Heimat-Kunde

Ein Beitrag von Dirk C. Fleck.

Dies ist kein Text für die „Nichtschonwieder“-Fraktion in unserem Land. Der Mantel der Zeit legt sich bekanntlich ja auf alles und jeden – das hat einen unbestreitbaren Vorteil, schützt er doch davor, von Ereignissen zerrissen zu werden, an denen wir nachweislich nicht beteiligt waren. Ab in die Mottenkiste der Geschichte damit. Funktioniert aber nicht immer. Manchmal tut sich im Mantel der Zeit ein Riss auf, durch das sich ein grelles Höllenfeuer der Vergangenheit Bahn bricht, bis hinein in unser sich verkrampfendes Herz. Dazu bedarf es meist nur eines kleinen Zufalls, wie er mir passierte, als ich von Jennifer Teege erfuhr. Im Internet stieß ich auf einen Vortrag dieser Frau, dessen Titel mich neugierig machte. Er lautete: „Mein Großvater hätte mich erschossen“.

Jennifer Teeges Großvater ist Amon Göth. Richtig, jener Göth, den die meisten von uns aus dem Film „Schindlers Liste“ kennen. 1943 zeichnete er für die Liquidierung des Krakauer Ghettos verantwortlich. Als Kommandant des Konzentrationslagers Płaszów erwarb er sich den Ruf des „Schlächters von Płaszów“ Göth tötete häufig und gerne. Er stand morgens auf dem Balkon seines Wohnhauses und feuerte nach Belieben auf die nackten, frierenden, zum Appell aufmarschierenden Häftlinge. Er verspeiste sie sozusagen zum Frühstück.

Im Jahre 2008 besuchte Jennifer Teege die Hamburger Zentralbücherei. Von ihrer Familiengeschichte hatte sie bis dahin keine Ahnung. Sie war mit vier Jahren einer Pflegefamilie übergeben worden und wurde später von dieser adoptiert. Die Bücherei hatte sie ohne eine bestimmte Absicht aufgesucht. Dort stieß sie in der Psychologieabteilung auf ein Buch mit rotem Einband. Aus irgendeinem Grund begann sie in dem Buch zu blättern. Irgendwann hatte sie das Gefühl, dass dieses Buch etwas mit der Geschichte ihrer Familie zu tun hatte. Am Schluss war sie sicher, denn es waren da die biografischen Daten zusammen gefasst, sowie Details aus den Adoptionsunterlagen.

Jennifer Teege hat später versucht, sich die schwere Last ihrer Familiengeschichte in dem Buch „AMON“ von der Seele zu schreiben. Das Buch endet mit einer Reise Jennifers nach Płaszów, wo sie vor einer israelischen Schülergruppe ihre Herkunft preisgibt.

Ich kann nur jedem empfehlen, sich die beiden Videos anzuschauen, die ich unter diesem Artikel verlinke. Es ist unglaublich berührend, wie die Tochter eines Nigerianers und einer Deutschen dieses „Erbe“, das sie zunächst zu erdrücken schien, angenommen und verarbeitet hat.

Ich bin 1943 geboren worden, also in dem Jahr, als die Krematorien in Auschwitz auf Volllast fuhren und die Luft dort noch kilometerweit nach verbrannten Menschenfleisch roch. Erst sehr viel später, etwa nach zwanzig Jahren, wurde mir bewusst, welch ungeheurer Einschlag in die Menschheitsgeschichte der Nationalsozialismus war. Zwei Generationen hat es gebraucht, um über die Kraterränder dieses Einschlags hinweg zu kriechen und neue Hoffnung aufzubauen. Deshalb kann ich mich der „Nichtschonwieder“-Fraktion nicht anschließen. Es schaudert mich nämlich noch immer, wenn ich zum Beispiel eine Deutsche Wochenschau aus dem Februar des Jahres 1946 betrachte, die ich hier Wort für Wort wiedergeben möchte:

“POMPÖSE MUSIK. Die rege Wahlbeteiligung von durchschnittlich 87 Prozent beweist das Wiedererwachen des politischen Interesses in allen Schichten der Bevölkerung. POMPÖSE MUSIK, FORTISSIMO. In geheimer Wahl gab die Bevölkerung von Bayern, Baden, Württemberg und Großhessen ihre Stimme ab. POMPÖSE MUSIK. Die Christlich Soziale- bzw. die Christlich Demokratische Union steht im Gesamtergebnis an der Spitze. POMPÖSE MUSIK TUSCH/ POMPÖSE MUSIK ADAGIO. Als erste in der britischen Zone wurde die Landeskunstschule Hamburg eröffnet. in sechs Semestern lernen etwa dreihundert Schüler hier die Grundlagen der Bildhauerei, Malerei und verschiedener Kunsthandwerke. POMPÖSE MUSIK. Grundsatz der Schule ist, neben den künstlerischen Fähigkeiten auch die praktischen Fertigkeiten zu entwickeln. Der Wirtschaft werden aus diesen Werkstätten formschöne Gebrauchsgegenstände zugeführt. POMPÖSE MUSIK. So trägt auch die Kunst zum Wiederaufbau bei. POMPÖSE MUSIK TUSCH. Die Beweisführung der britischen und amerikanischen Anklage gegen die einzelnen Angeklagten ist abgeschlossen. POMPÖSE MUSIK FORTISSIMO. Im neuen Prozessabschnitt rief die französische Anklagevertretung eine Reihe von Zeugen vor das Gericht, die erschütternde Einzelheiten vorbrachten über die Zustände der deutschen Besatzung in Frankreich und anderen Ländern. POMPÖSE MUSIK FORTISSIMO. Die französische Anklage begann mit der Feststellung, dass die Vorfälle in den Folterkammern der Gestapo in allen Ländern gleich gewesen seien. Es müssen Richtlinien der Gewalt und Niederträchtigkeit vorgelegen haben, die von höheren deutschen Stellen stammten. Am Schluss seiner Anklageverlesung erklärte der französische Ankläger: „Eigentlich besteht das Verbrechen dieser Leute darin, dass sie das deutsche Volk um zwölf Jahrhunderte zurückversetzt haben, dass sie als Regierungsmittel eine Terrorpolitik ersonnen und verwirklicht haben gegen alle unterjochten Völker und gegen ihr eigenes Volk!“ POMPÖSE MUSIK FORTISSIMO/POMPÖSE MUSIK ALLEGRO CON MOTO. Nie wieder Schnupfen! Das ist die Parole dieses Badeclubs in Schweden, dessen Mitglieder unmittelbar aus dem Schwimmbad in den Schnee springen. Welcher Schnupfen sollte auch solch eine Abreibung überleben? POMPÖSE MUSIK ALLEGRO. Die Damen gehen noch weiter, nämlich direkt ins Eiswasser. POMPÖSE MUSIK ALLEGRO. Die sechshundert Mitglieder dieses Clubs schwören auf diese anregenden Wechselbäder, die keine kalten Füße aufkommen lassen. POMPÖSE MUSIK ALLEGRETTO. Hier geht es etwas heißer zu. Die beiden Ringer zeigen in Paris wie man eine kleine Meinungsverschiedenheit im freien Stil austrägt. Er flüstert ihm etwas, heißt diese Kampfrichtung. POMPÖSE MUSIK ALLEGRO. Eine kleine Zugabe fürs Publikum. POMPÖSE MUSIK ALLEGRO. Und nun eine karussellartige Fahrt mit Niederwurf aus halber Höhe. POMPÖSE MUSIK FORTISSIMO. Schließlich liegt einer auf den Schultern, und der Schiedsrichter, der besseren Übersicht wegen auf den Bauch. Das Klopfen mit den Beinen besagt, ich gebe auf, mir langt es. POMPÖSE MUSIK FORTISSIMO. Diese fliegende Festung der amerikanischen Luftwaffe stellte einen neuen Weltrekord im Langstreckenflug auf. Die Maschine flog 13 000 Kilometer ohne Zwischenlandung in 35 Stunden. Damit wurde der bisherige Langstreckenweltrekord der Briten um 1500 Kilometer geschlagen. POMPÖSE MUSIK TUSCH/POMPÖSE MUSIK ADAGIO. Die Flaggen von 51 Nationen wehen vor der Central Hall in London, wo die erste Vollversammlung der Vereinten Nationen stattfand. Es liegt nun an der Völkern der Erde, durch ihre Vertretungen zwischen Tod und Leben zu wählen. POMPÖSE MUSIK FORTISSIMO UND TUSCH.”

