Artikel

Werkzeuge des Wandels Teil 1 – Der Redekreis

Werkzeuge des Wandels Teil 1 – Der Redekreis


Ein Beitrag von Bastian Barucker.

Angeregt durch eine wertvolle Kritik auf meinen Artikel „Der fortwährende Übergriff“ starte ich eine Reihe von Veröffentlichungen, die Werkzeuge für den Wandel vorstellt. Diese Hinweise sollen leicht verständlich und praktikabel sein. Es handelt sich dabei um praktische Dinge, die Personen, Familien und Gemeinschaften auf dem Weg in ein neues Miteinander anwenden können. Alle Werkzeuge habe ich viele Jahrzehnte selber angewandt und ausprobiert. Sie gehören weder mir, noch habe ich sie erfunden. Ich habe sie meist von anderen Menschen gelernt, praktiziert und dann adaptiert. Ich beschreibe folgend meine Erfahrungen aus dieser praktischen Anwendung und lade jeden zum eigenen Ausprobieren ein!

“Er ist ein sehr wirksames Mittel, um Barrieren zu beseitigen und Menschen die Möglichkeit zu geben, sich völlig frei auszudrücken. Aus diesem Grund erfreut er sich in der Gesellschaft wachsender Beliebtheit. Der Redekreis hält Einzug in Schulen, Vorstandsetagen und Umkleidekabinen auf der ganzen Welt, und zwar aus dem einfachen Grund, dass diese Technik sehr gut funktioniert. Die Symbolik des Kreises, der keinen Anfang hat und in dem niemand eine herausragende Stellung einnimmt, ermutigt die Menschen, frei und ehrlich über die Dinge zu sprechen, die ihnen auf dem Herzen liegen.“ (http://talkingcircle.net/)

Beginnen wir mit einem der kraftvollsten Werkzeuge, welches ich in den letzten 20 Jahren kennen lernen durfte: Dem Redekreis. Menschliche Beziehungen leben durch und von Kommunikation. Sich mitteilen und gehört werden sind starke soziale Bedürfnisse, die erfüllt sein müssen, damit wir uns wohl und verbunden fühlen. Ich habe insgesamt mehrere Jahre in sehr herausfordernden Situationen in der Wildnis gelebt und die wichtigste Fähigkeit, die ein gutes Leben im Wald ermöglicht, ist eine gelungene Kommunikation. Jede Gruppe, unabhängig davon wie gut sie Feuer machen, jagen oder Hütten bauen kann, wird scheitern, wenn sie nicht miteinander klar kommt. Um Spannungen und Meinungsverschiedenheiten zu lösen und für ein Gleichgewicht in der Gruppe zu sorgen, braucht es die Möglichkeit aller, sich ehrlich und authentisch zu äußern.

“Redekreise stammen ursprünglich von den “Chiefs” der Irokesen – der Prozess wurde eingesetzt, um sicherzustellen, dass alle Anführer im Stammesrat gehört werden und dass diejenigen, die sprechen, nicht unterbrochen werden.“ (https://firstnationspedagogy.ca/circletalks.html)

Der Redekreis ist eine indigene Weisheit Nordamerikas und Bestandteil vieler nativer Kulturen. Er ist ein Werkzeug der Wildnis voller Potenzial und Kraft. Die Struktur des Redekreises ist regional verschieden und es gibt mittlerweile viele verschiedenen Adaptionen und Formen des Redekreises. Er wird in Gefängnissen, der Schule, Therapiezentren und im Berufsleben angewandt. Ich beschreibe eine Art und Weise der Struktur und erläutere die Kernelemente.

Der Kreis als Symbol für die Rhythmen der Natur

Es mag lapidar erscheinen, aber hinter dem Kreis als Form stecken sehr wichtige Bedeutungen. Gestalte den Redekreis also so, dass alle Teilnehmenden im Kreis sitzen. Das hat mehrere Vorteile. Alle Leute im Kreis können einander sehen und in die Augen schauen. Im Zentrum des Kreises kann ein kleiner Altar oder eine Kerze stehen, die das gemeinsame Zentrum symbolisiert. Der Kreis symbolisiert das zyklische Leben in der Natur. Natürlicherweise verläuft alles in Kreisen und Zyklen. Alles wiederholt sich stetig, wird geboren, wächst, gedeiht und stirbt. Der Lauf der Sonne, das Kommen und Gehen der Jahreszeiten, der Zyklus des Mondes und das menschliche Leben sind nie linear, sondern immer zyklisch. Aufgrund unseres zivilisierten oft zielorientierten Lebens und Arbeitens vergessen wir, dass das Leben ein Kreislauf ist.

