Das Friedensangebot eines Träumers

Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.

Ich starre auf die sieben Mädchenhintern im Tanga, die an der gegenüberliegenden Kachelwand des U-Bahnhofs Klosterstern für einen Reiseveranstalter werben – aufgereiht wie bunte Holzkugeln auf einer Rechenmaschine. Ein kalter Lufthauch kündigt den Zug an. Es ist nicht meiner, meiner fährt in die andere Richtung. Die Köpfe der Fahrgäste sind beim Halt vor den gigantischen Hinterteilen auf die Größe von Kichererbsen geschrumpft.

Werbung vs. Wahrheit. Ein Witz, an den wir uns gewöhnt haben. „Ich meine zu wissen, dass beinahe alle Menschen, nachdem sie Erwachsene wurden, Nichtliebende geworden sind“, hat der Hamburger Schriftsteller und Orgelbauer Hans Henny Jahnn (1894 – 1959) geschrieben. Die Liebe ist zu einer inhaltsleeren Plastik verkommen, die durch künstlich erzeugte Begehrlichkeiten geformt wird. Mit der Sehnsucht unserer Herzen hat das nichts zu tun. Selbst die anmutigsten Hoffnungsträgerinnen der Liebe rücken vorschnell in die Pläneschmiede ein, diesem großen Wartesaal der Ratlosen, in dem ausschließlich mit Illusionen gehandelt wird. Dort begegnen sie dem Phänomen der Vergänglichkeit mit devoter Abhängigkeit von geldgeilen Manipulatoren aller Art, setzen auf sich nie erfüllende Verheißungen und Anti-Aging-Präparate. Dabei gibt es nur einen Weg, sich zu erhalten: jetzt, in diesem Moment. Im Jetzt gibt es keinen Zerfall, jetzt ist immer.

Unsere Gesellschaft ist dabei, an den Folgen ihrer Gier zu ersticken. Da fällt mir ein, was der US-amerikanische Schriftsteller Herman Melville (1819 – 1891) über das Volk der Taipi zu berichten wusste. Er zeigte sich zutiefst beeindruckt davon, wie diese Menschen gelebt und geliebt haben. Die Taipi waren Südseeinsulaner. Ihren Mädchen war bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr jede körperliche Arbeit untersagt. Taipi-Mädchen waren jeder gesellschaftlichen Verpflichtung entbunden, sie verbrachten ihre Tage im Spiel, badeten unter Wasserfällen, neckten Jungens oder liefen mit den Tieren. Der ganze Stamm erfreute sich an der temperamentvollen Schönheit ihrer Jugend, deren Quell nie versiegte. Diese Sinneseindrücke waren es, die der Gesellschaft einen immer währenden Vorrat an Lebensfreude bescherte.

Heute wissen die wenigsten Mädchen ihre anmutige Gastausstattung zu würdigen. Uns anderen bleibt lediglich zu bezeugen, wie die Trivialität des Alltags ihre jugendlichen Gestalten, ihren Charme, ihre Unschuld und ihre Grazie verhunzt. Und falls mal eine dabei ist, die im Zirkus der Eitelkeiten mit gebotener Demut in Erscheinung tritt, möchte ich nicht teilhaben an ihrer Traurigkeit. Wer glaubt, dem verborgenen Schmerz solcher Wesen gewachsen zu sein, überschätzt sich.

Ich bin alt geworden. Alt und jung zugleich. Es dauert sehr lange, um jung zu werden, hat Orson Welles gesagt. Recht hat er. Und wenn ich jetzt in alter Frische der wunderbaren Frauen in meinem Leben gedenke, so verbinden sich damit fatale Irrtümer und Missverständnisse, bleischwere Traurigkeiten, aber auch unerklärliche Glücksmomente, die ich mir nie so recht erklären konnte.

Inzwischen bin ich auf der Straße umgeben von „Enkelinnen“ und „Enkeln“, die mich kaum noch wahrnehmen. Bei dem Gedanken, dass diese Generation den langen Marsch durch das Minenfeld LEBEN gerade erst angetreten hat, schnürt es mir die Kehle zu. Sie wird in dieser erkalteten Ellbogen- und Lügengesellschaft sehr lange brauchen, um zu erkennen, dass Liebe nicht die Vereinnahmung eines anderen Menschen bedeutet, sondern dessen Befreiung. Was die meisten Menschen heute unter Liebe verstehen, ist in Wahrheit Vampirismus, energetischer Diebstahl – billig und dumm.

Erst wenn ein Mann ohne emotionale Not ist, befindet er sich in einer Verfassung, die er Frauen guten Gewissens zumuten darf. Ich habe nicht vergessen, wie inspirierend es in ihrer Gesellschaft häufig war, Ihre Vorstellung von Liebe zu atmen. Ich meine nicht die Liebe, die wir als Verliebtheit einfangen, um sie in jämmerlichen Beziehungen Stück für Stück zu zertrümmern – ich meine eine Liebe, die ihre Kraft auf feinstofflicher Ebene entwickelt, die jede Pflanze, jedes Tier und jeden Menschen durchdringt. Wer auf diese Liebe neugierig ist, geht sicher durchs Leben, für den gelten die materiellen Verteilungskämpfe nicht, in denen die sensiblen Naturen für gewöhnlich unterliegen.