Die Stimme des Wochenschau-Sprechers war gespenstisch. Der Mann hatte noch den schneidigen Propagandaton der Nazis im Blut und so las er den Text in altbewährter „Zäh-wie-Leder“-Manier. Wenn über deutsche Greuel gesprochen wurde, klang die Stimme scheinheilig empört, im Kommentar über die Schnee-Nackten aber zeigte sie bereits wieder ihr fieses Grinsen. Die Welt lag in Scherben und der deutsche Kinogänger haute sich beim Anblick zweier Pariser Ringkämpfer vor Vergnügen auf die Schenkel. Irgendwann verzichtete ich auf die Bilder (nur einmal drehte ich mich noch um, da flüsterte Göhring Hess etwas ins Ohr) und starrte stattdessen auf eine Fotografie von Helmut Kohls Arbeitszimmer, die ich ebenfalls im Internet gefunden hatte. Ich fühlte mich in die Zange genommen, der deutsche Dämon spießte mich auf, ich wurde auf dem schrecklichen Feuer des Biedersinns gegrillt. Hat jemand die Schrankwand in Kohls Arbeitszimmer gesehen, die wenigen Bücher, die wie die locker gestreuten Attrappen eines Möbelgeschäfts gegeneinander stehen, die schweren  Gardinen, das Aquarium, die familiären Erinnerungsfotos unter dem Gemälde von Wilhelm von Humboldt, den klobigen schwarzen Ständer, an dem die deutsche Flagge schlafft!? Ich blickte auf diese geballte Geschmacklosigkeit. Ein Schaudern erfasste mich. Ein Schaudern, das bis heute nie so richtig verschwinden wollte …

„Die SS-Leute haben geteilt: links, rechts. Die Mütter sollten ihre Kinder weglegen. Aber welche Mutter will ihr Kind weglegen? Dann sind sie mit Hunden gekommen und haben die Kinder weggerissen und weggeschmissen wie Steine …” (Zeugin im Majdanek-Prozess).

Sehen Sie, des is so: wir haben … also morgens begann der Dienst, abends war der Dienst zu Ende und dann waren wir weg“ (SS-Aufseher in Majdanek).

Weiterführendes Material:

1) DW: Talk mit Jennifer Teege, Enkelin eines KZ-Leiters | Typisch deutsch. 2.12.2013. https://www.youtube.com/watch?v=r2hzqo9FQRg

2) Beyond Conference: Beyond 2016 I Jennifer Teege, “My Grandfather Would Have Shot Me”. 20.6.2016. https://www.youtube.com/watch?v=I_mP-NYFOLE

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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman “Go! Die Ökodiktatur” ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Julen Arabaolaza / shutterstock.com  (Konzentrationslager Płaszów in Krakau (Polen) )

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Kommentare (4)

4 Kommentare zu: “Heimat-Kunde

  1. Ursprung sagt:

    Heute sind die Zahlen monstroes explodiert, Herr C. Fleck.
    Gegen das "niedliche" 1943.

  2. Sehr gut!
    Die Geschichte von Jennifer Teege hat mich damals schon fasziniert! Ja, fast elektrisiert!
    So, wie mir diese Geschichte damals gezeigt hat, dass die Wahrheit immer sich offenbart…auch in Form solcher tiefen Erlebnisse! Der Kairos lässt grüßen! Dieses unglaubliche Zusammenspiel
    Zwischen Erde und Kosmos.
    Die Wahrheit setzt sich immer durch! In den vielfältigsten Gestalten!
    Da spielt die unsichtbare Hand des Schicksals eindeutig mit und schlägt eine Brücke hinein in all die ungelösten, unsichtbaren Fäden der Feinstofflichkeit.
    Das schafft Vertrauen!

    Und ich persönlich habe auch seit Jahrzehnten das Empfinden, dass die Dunklen Geschichten und besonders der dunkle Part des 2.WE …längst nicht aufgearbeitet ist.

  3. Harry_B sagt:

    Man muss auch mal die andere Seite hören,
    nicht immer nur die Propagandalügen der Siegermächte.
    https://www.altcensored.com/watch?v=oaPLijsWODc

  4. Nevyn sagt:

    Alles beginnt damit, dass Menschen glauben, für die Folgen ihrer Handlungen nie zur Verantwortung gezogen werden zu können.

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