Das Mädchen und der Denunziant

von Dirk C. Fleck.

Gestern war einer jener Apriltage, die uns den frischen Frühling, an dem wir nach einem langen Winter zwei Tage intensiv schnuppern durften, gemeinerweise wieder entziehen. An denen der strenge Westwind die aufblühende Stadt mit polarer Luft bestreicht, was uns, die viel zu leicht Bekleideten, so richtig unter die Haut geht. In banger Vorahnung denken wir dann an den kommenden Sommer und an das Heine-Wort, dass der deutsche Winter nichts anderes ist als ein grün angestrichener Winter. Jedenfalls dachte ich daran, als ich noch ganz außer Atem meinem knapp verpassten Bus hinterher sah.

Da stand ich also an der Haltestelle Hoheluftchaussee, die direkt über dem Isebekkanal liegt. Die Busspuren in der Mitte der Brücke werden von breiten Einsteigzonen gesäumt, die zu beiden Seiten mit stählernen Barrieren gegen den brodelnden Verkehr geschützt sind. Der Verkehr Richtung Innenstadt brodelte gestern im Stehen, da eine der beiden Fahrspuren von Presslufthammer-Bernhard bearbeitet wurde, was sogar die Scheiben der gegenüberliegenden Sparkassenfiliale zum zittern brachte (nur so zum Spaß ein Beitrag dazu). Auf der elektronischen Anzeigetafel las ich, dass der nächste Bus in zehn Minuten zu erwarten sei.  Anstatt mich auf die eiskalte Stahlbank unter das Regendach zu setzen, zog ich es vor, auf der Brücke spazieren zu gehen. Dabei passierte ich auch den Fahrkartenautomaten, den ich für gewöhnlich ignoriere. In Bussen fahre ich grundsätzlich schwarz, zumindest in Hamburg, wo ich in den letzten 30 Jahren gerade mal in zwei Kontrollen geraten war. Das verhängte Bußgeld war schnell wieder zurück gewonnen.

Warum meine Hand plötzlich in der Hosentasche nach Kleingeld kramte und auf dem Display eine Einzelfahrt für  2,20 Euro bestellte und die auch noch bezahlte, erschloss sich mir nicht auf Anhieb, war aber egal. Dann war ich eben mal legal unterwegs. Ich steckte das Ticket in die Jackentasche und beobachtete amüsiert die Gesichter in den Autos, die sich in gezähmter Hysterie an Presslufthammer-Bernhard vorbei schlichen. Inzwischen hatte sich in meinem Rücken ein  wasserstoffbetriebener Bus lautlos der Haltestelle genähert. Mit einem gültigen Fahrtausweise einzusteigen fühlte sich auch nicht anders an als ohne einen solchen, soviel stand fest…

Der Bus war einer von der kürzeren Sorte und deshalb entsprechend voll. Gegenüber dem Einstieg war ein Sitzplatz frei, den sich niemand zu besetzen traute, also nahm ich ihn. In Hamburg wird ja in der Öffentlichkeit grundsätzlich wenig gesprochen, aber seitdem das I-Phone über die globale Zivilgesellschaft gekommen ist, hört man im öffentlichen Raum so gut wie gar nichts mehr, außer dem obligaten Araber, Türken, Russen oder Stuttgarter natürlich (in diesem Fall war es ein solcher), der sein Telefonat in so extremer Lautstärke führt, dass man ihm am liebsten einen Knebel in den Mund schieben würde, was aber nie geschieht. Gut, was hatten wir hier an Bord? Tausend Studenten und ein paar Rentner. Zwei Meter von mir entfernt entdeckte ich allerdings zwei merkwürdige Gestalten. Der eine, etwa 35 Jahre alt, war fett und ungepflegt, sein Hals hing ihm vom Kinn wie der Sack eines Pelikans. Der andere war wesentlich älter und von gedrungener, knochiger Gestalt. Das Paar kommunizierte miteinander über Gesten. So gab der Pelikan dem Knochigen per Handzeichen zu verstehen, wem dieser sich als nächstes zu nähern habe. Pelikan zeigte irgendwann auch auf mich und schon stand der Knochige plötzlich vor mir, zückte einen Ausweis und sagte etwas, das ich nicht verstand. Ich schüttelte den Kopf, denn mein Kleingeld hatte ich schon in das Ticket investiert und einen Schein schien mir der Bettler nicht wert zu sein. „Den Fahrschein bitte!“ rief der Pelikan, der hinter dem Knochigen auftauchte. Ich langte in mein Jackett. Bitte sehr! Die beiden nickten verlegen und zogen sich in ihre Ausgangsposition zurück.