Der Redekreis wird von einer Person einberufen, die eine Frage oder ein Anliegen hat. Sie lädt alle Personen ein, die sie gerne dabei haben möchte. Die Teilnahme an einem Redekreis ist etwas Besonderes und wurde früher als Ehre empfunden. Der Redekreis dient dem Aussprechen und Hören der persönliche Wahrheiten der Teilnehmenden. Er ist nicht primär dafür da, ein Problem zu lösen. Wenn eine Gruppe im Gleichgewicht und Harmonie ist, finden sich Lösungen wie von selbst. Sie sind ein Nebeneffekt von Balance. Deshalb ist es sinnvoll sich darauf zu besinnen, dass der Redekreis kein greifbares Ergebnis haben muss. Der Prozess des authentischen Redens und des mitfühlenden Zuhörens sind die wichtigsten Eigenschaften des Redekreises.

Es ist in Unterhaltungen sehr verbreitet, dass sich Menschen ins Wort fallen oder während des Zuhörens bereits gedanklich ihre Antwort vorbereiten. In hitzigen Diskussionen kann es wie ein Schlagabtausch wirken. Der Redekreis unterbindet diese Art der Kommunikation. Es gibt nicht die Möglichkeit anderen ins Wort zu fallen oder direkt auf das Gesagte zu reagieren. Jeder im Kreis ist dazu “gezwungen” das Gesagte so stehen zu lassen, wie es gesagt wurde. Das ist für die meisten anfänglich die größte Schwierigkeit, da sie es gewohnt sind, Antworten oder Gegenargumente parat zu haben. Das Wunderbare daran ist aber, dass es die Teilnehmenden dazu bringt, wirklich zuzuhören.

“Die wichtigsten Grundsätze des Redekreises sind: die Präsenz jedes Teilnehmers zu würdigen und seinen Beitrag wertzuschätzen; die Verbundenheit zwischen den Menschen zu betonen; den emotionalen und spirituellen Ausdruck zu unterstützen; und allen die gleiche Stimme zu geben. Vertraulichkeit ist ebenfalls von zentraler Bedeutung, um Offenheit und emotionale Sicherheit zu gewährleisten. Darüber hinaus ist die Teilnahme freiwillig; kein Teilnehmer ist gezwungen, etwas mitzuteilen, wenn er es nicht möchte.” (https://healingjusticeproject.org/news/2019/2/26/healing-circles)

Der einzige Weg, die beziehungsfördernde Kraft des Redekreises kennen zu lernen, ist ihn zu erleben. Das Wissen steckt im Tun. Deshalb lade ich Sie ein, sich ein persönliches Anliegen oder eine Frage auszusuchen und Menschen zu einem Redekreis einzuladen.

Regeln für den Redekreis

Der Redekreis lädt dazu ein nur von sich und der eigenen, subjektiven Wahrheit zu sprechen. Darunter ist das Benennen von Gefühlen, Gedanken und Meinungen zu verstehen.

Das Benennen der eigenen Gefühle schafft Verständnis und Verbundenheit.

Die Teilnehmenden reden in Ich-Botschaften und sprechen so ausführlich wie nötig und so präzise wie möglich. Sie sprechen von Herzen!

Alle Dinge, die im Redekreis gesagt werden sind vertraulich und werden nicht weitererzählt. So entsteht ein sicherer Raum, der es Menschen ermöglicht sich ehrlich zu äußern.

Im Redekreis wird nur das genannte Thema besprochen. So werden Abschweifen und ausuferndes Reden verhindert.

Wer den Redegegenstand in der Hand hält, ist eingeladen, sich zu äußern. Es besteht aber keine Pflicht dazu. Schweigen kann genauso wertvoll sein wie Worte. Alle anderen hören aufmerksam und mitfühlend zu. Es ist nicht möglich, andere Menschen beim Reden zu unterbrechen.

Der Redegegenstand kann ein Stein, ein Stock, eine Feder, ein Zapfen oder Ähnliches sein.

Im Redekreis ist es wichtig von Herzen zuzuhören. Darunter ist der aktive Vorgang zu verstehen, bei dem der Zuhörende den Anderen verstehen will, ohne sich ein Urteil über ihn oder seine Meinung zu bilden. Es braucht dafür die Fähigkeit, mitfühlend und verständnisvoll zu sein.

Ablauf

1. Der Redekreis beginnt mit einem klaren Anfang. Das kann ein Händehalten, ein Gongschlag, eine Schweigeminute oder das Räuchern sein.

