Ein Meinungsbeitrag von Rüdiger Rauls.
Assad und seine Politik waren der Anlass für die Sanktionen des politischen Westens gegen Syrien. Die Leidtragenden aber waren die Menschen im Land. Die Erfolgsaussichten für Syrien sind abhängig vom Gesinnungswandel im Westen und den Interessen anderer bedeutender Mächte.
Doppelzüngig
Deutschland ist seit 2012 nicht mehr diplomatisch in Syrien vertreten. Der Abbruch der Beziehungen war die Reaktion auf die gewaltsame Niederschlagung von Protesten durch Staatschef Assad und seine Armee. Gleichzeitig verhängte der politische Westen harte Sanktionen gegen das Land, die in der Folgezeit immer wieder erneuert und teilweise auch verschärft wurden. Sie richteten sich nicht nur gegen die Führungspersönlichkeiten von Staat und Militär sondern in ganz erheblichem Maße gegen die Grundversorgung der Bevölkerung und die wirtschaftliche Entwicklung des Landes.
„Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Syriens (…) ist von 61,4 Milliarden Dollar im Jahre 2010 auf nicht einmal mehr neun Milliarden Dollar im vergangenen Jahr zusammengebrochen. Das ist ein Minus von 85 Prozent“(1)
Wenn es auch nicht offiziell so erklärt wurde, so ist doch aus den Maßnahmen selbst ersichtlich, dass es nicht nur um die Bestrafung derer ging, die für Niederschlagung von Protesten verantwortlich waren. In ganz erheblichem Maße ging es darum, Not zu erzeugen, um Druck aus der Bevölkerung auf Assad auszuüben.
Besonders der weitgehende Ausschluss des syrischen Bankwesens aus dem internationalen Zahlungsverkehr führte zu einem starken Einbruch der syrischen Wirtschaftstätigkeit. Selbst der Handel mit Waren, die nicht unter Sanktionen fielen, wurde erschwert durch die Verunsicherung westlicher Banken über die Rechtmäßigkeit von Zahlungsabwicklungen. Sie zogen es stattdessen vor, den Zahlungsverkehr mit syrischen Instituten weitgehend einzustellen.
Ähnlich wie in Syrien verliefen die Ereignisse des Arabischen Frühlings in Ägypten. Auch hier war es zu Massendemonstrationen gekommen, auf die das Militär mit Gewalt reagierte. Am 28.1.2011, dem Tag des Zorns, strömten Hunderttausende meist verarmte Landbewohner nach Kairo. Wenige Tage später folgte der Tag der Millionen mit zwei Millionen Teilnehmern. Trotz Ausgangssperren und dem Einsatz von Schusswaffen gegen Demonstranten rissen die Proteste nicht ab. Die Zahl der Toten durch die Sicherheitskräfte wuchs.
Da aber das ägyptische Militär trotz des Blutvergießens der Lage nicht mehr Herr werden konnte, verweigerte es dem damaligen Herrscher Husni Mubarak die Gefolgschaft, um dem Töten unschuldiger Menschen ein Ende zu machen. Mubarak musste abdanken, um eine unkontrollierbare Eskalation durch einen Volksaufstand zu verhindern. Musste Mubarak abdanken, obwohl er bis zuletzt vom Westen gestützt worden war, so konnte sich im Gegensatz dazu Assad in Syrien halten trotz westlicher Unterstützung für die bewaffnete Opposition. In Ägypten wie auch in Syrien hatte der politische Westen auf das falsche Pferd gesetzt.
In Ägypten hatte die Muslimbruderschaft den Aufstand gegen Mubarak entscheidend getragen und organisiert. Sie wurde vom politischen Westen ebenso wie später die HTS (Hayat Tahrir al-Scham) des neuen syrischen Machthabers Ahmad al Sharaa als islamistische Organisation abgelehnt und bekämpft. Dennoch wurde Bei den Wahlen 2012 in Ägypten war der Kandidat der Muslimbruderschaft, Mohammed Mursi, gewählt worden. Er war „der erste demokratisch gewählte, zivile Präsident des Landes“ (2).
Heißblütig
Im Juli des darauf folgenden Jahres putschte das ägyptische Militär gegen diesen nach westlichen Grundsätzen gewählten Präsidenten. General as-Sisi übernahm die Macht in Ägypten.
„Es folgte die harte und kompromisslose Niederschlagung der Bruderschaft: Protest-Camps wurden geräumt, Tausende verhaftet, Konten und Guthaben beschlagnahmt. Schließlich die vielen Todesurteile.“ (3)
Während der politische Westen den Putsch gegen einen demokratisch gewählten Präsidenten nicht verurteilte, wetterte er gegen die Wahl Assads im Jahre 2014 als undemokratische Scheinwahl. Selbst wenn ihr Ergebnis nicht ganz ohne Einflussnahme zustande gekommen sein mag, war Assad trotz allem in einem höheren Maße legitimiert als der durch Gewaltanwendung an die Macht gekommene as-Sisi.
