Eine Frau, die richtig in Tritt kam

Aus dem Buch “HEROES – Mut, Rückgrat, Visionen” von Dirk C. Fleck.

Annie war eine Spinnerin. Was diese Frau der Öffentlichkeit auftischte, ging auf keine Kuhhaut. Wie soll man ihre aberwitzigen Geschichten beschreiben? Seemannsgarn geht schlecht, sie war mit dem Drahtesel unterwegs. Also, wie nennt man die Phantastereien, welche Annie Londonderry, die mit dem Fahrrad die Welt umrundete, bei jeder Gelegenheit von sich gab? Speichensalat? Lenkradgeflüster? Sattelfurze? Egal, Annie konnte nicht nur ausdauernd in die Pedalen treten, sie war auch eine begeisterte Geschichtenerzählerin. Ihre Lügenmärchen, die sie in Chicago, Paris, Hongkong, San Francisco oder anderswo den Journalisten in die Notizblöcke diktierte, machten weltweit die Runde, weil die Medien schon damals weniger an der Wahrheit, als vielmehr an spektakulärem Gedöns interessiert waren.

Seit sich Annie Londonderry im Juni 1894 von Boston aus aufgemacht hatte, pflasterte ein erfundenes Abenteuer nach dem anderen ihren Weg. Unterwegs nach New York zum Beispiel sprang entlang der Bahnstrecke ein Bandit hervor und stürzte sich auf die Reisende! Annie zückte ihren Revolver aus der Hosentasche und fiel dabei unglücklicherweise auf die Gleise – auf denen just ein Zug heranraste! Im letzten Moment hechtete sie zur Seite und überlebte. Wenige Monate später in China: dort tobte der Erste Chinesisch-Japanische Krieg. Japanische Soldaten nahmen die Radlerin gefangen und warfen sie in ein dunkles, bitterkaltes Verlies. Tagelang fror und hungerteAnnie vor sich hin, bis sie endlich von einer Truppe französischer Soldaten befreit wurde. Dass sie nicht Annie Londonderry hieß, sondern Annie Kopchovsky, dass sie aus Lettland stammte und Mutter von drei Kindern war, das verheimlichte sie wohlweislich.

Wer war diese Frau wirklich? Auf jeden Fall verstand sie das Public Relation-Handwerk schon lange bevor es den Begriff überhaupt gab. Auf ihrer Tour fand sie immer wieder Unternehmer, die ihr Abenteuer finanzierten. Im Gegenzug hing sie deren Werbeplakate ans Rad oder heftete die Logos der Geldgeber an ihre Kleidung. Damit nahm sie vorweg, was im Profisport heute üblich ist, denken wir nur an die mit Werbung bepflasterten Renn-Overalls der Formel 1-Fahrer. Annie nahm sogar den Namen eines Bostoner Sponsors an, der Wasserfirma Londonderry. Die Befürchtung, dass ihr jüdischer Name für eine allein reisende Frau in Zeiten des grassierenden Antisemitismus eine erhebliche Gefahr darstellte, war schließlich nicht unbegründet. Unter dem Pseudonym Annie Londonderry schrieb sie nun Telegramme an Fahrradklubs und Journalisten, um auf sich aufmerksam zu machen.

Ihre Vita war frei erfunden. So verbreitete sie beispielsweise, dass sie einen Doktortitel in Jura habe. Sie gab sich als reiche Erbin aus und prahlte damit, dass sie als Medizinstudentin Geld damit verdiente, Leichen aufzuschneiden. Die Gazetten griffen diese Informationen begierig auf und gaben sie, ohne zu hinterfragen in Druck. Auf diese Weise war Annie Londonderry bereits berühmt, bevor sie ihr gewagtes Vorhaben in Angriff nahm. Dabei deutete zunächst nichts auf ihr tollkühnes Unternehmen hin. Sie führte ein beschauliches Familienleben in Boston, mit Mann und drei Kindern. „Ich wollte mein Leben nicht immer zu Hause sitzen, jedes Jahr wieder ein Baby in meinem Schoß”, erzählte sie später in Interviews.