In der Folgezeit beobachtete ich den Pelikan und seinen Adlatus etwas genauer. Vielleicht sollte man dem HVV (Hamburger Verkehrsverbund) raten, dieses Kontroll-Team zu entlassen. Der Pelikan gab fünf Stationen lang nicht einen einzigen richtigen Tipp ab. Offenbar ist das auch nicht mehr so einfach wie früher, offenbar zahlen die jungen Leute heute anstandslos jeden Preis, den die Verkehrsbetriebe alle halbe Jahr neu und teurer aufrufen. Am Bezirksamt Eimsbüttel stieg ein Mädchen zu, auch sie hatte die Stöpsel in den Ohren und das Handy in der Hand. Eine hübsche, adrette Hanseatin mit Pferdeschwanz, wie man sie in den besseren Wohngegenden Hamburgs häufig findet. Der Platz neben mir war frei geworden und so setzte sie sich neben mich. Ihr gegenüber hockte ein junger Mann mit einem sauberen Kurzhaarschnitt und Löchern in den Jeans, die seine blassen Knie freilegten. Der Pelikan schickte den Knochenmann nun zu dem Mädchen, das heftig zu erröten begann, als sie den Ausweis des Mannes sah. Sie kramte nervös in ihrer Handtasche und jedem der Umstehenden war klar, dass es sich hier um eine Schwarzfahrerin handelte, die sich jeden Moment in eine billige Ausrede flüchten würde. Als das Mädchen auch noch in ihrer rechten Manteltasche herum kramte, begannen die Augen des Pelikans zu leuchten. Das war der Moment, in dem ich ihr im Stile eines Magiers meinen Fahrschein in die Hand drückte. Der Knochenmann fiel aus allen Wolken, als sie ihm diesen unter die Nase rieb, er hätte sich am liebsten bei ihr entschuldigt, was ja nicht gegen ihn spricht. Der junge Mann mit den blassen Knien aber hatte den Trick durchschaut und flüsterte dem Pelikan etwas ins Ohr, woraufhin dieser seinen Partner erneut anwies, der Sache auf den Grund zu gehen. Daraus wurde allerdings nichts, da ihnen eine ältere Frau ohnmächtig vor die Füße fiel und sie sich kümmern mussten. Anruf in der Zentrale, Rettungswagen etc.

An der nächsten Haltestelle stiegen sie aus. Meine Sitznachbarin auch. Sie lächelte mir kurz zu, beugte sich anschließend zu dem jungen Mann mit den bloßen Knien und spuckte ihm mitten ins Gesicht, bevor sie den Bus verließ. Es war eigentlich kein richtiges Spucken, eher ein Versprühen von Speichel, aber es saß. Ihr Opfer saß wie betäubt da und musste registrieren, dass ihn die Fahrgäste nun sehr unhanseatisch anstarrten, bis er es nicht mehr aushielt und an der nächstbesten Haltestelle die Flucht ergriff.

Was für eine Busfahrt! Meine Schutzengel hatten dem notorischen Schwarzfahrer in mir unbemerkt ein Ticket besorgt, das zudem noch einer anderen Person aus der Patsche helfen sollte. Das eigentliche Geschenk an diesem kalten Apriltag aber war, dass ich eine echte Rebellin kennen lernen durfte. Eine, der schon mal die Hutschnur platzt, wenn wieder Denunzianten das Zepter schwingen und alle Welt sich auf der richtigen Seite wähnt. Die junge Lady wird es schwer haben in unserer stillgelegten Gesellschaft. Aber meine Gedanken werden bei ihr sein, denn sie hat sich in mein Herz geschlichen. Die liebevollen  Gedanken, die man für einen Menschen hegt, tragen garantiert zu seinem Schutz bei, das weiß doch jedes Kind …

Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.

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