In Ägypten hatte der Westen die Zerschlagung der Muslimbruderschaft mehr oder weniger begrüßt, vielleicht sogar gefördert, weil er in ihr eine islamistische Bedrohung sah. Das hindert ihn heute aber nicht daran, die islamistische HTS in Syrien zu unterstützen. Dabei hat diese sogar nach sonstigem westlichenm Rechtsempfinden unrechtmäßig die Macht in Syrien erobert, nämlich durch Gewalt und ohne demokratische Legitimation. Das hatte man in Venezuela oder vergleichbaren Fällen auf das schärfste verurteilt. Die Ergebnisse des Machtwechsel entsprachen schlicht und einfach nicht westlichen Interessen.
Wenn auch 2014 die Wahl Assads vielleicht nicht den westlichen Standards entsprach, so kann beim Putsch as-Sisis davon schon gar nicht die Rede gewesen sein, geschweige denn von der Machtübernahme durch die HTS. Dennoch arbeitet der Westen mit as Sisi und HTS zusammen, während man Assads Sturz feierte. Es liegt also weniger an der Rechtmäßigkeit von Wahlergebnissen oder Regierungen, wenn sie von Vertretern des politischen Westens abgelehnt werden. Zustimmung oder Ablehnung sagen eigentlich nur etwas aus über die Beliebigkeit dieser Standards. Nicht die Wahlen sind fragwürdig, sondern die Grundsätze, nach denen der Westen sie beurteilt. Es ist eben gerade nichts Grundsätzliches daran. Bestimmend sind die eigenen Interessen.
Aber an den Reaktionen westlicher Politiker wird immer öfter deutlich, dass selbst die Interessen zunehmend hinter irrationalen Verhaltensweisen zurückstehen müssen wie Rachegelüste oder Ärger darüber, nicht den eigenen Willen durchgesetzt haben zu können. Bestes Beispiel dafür sind die ausufernden Sanktionen nicht nur gegen Russland, sondern gegen immer mehr Staaten in der Welt. Diese treffen ja nicht nur die Adressaten. Die Unvernunft solcher Beschlüsse zeigt sich besonders in den gewaltigen Schäden, die sie gegenüber der eigenen Wirtschaft anrichten, was besonders in Deutschland und auch der Europäischen Union deutlich wird.
Emotionale Getriebenheit statt politischer Besonnenheit und Interessenabwägung zeigt sich in höchstem Maße im Verhalten der deutschen Außenministerin und der neuen Außenbeauftragten der EU, Kaja Kallas. Bei ihnen wird Politik bestimmt von Haltungsfragen wie einer sogenannten feministischen Außenpolitik, was immer das auch sein mag, weil es nicht klar definiert werden kann. In ihnen scheint Doppelmoral die höchste Form der Fleischwerdung angenommen zu haben
Rachsüchtig
Westliche Rachsucht, besonders in Form von so genannter feministischer Außenpolitik zeigt sich nun auch in Syrien. Besonders die EU und mit ihr Deutschland versuchen nun auf dem neu eröffneten Spielfeld Syrien, den Russen die Niederlage in der Ukraine heimzahlen zu können. Wirtschaftlich und politisch macht die Forderung nach Schließung der russischen Stützpunkte keinen Sinn. Sie schafft nur neue Konflikte und Spannungen, die weder den Syrern nutzen, aber auch nicht den Europäern.
Damit werden Machtfragen aufgeworfen, für die der EU und auch Deutschland keine Mittel zur Umsetzung zur Verfügung stehen außer der Fortsetzung ohnehin schon bestehender Sanktionen. Damit aber dürfte es schwierig werden, verloren gegangenen Einfluss in Syrien wieder zu gewinnen.
Mit politischer Vernunft haben solche Forderungen wenig zu tun. Keine der in Syrien einflussreichen Kräfte hat sich bisher an den russischen Stützpunkten gestört, einzig die Deutschen und die EU-Führung machen sie zu einem Thema.
Im Moment ist auch nicht zu erkennen, dass Russland versucht, den Westen in der wirtschaftlichen Entwicklung Syriens zu behindern. Die Russen scheinen keinen Einfluss in dieser Richtung ausüben zu wollen. So lange die westlichen Sanktionen bestehen, ist Syrien ohnehin kein Land, das sich für Investitionen anbieten dürfte – egal von welcher Seite. Zudem ist Russland finanziell durch den Krieg und die Sanktionen ohnehin nicht in der Lage oder zumindest wenig geneigt, Investitionen in unsicheren Weltgegenden oder unter unklaren politischen Verhältnissen vorzunehmen.
