Niveauregulierung – eine Kolumne (30)

von Bernhard Loyen.

“How long is now?” lautet ein Wand-Graffiti hier in Berlin Mitte. Eine nicht völlig unangebrachte Frage, in Zeiten, wo die Halbwertszeit für Ereignisse und damit verbundene Informationen und Nachrichten immer kürzer wird. Durch die meist favorisierte Nutzung des Internets und den damit verbundenen stündlichen Updates von Online-Portalen könnte sich folgende Theorie darlegen: Wird der Bürger unmittelbar schneller schlauer oder verlieren sich Inhalte und ihre Wirkung auf den Leser, durch die Überflutung von Informationen? Verwässert sich etwaig das Wissen dadurch, dass Artikel online nur überflogen werden, anstatt in Ruhe studiert zu werden?

Anders formuliert: Was vor mehr als fünf Tagen passierte, ist meist mental abgehakt. Dient das Überfliegen eines Artikels eventuell als unbewusste Schutzfunktion? Es passiert viel, jeden Tag. Zu viel, um alles zu verstehen, um alles zu deuten.

Mit einem spontanen Gedanken beginne ich eine neue Kolumne. Schon den nächsten Tag könnte sie umgeschrieben werden. Es passiert viel jeden Tag, zu viel.

Ich möchte noch einmal zurückblicken auf den 23.04.2017: AFD Parteitag. “Muss das sein?”, wird vielleicht ein Leser aufstöhnen. Ja, muss sein! Mir geht es nicht um die Partei und ihre Mitglieder. Mir geht es um die Menschen vor dem Gebäude. Um diejenigen, die gegen den AFD-Parteitag demonstrierten. Ich habe diverse Artikel gelesen und mir einige Video-Interviews angesehen. Durchgehende Motivationsgründe für die Anwesenheit der angesprochenen Demonstranten waren: “gegen Nazis”, “für Toleranz und Offenheit”, “gegen Rassismus und Homophobie”. Zudem Ressentiments schlichterer Natur wie: “doof”, “unangenehm”, “mag ich nicht”.

Ich war überrascht über die Teilnehmerzahl. So viele Demonstrationen dieser Größenordnung passieren eher selten in diesem Land. Ja, es gilt der Kampf dem Rassismus. Ohne Frage. Die Frage, die sich mir aber stellt lautet: Stellt die Partei AFD wirklich die Herausforderung für das Wahljahr 2017 da? Sind die AFD, ihr Programm und das Wählerpotential die Probleme hiesiger Zeiten für dieses Land, für unsere Demokratie?

Höcke? Bitte! Viel zu viel Aufmerksamkeit für einen kleinen Mann. Innerparteilichen Rassismus hat es schon immer gegeben, aber nicht zehntausende Bürger zu den Parteitagen getrieben. Nein, nicht der in den 60er & 70er Jahren. Der CDU ihr Roland Koch(1)(2), ihr Rüdiger Landowsky(3). Kennen Sie den hier:

“Glaubwürdigkeit gewinnt man, indem man nicht wie Bambusrohre hin und her schwingt, sondern steht wie eine Eiche. Deswegen ist die Eiche hier heimisch und nicht das Bambusrohr.”

Das war der FDP ihr Rainer Brüderle, über den späteren Vizekanzler Rösler(4). Es muss die Frage gestellt werden dürfen, ob eine Partei, die dieses Jahr realistisch um 10% Wählerschaft haben wird (bei zu erwartenden 70% Wahlbeteiligung(5)), dermaßen attackiert werden muss?

Anders formuliert. Wo sind die zehntausenden Bürger bei den Parteitagen der CDU, SPD und Grünen? Gründe? Krieg, Sozialabbau, Steuergeldmissbrauch, Militärexporte, Hartz4, Armut in Deutschland bei Jung & Alt bei unverhältnismäßiger Selbstversorgung der Politprotagonisten. Schlicht: die geballte Ignoranz und Arroganz gegenüber den wahren Problemen und Ängsten der meisten Bürger dieses Landes.

Kleingeistiger, miefiger und bürgerlicher Rassismus gehören zu diesem Land wie Schweinskopfsülze. Beides auf seine Art schlicht abstoßend. Trotzdem finden sich Bürger, die es jeweils propagieren und genießen. Wie schaut es aber im Verhältnis zu forciert dynamisiertem Abbau von Grundrechten des bürgerlichen Daseins aus?

In einigen Interviews zum AFD Parteitag fiel der Satz des vermeintlichen “Vorbeugens” gegen einen Wahlerfolg dieser Partei. Ich muss Ihnen sagen, ich persönlich habe mehr Befürchtungen vor dem Wiedereinzug der FDP in den deutschen Bundestag. Gab es da eigentlich Demonstrationen?

Solange größere Bevölkerungsgruppen es nicht auf die Straße und vor die Regierungsgebäude schaffen, solange man Eventprotest kombiniert mit Kölsch & Schunkeln, solange scheint es vielen Menschen in diesem Land wohl schlicht noch zu gut zu gehen.

Es wird sich zeigen, wo es dieses Jahr hingeht.

Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.

KenFM bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Meinungsartikel und Gastbeiträge müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.


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