Tagesdosis 15.10.2018 – Ohne Solidarität und Menschlichkeit bleibt alles, wie es ist

Ein Kommentar von Susan Bonath.

Rund 240.000 Demonstranten sind im konservativen Deutschland eine hohe Zahl. Vor allem, wenn sie für Solidarität auf die Straße gehen. Denn Solidarität ist etwas, das man im global grassierenden kalten Spätkapitalismus mit der Lupe suchen muss. Eine knappe Viertelmillion Menschen also – man mag es kaum glauben – gingen am Wochenende auf die Straße, weil sie (Zitat) »nicht zulassen« wollen, »dass Sozialstaat, Flucht und Migration gegeneinander ausgespielt werden«, oder kurz: Menschenrechte seien #unteilbar. Solidarität gehöre der Armutsrentnerin genauso wie dem Armutsflüchtling. Ja, angesichts der realen, von Hass und Aggression erschütterten Realität waren dies wahrlich eine Menge Menschen.

Angemeldet hatte die Großdemo ein Anwalt des Vereins »Rote Hilfe«. Dieser ist mitnichten übermäßiger Kooperation mit dem Staat verdächtig. Wird er doch seit langem von dessen Geheimdiensten überwacht. Die Springerpresse als Propaganda-Maschine des Kapitals spuckte Gift und Galle. Ein »Linksextremer« sei er, dieser Anwalt, tönte sie. »Verbieten!«, schrillte es in den Kommentarspalten.

Doch auch vermeintlich Linke echauffierten sich, als gäbe es kein anderes Problem im Land als eine Großdemonstration für Menschenrechte. Die angeprangerten Hauptpunkte: Die Aufrufer hätten Fluchtursachen nicht benannt, die soziale Frage ignoriert und rein moralistisch für offene Grenzen geworben.

Mal davon abgesehen, dass ein Plädoyer »für offene Grenzen« gar nicht vorkommt. Und dass entgegen der Darstellung der »linken« Kritiker sehr wohl bereits ganz oben im Aufruf dem Sozialabbau der Kampf angesagt wird. Dass man also schon mit falschen Unterstellungen arbeitet. Tatsächlich steht im Aufruf aber auch nichts vom real existierenden globalen Kapitalismus und seinen staatlich forcierten Rohstoff- und Markteroberungskriegen für private Profite, von seinen Plünderungsorgien in der »dritten Welt«.  

Nun, aber ist nicht genau dies das Merkmal bürgerlicher Aufrufe? Rechtfertigen die Anhänger der #unteilbar-Kritikerin Sahra Wagenknecht etwa nicht die völlig fehlende tiefer gehende Kapitalismuskritik ihrer Linkspartei-Ikone damit, dass deren Projekt #Aufstehen ansonsten gar nicht sammeln könnte, wen es sammeln möchte? Und hat nicht ausgerechnet #Aufstehen frühere Kriegstreiber wie den Grünen-Politiker Ludger Volmer integriert, wie auch so manchen Hartz-IV-Befürworter von der SPD?

Ich meine: Jedem halbwegs gebildeten Linken sträuben sich die Nackenhaare angesichts gewisser Plädoyers für ein Zurück zum »Sozialstaat« der 60er und 70er Jahre und dieser beinahe Bettelei bei den Herrschenden um ein paar Brosamen fürs deutsche Proletariat und Kleinbürgertum. Selbigen nationalen Reparaturkapitalismus predigt immerhin ein Björn Höcke von der AfD auch so nebenher. So beschwor dieser doch erst vorgestern auf dem Thüringer AfD-Parteitag in Arnstadt, er wolle das System gar nicht stürzen, sondern lediglich die Regierung auswechseln und zurück zur alten BRD.

Ausgerechnet für jene Wagenknecht-Anhänger konzentrieren sich die #unteilbar-Aufrufer zu wenig auf die Ursachen von Flucht und Migration. Wobei verschwiegen wird, dass diese massenhaft auf Transparenten und durch Rufe im riesigen Demozug angeprangert wurden, wie auch Aufnahmen des Senders RT Deutsch beweisen. Doch muss man zugunsten vieler #Aufstehen-Mitglieder auch betonen: Sehr viele, darunter sogar Mitinitiatoren, waren nicht der Meinung ihrer selbst erklärten Anführerin. Sie riefen zur Teilnahme auf und bildeten sogar einen eigenen Block. Respekt.