Dennoch wollen Deutschland und die EU die Frage der russischen Stützpunkte zu einer Bedingung für die Aufbauhilfe gegenüber Syrien machen. Aber damit nicht genug stellen die Vertreter der EU bei ihren Treffen mit der syrischen Führung auch von vorneherein Bedingungen für die Wiederaufnahme europäischer oder deutscher Hilfsleistungen. Auch darin äußert sich sehr viel Blauäugigkeit über die Bedeutung Europas nach über zehn Jahren politischer Abstinenz in der Region. Die deutsche Außenministerin und ihr französischer Kollege verkennen die weltpolitische Lage, wenn sie glauben, im Stile von Kolonialherren in Damaskus auftreten zu können.
Umständlich
Wenn es von den neuen Machthabern in Syrien gewünscht wird, wird eher Russland zum militärischen Schutz des Landes beitragen können als die EU, die nicht einmal in der Lage ist, die notwendigen Mittel aufzubringen, um der Ukraine gegen Russland zum Sieg zu verhelfen. Die Russen haben schon Stützpunkte und Militär vor Ort. Das müssten die Europäer erst einmal auf die Beine stellen können. Bei den meisten Völker in Europa wächst der Unmut über den Ukrainekrieg. Wie wollen die Deutschen oder Franzosen ihren Bürgern ein militärisches Engagement in Syrien schmackhaft machen?
Auch wirtschaftlich werden die Europäer nicht viel zu bieten haben außer der Aufhebung von Sanktionen. Aber dazu muss erst einmal ein Mechanismus ausgearbeitet werden, „der nicht nur die schrittweise Aufhebung ermöglicht, sondern auch die Bedingungen dafür festschreibt“ (4). Natürlich wäre mit der Aufhebung der Sanktionen für die Menschen in Syrien schon viel gewonnen. Aber bis die Europäer in der Lage sind, Beschlüsse zu fassen, haben andere schon gehandelt. So haben die Amerikaner schon die Aussetzung einiger ihrer Sanktionen für ein halbes Jahr angekündigt.
Syrien wird nicht auf Europa warten. Es wird sicherlich dessen Hilfe willkommen heißen angesichts der Not im Land. Aber ob Damaskus sich westlichen Bedingungen unterwerfen wird, die für die feministischen Außenpolitikerinnen Baerbock und Kallas davon abhängen, „wie der politische Prozess gestaltet wird, (5) wird sich noch zeigen. So lange es nur um „einen politischen Dialog unter Einbeziehung aller ethnischen und religiösen Gruppen, aller Menschen und insbesondere Frauen“(6) geht, werden vermutlich auch die neuen Machthaber in Damaskus wenig Einwände haben.
Aber eine Erkenntnis scheint nach Brüssel und Berlin noch nicht vorgedrungen zu sein. Die Welt wartet nicht mehr auf den politischen Westen. Die unterentwickelten Länder sind nicht mehr allein auf westliche Almosen angewiesen. Für die wirtschaftliche Entwicklung stehen die Türkei und auch viele arabische Staaten in den Startlöchern. Auch China wird sicherlich nicht abseits stehen, wenn endlich in Syrien wieder stabile Verhältnisse herrschen, und dessen Handelsbedingungen hat der Westen wenig entgegen zu setzen.
Nicht umsonst gelingt es China, überall auf der Welt neue Märkte zu erobern. Sie verdrängen nicht nur die westlichen Platzhirsche von ihren angestammten Märkten. Selbst auf deren Heimatmärkten ist die Industrie des Westens der chinesischen Wirtschaftsmacht nicht mehr gewachsen. Deshalb versucht man, sich mit Zöllen zu retten. Diesen Wandel in der Welt will man im Westen nicht wahr haben. Noch schlimmer aber ist, dass man nichts dagegen machen kann, ohne sich selbst zu schaden.
Angesichts dieser veränderten Verhältnisse in der Welt klingt es fast lächerlich, wenn Baerbock und Kollegen glauben, in Damaskus nach der Art ehemaliger Kolonialherren Bedingungen stellen zu können. Europa und der Westen sind immer noch Schwergewichte, und sicherlich wären die Syrer froh, wenn sie sich am Wiederaufbau des Landes beteiligen, damit die Menschen wieder bald ein menschenwürdiges Leben führen können. Aber sie sind nicht mehr die einzigen Schwergewichte.
Quellen und Anmerkungen
(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 21.12.2024: Kommt jetzt Syriens Blütezeit?
(2) Deutschlandfunk vom 13.4.2014: Aufstieg und Fall der Muslimbrüder
(3) ebenda
(4) FAZ vom 9.1.2025: Berlin will Lockerung
(5) ebenda
(6) ebenda
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Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: max.ku / shutterstock
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