Hören wir genau hin, wenn wache und selbstbewusste Frauen von ihren Erfahrungen mit Männern berichten – grauenhaft. Ich jedenfalls habe schon vor langer Zeit beschlossen, sie mit meinem Begehren nicht mehr zu belästigen, auch nicht verbal. Das ist ein Friedensangebot. Das Friedensangebot eines Träumers. In seinen Träumen ist Platz für die gesamte melancholische Bandbreite des Lebens.

Und jetzt hole ich mein weißes Dinner Jacket aus dem Schrank, schaue von der Terrasse eines südamerikanischen Strandcafés aufs offene Meer hinaus und lasse die Eiswürfel zu dezenten Rumbaklängen im Glas klimpern. Irgendwann werde ich mich umdrehen. Dann steht sie vor mir. Lasziv lächelnd, in einem berauschenden Seidenkleid, das sich der Abendbrise ergibt …

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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman “Go! Die Ökodiktatur” ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision. 2023 erschien sein aktuelles Buch „HEROES. Mut, Rückgrat, Visionen“.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Zolotarevs / Shutterstock.com

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Kommentare (2)

2 Kommentare zu: “Das Friedensangebot eines Träumers

  1. ytiralugnis sagt:

    Lieber Herr Fleck,

    sehr gutes Thema. Die Liebe ist die einzige Kraft, die wirklich die seelischen und mentalen Wunden dieser Gesellschaft zu heilen weiß, aber auch der am meisten missverstandene Begriff. Ihr Hinweis auf den Unterschied zwischen Liebe und Verliebtheit ist ausgesprochen wichtig, den Verliebtheit ist eine Form der Lust. Man ist überwältigt vom Hormonsturm und die Gedanken drehen sich nur darum, wie sehr man durch die Person, in die man verliebt ist, genießt. Das ist, wenn auch ein natürlicher, ein eigensüchtiger Zustand.

    Wirkliche Liebe in einer Beziehung ist das Resultat langjähriger Arbeit an ihr, von Opfern, die man für den anderen bringt. Liebe ist ihrer Natur nach nicht eigensüchtig, sondern selbstlos. In der Liebe geht es nicht um den eigenen Genuss, sondern um das Wohl der geliebten Person. Und wenn man diesen Punkt erreicht, offenbart sich eine ganz andere Form der Freude in diesem liebevollen, selbstlosen Tun. Leider machen die meisten Menschen in der heutigen verkorksten Gesellschaft nie in ihrem Leben diese Erfahrung, da ihre Beziehungen lange zerbrochen sind, bevor sie diesen Punkt erreichen konnten.

    Deshalb ist es so wichtig, darauf hinzuweisen. Und mindestens genauso wichtig ist es, darauf hinzuweisen, dass wir nicht ewig in diesem Körper hier herumwandeln, dass wir als spirituelle Wesen ewig sind, einen ewigen Ursprung haben, der Person ist und uns schon immer geliebt hat (im eigentlichen Sinn), landläufig Gott genannt. Um auf der Ebene der eigenen Seinswirklichkeit als ewiges Lebewesen die vollständige Erfüllung zu erlangen, müssen wir unserer inherente Liebesbeziehung zu Gott erwecken, die unsere eigentliche ewige Natur ist. Diese Liebe ist nicht den aus den zeitlichen Veränderungen um uns herum hervorgerufenen Leiden unterworfen.

    Frieden ist ohne Liebe unmöglich. Und dauerhafter Frieden ist nur mit einer Art der Liebe möglich, die selbst von dauerhafter Natur ist, also göttlicher Liebe. Der Versuch, Friede im Außen zu erzeugen, ist nichts anderes als der Wunsch, die Umgebung zu kontrollieren. Wenn jedoch durch die Kultivierung göttlicher Liebe im Inneren innerer Frieden einkehrt, kann man erkennen, dass sowohl äußerer Frieden wie auch äußerer Unfrieden beides Illusionen sind, die sich nur auf die Welt der Zeitweiligkeit beziehen. In diesem Moment geht wahrer Frieden von einem aus, mit jedem Atemzug, und der steckt an.

    Viele liebe Grüße

  2. Nevyn sagt:

    Langsam verblasst der Wind,
    Die Wellen werden eben,
    Etwas nur und es beginnt,
    Der Nebel sich zu heben.

    Man sieht jetzt ein Stück weiter,
    So weit, wie man nie sah,
    Schon scheint das Leben heiter,
    Das Ziel den Augen nah.

    Ja, ein Stück Unendlichkeit
    Hat man sich eingefangen,
    Da macht sich wieder Nebel breit,
    Von vorn beginnt das Bangen.

    Nevyn

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