Doch zurück zu den möchtegernlinken #unteilbar-Kritikern: Sie wollen offensichtlich die Grundvoraussetzung für jede Umwälzung der Verhältnisse – nämlich internationale Solidarität innerhalb der unterdrückten Klasse – um jeden Preis verhindern. Sie suchen das Haar in der Suppe. Sicherlich, es ist nicht gerade förderlich, wenn sich lang gediente Kapitalisten-Betreuer, Sozialabbau-Apologeten und Kriegstreiber wie die SPD-Figuren Heiko Maas und Andrea Nahles zum Zweck der Eigenwerbung auf den Zug der Aufrufer setzen.

Es wäre auch blöd, wenn sich die beispielsweise vom Freidenker-Verband herum posaunte, völlig unbewiesene Verschwörungstheorie, die Stiftung des Multimilliardärs George Soros hätte womöglich ein paar Euronen zugeschossen, als wahr erweisen würde. Letztlich würde dies nichts daran ändern: Eine Viertelmillion Menschen sind für internationale Solidarität und nicht für irgendeinen Finanzier auf die Straße gegangen. Ich wiederhole: Für eine internationale Solidarität mit allen Opfern dieser Wirtschaftsordnung. Das ist das Gegenteil von Imperialismus und Krieg.

Wagenknecht beließ es wieder einmal dabei, so spitzfindig wie behände ihren Slogan permanent zu wiederholen, offene Grenzen seien »irrational«. Diese Hypothese unterstellt nicht nur fälschlicherweise, es habe diese Forderung gegeben. Sie soll ihre Forderung nach »geregelter Migration« unterstreichen. Wonach wird dann selektiert? Nach ökonomischem Nutzen? Wer soll selektieren? Der Staat?

Das krankt schon an der Tatsache, dass über nationalstaatliche Grenzen nicht die Mehrheit der Untertanen des Kapitals zu bestimmen hat, sondern gerade der Staat als Manager des deutschen Großkapitals. Und dass es eben jene Hilfe vor Ort, die sie so vehement fordert, gar nicht gibt. Weil wir es mangels Eigentum an Produktionsmitteln gar nicht können. Und weil das Großkapital dies nicht will und wird.

Doch andere – siehe auch die Soros-Verschwörung – gingen mit allerlei Spitzfindigkeiten weiter ins Detail. So seien beispielsweise bürgerliche NGOs, Gewerkschaften und Vereine unter den Aufrufern. Und ja, das Großkapital missbrauche Arbeitsmigranten und Flüchtlinge für Lohndrückerei.

Ja, und? Soll man deshalb bestimmte Gruppen von Menschen ausgrenzen, entrechten, in seit Hunderten von Jahren ausgeplünderte Krisengebiete oder in rumänische Roma-Ghettos zurück schicken? Sie vielleicht im Meer ertrinken oder in libyschen Folterlagern dahinvegetieren lassen? Weil das Kapital sie sonst nicht dort, sondern in Deutschland benutzt? Ist das eine Rechtfertigung, alle Menschlichkeit über Bord zu werfen?

Zum Tragen kommen dabei vor allem zwei Unterstellungen: Den Humanisten, die demonstriert haben, seien die Ärmsten, die nicht fliehen können, egal. Und sie würden gerade verhindern, dass die Leute vor Ort sich gegen Krieg, Ressourcenraub und Hunger wehren könnten. Ersteres ist eine bloße Unterstellung. Letzteres  ist widerlich: man erwartet von Hungernden, in Ruinen und im Elend Lebenden, also von den Ärmsten der Armen, Aufstände in der Peripherie, während man selbst im imperialistischen Zentrum Deutschland einen geregelten Kapitalismus genießen will? Mit Regalen voller geplünderter Kolonialwaren, versteht sich. Man will  ja nicht nur Kartoffeln und Brot essen. Man will auch nicht auf moderne Technik verzichten. Also geht man zum Chefausbeuter Staat, bittet ihn darum, die Elenden draußen zu halten, um den einheimischen Lohnsklaven wenigstens den Anblick der globalen Auswirkungen, die er selbst mit verursacht, zu ersparen.