2. Die Person, die eingeladen hat, beschreibt ihr Anliegen oder stellt ihre Frage.

3. Wenn sie ihre Wahrheit gesprochen hat, dann gibt sie den Redegegenstand im Uhrzeigersinn weiter.

4. Die nächste Person ist dran und hat die Möglichkeit, sich offen und ehrlich zu äußern.

5. Der Redegegenstand kreist, bis er wieder bei der einladenden Person angekommen ist.

6. Diese fragt den Kreis, ob es noch Dinge gibt, die gesagt werden müssen. Sollte dazu ein Ja ertönen, wird der Gegenstand wieder im Kreis weitergereicht.

7. Jeder hat wieder die Möglichkeit sich zu äußern.

8. Wenn alles gesagt wurde, schließt der Redekreis mit einem klaren Ende. Das kann wieder eine rituelle Geste sein, auf welche sich der Kreis geeinigt hat.

9. Der Redekreis ist beendet.

Anregungen aus der Praxis

Abschließend möchte ich ein paar persönliche Erkenntnisse aus vielen Stunden Redekreis beschreiben. Die Kommunikationsform in Familie, Partnerschaft oder im Beruf sind meist gut eingespielte Routinen und deshalb kann es anfänglich unnatürlich oder künstlich wirken, sich im Redekreis zu versammeln. Es braucht Mut, Gewohnheiten zu brechen. Bleiben Sie dabei und machen Sie Erfahrungen mit der Struktur, bevor Sie sich dafür oder dagegen entscheiden. Schlussendlich kann der Redekreis zu einem lang ersehnten “Raum” werden, um sich auf Herzensebene auszutauschen.

Es wird vorkommen, dass Menschen im Kreis auf die Äußerungen anderer emotional reagieren. Da sie anderen nicht ins Wort fallen dürfen, müssen diese Gefühle wahrgenommen und ausgehalten werden. Es kann wertvoll sein, sich auf die Spurensuche zu begeben, warum manche Äußerungen starke Gefühle auslösen. Dabei bleibt immer zu beachten, dass jeder Mensch verantwortlich für seine Gefühle ist. Auch das kann Thema für einen ehrlichen Redekreis sein.

Übung macht den Meister. Redekreise können lang und anstrengend sein. Es bedarf Übung anderen Menschen lange und empathisch zuzuhören. Sehen Sie es als Training an. Sollten Sie begrenzte Zeit haben, dann etablieren sie einen Zeithüter und portionieren Sie die Gesamtzeit, die ihnen zur Verfügung steht auf die einzelnen Teilnehmer. Oftmals ist es möglich die eigene Wahrheit mit wenigen ehrlichen Worten auf den Punkt zu bringen.

Ich würde mich freuen, wenn ich Sie dazu inspirieren konnte, diese alte Technik der Kommunikation in Ihrem Umfeld auszuprobieren. Ich bin der Meinung, dass wir aktuell mehr denn je “Räume” und Zeiten brauchen, in denen wir von Herzen sprechen und zuhören können, um unsere Wahrheit zu äußern und die Wahrheit unserer Mitmenschen zu empfangen. So entstehen Verbundenheit, Beziehung und Gemeinschaft.

Weiterführende Literatur

Der Weg des Kreises von Manitonquat Die Kraft des Kreises – Gespräche und Meetings inspirierend, schöpferisch und effektiv gestalten The Talking Circle: A Perspective in Culturally Appropriate Group Work with Indigenous Peoples +++Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Bildquelle:  Clemquetzal /shutterstock Pow Wow in Kanada Gemeinwesen Huron und Wendat während der jährlichen Pow wow Wendake in Quebec. Ein Pow ist eine soziale Versammlung, die von amerikanischen Gemeinschaften organisiert wird, um sich zu treffen, zu tanzen, zu beten, zu singen, zu sozialisieren


+++
Ihnen gefällt unser Programm? Machen wir uns gemeinsam im Rahmen einer "digitalen finanziellen Selbstverteidigung" unabhängig vom Bankensystem und unterstützen Sie uns bitte mit Bitcoin: https://apolut.net/unterstuetzen#bitcoinzahlung

Informationen zu weiteren Unterstützungsmöglichkeiten finden Sie hier: https://apolut.net/unterstuetzen/

+++
Bitte empfehlen Sie uns weiter und teilen Sie gerne unsere Inhalte in den Sozialen Medien. Sie haben hiermit unser Einverständnis, unsere Beiträge in Ihren eigenen Kanälen auf Social-Media- und Video-Plattformen zu teilen bzw. hochzuladen und zu veröffentlichen.

+++
Abonnieren Sie jetzt den apolut-Newsletter: https://apolut.net/newsletter/

+++
Unterstützung für apolut kann auch als Kleidung getragen werden! Hier der Link zu unserem Fan-Shop: https://harlekinshop.com/pages/apolut

Barrieren Chief. Gefühle First Nation Gewohnheit Herz Ich-Botschaft Irokesen Manitonquat Mitfühlen