Annie wollte unabhängig sein, frei sein, berühmt sein! Zufällig hörte sie von einem Gespräch zweier Geschäftsmänner, die in einer Bostoner Bar 10.000 Dollar darauf gewettet hatten, dass es einer Frau niemals gelingen würde, die Welt auf einem Fahrrad zu umrunden. Diese Summe entspricht heutzutage einer Viertelmillion Euro. Dafür, dachte Annie spontan, kann man sich schon mal auf den Weg machen…

Am 25. Juni 1894 stand sie in einem langen Rock und mit einem 19 Kilogramm schweren Damenfahrrad auf den Stufen des Massachusetts State House im Herzen Bostons. Im Gepäck nichts weiter als Wechselwäsche und einen Revolver. Mehr als 500 Schaulustige hatten sich vor dem State House versammelt. Die Frauenrechtlerinnen unter ihnen jubelten ihr zu, während ihr Bruder kopfschüttelnd in der Menge stand. Er hielt seine Schwester für übergeschnappt. Schließlich lebte Annie in einer Zeit, in der man Frauen nur zutraute, gute Ehefrauen und Mütter zu sein. Sie durften nicht wählen gehen und arbeiten durften sie nur dann, wenn es der Ehemann erlaubte. Eine Frau, die allein den Globus umrundet? Ihre Kinder zurücklässt? Völlig irre, ein Skandal!

Der Autor Peter Zheutlin, der eine Biographie über Annie Londonderry geschrieben hat, vermutet, dass sie der Frauenbewegung den entscheidenden Schub gegeben hat. Seit Annies Husarenstreich war das Fahrrad DAS Symbol der Emanzipation. Es gab den Frauen des 19. Jahrhunderts Unabhängigkeit und machte sie mobil. Frauen zogen sogar Hosen zum Fahrradfahren an, was in der viktorianischen Ära absolut unerhört war. So wurde die Mutter, Ehefrau und Jüdin Annie Londonderry zur Repräsentantin einer ganzen Bewegung.

Aber von Anfang an: Als Annie am 24. September in Chicago ankam, wo ihre „Rundfahrt“ offiziell beginnen sollte, hatte sie bereits zehn Kilogramm abgenommen. Sie war so erschöpft, dass sie ihr Vorhaben schon abbrechen wollte, schließlich stand ein harter Winter vor der Tür, dem sie sich in ihrem Zustand nicht gewachsen fühlte. Ein Treffen mit dem Vorstand des Fahrradherstellers Sterling Cycle Works änderte ihren Entschluss. Das Unternehmen bot ihr ein neues Rad an, The Sterling”. Es wog nur halb so viel wie ihr Columbia-Fahrrad. Ein gewichtiges Argument, das Abenteuer nun doch anzugehen. Annie tauschte ihr Kleid gegen eine Hose und war sicher, die Wette gewinnen zu können.

In der Wette der Bostoner Geschäftsleute war nämlich nicht festgelegt, wie viele Kilometer tatsächlich auf dem Rad zurückgelegt werden mussten. Es sollte lediglich eine Fahrt um den Globus innerhalb von 15 Monaten sein. So legte Annie Londonderry einen großen Teil ihrer Reise per Schiff und mit der Eisenbahn zurück. Ihre Reise führte sie unter anderem über das heutige Sri Lanka, Indien, Saigon, Hong Kong und Japan. Wo immer sie hinkam, wurde sie von den Medienvertretern schon erwartet. Annie war eine Sensation. – was sie sichtlich genoss. Sie liebte die Aufmerksamkeit und zog die Öffentlichkeit regelmäßig mit ihren wilden Reisegeschichten in Bann.

Am 9. März 1895 ging sie in Yokohama an Bord, vierzehn Tage später traf sie in San Francisco ein. Für ihre Rückfahrt nach Chicago wählte sie die Route über Arizona und New Mexiko. Einen guten Teil der Strecke konnte sie auf asphaltierten Untergrund entlang der Eisenbahngleise fahren. Gegen Ende ihrer Tour war sie dann doch noch vom Pech verfolgt. Man könnte auch sagen, hatte sie Schwein gehabt. Und diese Geschichte war nicht erlogen. In der Nähe von Iowa geriet sie in eine Horde Schweine, stürzte und brach sich das Handgelenk.

Am 12. September 1895 kam Annie Londonderry, eine Hand im Gips, in Chicago an, zwei Wochen vor dem Ende ihrer Frist. Sie hatte die Wette gewonnen und kassierte die Prämie von 10.000 Dollar.

Bravo, Annie Münchhausen! Der Omaha World-Herald schrieb: Miss Londonderry ist der Meinung, dass der Beginn der weiblichen Radfahrbewegung eine wohltuende Reform bezüglich des Kleidungsstils auslösen wird. Sie glaubt, dass in naher Zukunft alle Frauen, ob höheren oder niederen Standes, sich aufs Rad setzen werden, außer den engstirnigen, langröckigen, mageren und schmächtigen Wesen“. – Zu denen gehörte diese erstaunliche Frau gewiss nicht …

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: Pics-xl / shutterstock

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