Kurzum: Man bittet den Chefausbeuter gnädig um etwas mehr Sozialstaat auf Kosten der anderen. Das Wort »Sozialstaat« ist übrigens eine Erfindung der Herrschenden. Warum lässt ein Staat sein absorbiertes Humankapital nicht verhungern? Um Aufstände zu verhindern. Aus gleichem Grund gibt es Arbeitsgesetze, Kindergeld und ähnliche Krümel vom großen Kuchen. Und noch mal: Wer oder was ist eigentlich der Staat? Er managt genau das, was all die Verwerfungen verursacht, nämlich die systemimmanente Profitgier des Großkapitals. Sei es mit Aufrüstung, Hartz-IV-Schikanen oder Abzocke der Normalverdiener.

Außerdem: Seit spätestens dem Beginn der industriellen Revolution strebt unser Kapitalismus nach Globalisierung. Die Rohstoffe lagern nun einmal nicht vor der Tür. Ohne wirtschaftliche Ausdehnung gäbe es im kleinen Deutschland keinen Computer, kein Handy, kein Auto, keine Bananen – zum Beispiel. Blöderweise produziert im Kapitalismus niemand nach Bedarf, sondern wegen kalkulierter Profite. Profite hängen an Kaufkraft und Kaufkraft hat nichts mit Bedarf zu tun. Ergo landen riesige Mengen produzierter Waren auf der Müllkippe, während täglich Zehntausende verhungern und Milliarden im Elend leben.

Mit anderen Worten: Kapitalismus produziert seit jeher globale Verwerfungen. Diese werden nicht verschwinden mit einem deutsch-nationalen Kuschel-Kapitalismus. Gleichwohl der deutsche Staat mitnichten auch nur einen Cent mehr Rente oder Sozialhilfe an seine Outgesoucten abdrücken würde. Auch das deutsche Kapital würde die Löhne nur um einen Cent freiwillig erhöhen, wenn es keine Flüchtlinge gebe.

Niemand, der nur die Regierung eines Staats auswechseln will, wird das Kapital entmachten, die Flüchtlingsströme stoppen, dem Elend ein Ende bereiten. Es ist dreist und peinlich, von den Ärmsten Revolutionen zu verlangen, während man selbst im Zentrum die Plünderer maximal freundlich bittet, mit dem Plündern aufzuhören – wohl wissend, dass die das nicht vorhaben.

Die globale Ist-Situation bedroht inzwischen große Teile der Menschheit. Die ökologische und klimatische Katastrophe kennt keine Grenzen. Deutschland ist ihr egal. Und die Armen in den Postkolonien haben längst – der Technologie sei dank – spitzgekriegt, wo ihre Reichtümer verschwinden und verprasst werden. Ein Wolf jagt auch nicht da, wo kein Wild mehr ist. Das Rudel wird dorthin wandern, wo es überleben kann. Ergo: Wer das Wirtschaftssystem revolutionieren will, muss im Zentrum damit beginnen, den Herrschenden das profitable Privateigentum an Produktionsmitteln sowie dem Staat die Waffengewalt zu entreißen. Darum muss sich die Masse entscheiden: Geht sie nach rechts, bleibt die Welt im Ist-Zustand stecken – bis zum Kapitalkollaps. Gegen die dann zu erwartende Krise dürfte die Situation heute einem Ponyhof ähneln.

Nur das noch: Wer gegen Kapitalismus antritt, wirft sich nicht dem Staat mit sinnlosen Forderungen an den Hals. Und wer selber denken kann, dem kann auch ein George Soros mal den Buckel runterrutschen.

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Fotohinweis: wikimedia.commons.org, Urheber: Leonhard Lenz, Lizenz: CC0 1.0 Universal (CC0 1.0)
“Unter dem Motto ‘#Unteilbar – Solidarität statt Ausgrenzung’ zog am 13. Oktober 2018 eine Demonstration mit 240.000 Menschen durch Berlin.”

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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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