In einem Youtube-Gespräch (1) am 19. November des Schweizer Politikwissenschaftlers Dr. Pascal Lottaz, der an der Uni Tokio arbeitet, mit der ehemaligen taiwanischen Abgeordneten Dr. Joanna Lei wurde der historische Hintergrund des Begriffs erläutert. Lei betonte, dass der Friedens-Artikel 9 der japanischen Verfassung bewusst so formuliert wurde, dass genau dieser, von Takaichi an den Tag gelegte Revanchismus unmöglich würde. Vor diesem Hintergrund wirkt die bewusste Wortwahl von Japans neuer Ministerpräsidentin wie der Versuch, Japans alten Militarismus wieder salonfähig zu machen.

Pekings Reaktion folgte prompt: diplomatische Proteste, Reisehinweise gegen Japan, militärische Übungen in Grenzgewässern und massiver Druck auf die japanische Botschaft. Tokio ignorierte alle Aufforderungen zum Rückzug der Formulierung.

Aufweichung der Drei Nicht-Atom-Prinzipien

Parallel dazu mehren sich Hinweise, dass die Regierung Takaichi die Drei Nicht-Atom-Prinzipien von 1967 neu bewerten will. Besonders die Klausel, die das Einlaufen nuklear bewaffneter US-Schiffe verbietet, soll gelockert werden. Kritiker warnen vor einer Rückkehr des Militarismus unter dem Schutz des amerikanischen Nuklearschirms.

Auch hier gibt es Parallelen zu Deutschland: Die Debatte um die „nukleare Teilhabe“ der Bundesrepublik und der politische Druck aus Washington, europäische Beiträge zur Abschreckung auszubauen, folgen einer ähnlichen Logik. Beide Länder entfernen sich sichtbar von einstigen Tabus.

Raketenstationierung auf Yonaguni

Noch brisanter wurde es, als Verteidigungsminister Shinjiro Koizumi vor wenigen Tagen ankündigte, auf der nur 110 Kilometer von Taiwan entfernten Insel Yonaguni Mittelstrecken- und Flugabwehrraketen zu stationieren. Für China ist das ein klares Signal: Yonaguni könnte zu einer vorgeschobenen Japanisch-amerikanischen Radar- und Raketenbasis werden, die den gesamten Verkehr in der Taiwan-Straße überwacht.

Chinesische Experten sprechen offen davon, dass Japan seine Doktrin der reinen Selbstverteidigung aufgebe und zur Speerspitze der US-Strategie im Indo-Pazifik werde. Derweil befürchten die 1700 Einwohner von Yonaguni, im Ernstfall zur Zielscheibe chinesischer Vergeltungs- oder Präventivschläge zu werden. Shii Kazuo von der Kommunistischen Partei Japans wirft der Regierung vor, die japanische Sicherheit den US-Interessen zu opfern. Auch hier spiegelt sich ein Muster, das in Deutschland zu beobachten ist: der verstärkte Ausbau von neuen nuklear-fähigen US-Mittelstreckenraketen im nächsten Jahr in Deutschland, sowie die politische Bereitschaft, Risiken der globalen geopolitischen US-Konflikte mitzutragen, wobei die regionale Bevölkerung, z.B. im Umfeld von US-Basen wie Ramstein, die Risiken ausbaden müssen.

Ein Schritt Richtung Abgrund

Zwischen der Taiwan-Rhetorik, dem Atomkurswechsel und der Raketenstationierung entsteht ein Dreieck wachsender Konfrontation. Wirtschaftlich ist Japan eng mit China verflochten, doch politisch nähert sich Tokio immer stärker der US-Linie. Eine Eskalation in der Taiwan-Straße würde nicht nur regionale Sicherheit bedrohen. Ein Fünftel des Welthandels verläuft durch diese Meerenge, inklusive Energie und Halbleiter. Ein Konflikt hätte globale Folgen.

Takaichi setzt offenbar darauf, innenpolitisch Stärke zu zeigen und sich die Unterstützung der Trump-Administration zu sichern. Doch jeder weitere Schritt reduziert Japans Spielraum und erhöht das Risiko einer direkten Konfrontation.

Die Lehre von Hiroshima und Nagasaki, die Japan einst zur moralischen Stimme gegen Atomwaffen machte, verblasst unter der neuen Regierung. Ostasien steht vor einer gefährlichen Weggabelung und Japan hat sich entschieden, schneller als je zuvor auf Konfrontationskurs zu gehen.

Quellen und Anmerkungen

(1) https://www.youtube.com/watch?v=SwF9HEAaegU&t=769s

+++

Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

+++

Bild: Titelseite der Financial Times: Japans Premierministerin Sanae Takaichi steht neben US-Präsident Donald Trump

Bildquelle: Steve Travelguide / shutterstock


+++
Ihnen gefällt unser Programm? Machen wir uns gemeinsam im Rahmen einer "digitalen finanziellen Selbstverteidigung" unabhängig vom Bankensystem und unterstützen Sie uns bitte mit der:

Spenden-Kryptowährung „Nackte Mark“: https://apolut.net/unterstuetzen/#nacktemark

oder mit

Bitcoin: https://apolut.net/unterstuetzen#bitcoin

Informationen zu weiteren Unterstützungsmöglichkeiten finden Sie hier: https://apolut.net/unterstuetzen/

+++
Bitte empfehlen Sie uns weiter und teilen Sie gerne unsere Inhalte in den Sozialen Medien. Sie haben hiermit unser Einverständnis, unsere Beiträge in Ihren eigenen Kanälen auf Social-Media- und Video-Plattformen zu teilen bzw. hochzuladen und zu veröffentlichen.

+++
Abonnieren Sie jetzt den apolut-Newsletter: https://apolut.net/newsletter/

+++
Unterstützung für apolut kann auch als Kleidung getragen werden! Hier der Link zu unserem Fan-Shop: https://harlekinshop.com/pages/apolut

Sanae Takaichi China Taiwan Lin Jian Nachkriegspazifismus Dr. Pascal Lottaz Dr. Joanna Lei Yonaguni podcast