Seid willkommen, süße Buhlerinnen

Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck

Mein Besuch in der Hamburger Kunsthalle war so etwas wie ein Fluchtversuch, mit dem ich den woken Gesinnungsmief des deutschen Alltags aus den Kleidern zu schütteln versuchte. Hat funktioniert. Fasziniert von der Wucht, welche die Werke der alten Meister auf mich ausübten, ließ ich mich zwischen Lucas Cranach, Hans Holbein, Goya und Jan Massys auf einer Bank nieder. Dort wollte ich Kraft schöpfen für den Hauptakzent der Sammlung: dem niederländischen Goldenen Zeitalter des 17. Jahrhunderts.

Bevor ich aufbrach, fiel mein Blick auf ein Gemälde, das mich magisch anzog. Es zeigt den Moment, in dem einer Frau der schützende Umhang entzogen wird, sodass sie plötzlich nackt vor einem Tribunal geifernder älterer Männer steht, die allesamt in rot gekleidet sind. „Phryne vor dem Areopag“ heißt das Bild, gemalt hat es Jean-Léon Gérôme im Jahr 1861. Der Areopag war der Oberste Gerichtshof des antiken Athen, in dem die prominentesten Vertreter des Adelsrates für die Ahndung von Tötungsdelikten zusammen kamen.

Mit Phryne stand 340 v.Chr. aber keine Mörderin vor Gericht, sondern Athens bekannteste Hetäre. Hetären waren im alten Griechenland angesehene Liebesdienerinnen. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Huren waren sie gebildet und beherrschten die Kunst des Tanzes und des Gesangs. Ebenso wussten sie durch ihr musikalisches Talent zu entzücken, das sie bevorzugt auf dem Rohrblattinstrument Aulos sowie auf der Kithara, einem beliebten Saiteninstrument jener Zeit, demonstrierten. Dass sich Phryne dem Tribunal stellen musste, war eine Sensation, denn es war weitgehend den Hetären zu verdanken, dass der gesellschaftliche Frieden nicht in Gefahr geriet. Diese Frauen pflegten mit den politisch einflussreichsten Politikern im Lande intimen Umgang. Außerdem flossen dem Staat aus ihrer Tätigkeit erhebliche Einnahmen zu, das regelte die Steuer Pornikon telos.

Warum stand diese Frau vor Gericht? Ganz einfach: Athens Elite fühlte sich durch sie um den Versand gebracht, die Staatsgeschäfte schienen aus dem Ruder zu laufen. Also musste man diese „Hexe“ loswerden, so leid es einem auch tat.

Als sich das Urteil abzuzeichnen begann, wurde Phryne von ihrem Liebhaber und Anwalt, dem Politiker Hypereides (389–322 v. Chr.) in die Mitte des Gerichts geführt und vollkommen entblößt. Die Richter verharrten in Schockstarre, da sie glaubten, Aphrodite persönlich vor sich zu haben. Aphrodite – die Göttin der Liebe und der sinnlichen Begierde! Sie waren von der Schönheit der Angeklagten dermaßen geblendet, dass sie Phryne überraschenderweise freisprachen.

Ist das nicht eine tolle Geschichte? Ob sie sich so zugetragen hat, ist zwar nicht belegt, aber egal. Das Gemälde des Franzosen Jean-Léon Gérôme spricht Bände. Und es bringt ein wenig Gerechtigkeit in ein Thema, das bis auf den heutigen Tag mit einer unerträglichen Doppelmoral behaftet ist. Männer gehen gerne zu Prostituierten. Das war so, das ist so, das wird so bleiben. Manche geben ihr karges Lehrlingsgehalt dafür hin, andere bedienen sich ungeniert am Werbeetat des Multikonzerns, dem sie vorstehen. Achtzig Prozent der deutschen Männer haben Pufferfahrung. Davon benimmt sich eine satte Zweidrittelmehrheit respektlos.

Der Freispruch Phrynes vor dem Areopag erinnert mich an eine Äußerung Goethes, die den Liebesdienerinnen dieser Welt tatsächlich Respekt zollt: »Seid mir willkommen, süße Buhlerinnen; denn ihr allein verschönt uns doch die Welt! Ihr lasset uns im Augenblick gewinnen, was Prüderie uns jahrelang verhält. Was sie nicht fühlt, sie weiß es zu ersinnen, wie selbstgefällig froh sie sich verstellt, von Eva her geschaffen zum Betrügen, sie kleidet nichts so gut, als wenn sie lügen.«

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Dies ist kein Loblied auf die Prostitution. Im Rotlichtmilieu ist Gier in ihrer ehrlichsten Form zu besichtigen. Dort findet eine immerwährende Protz-Parade des kriminellen Pöbels statt, angeführt von primitiven, teuer gekleideten Männerkarikaturen aus Graz, Tirana oder Moskau. die „ihre“ Frauen wie Sklaven behandeln. Das wissen wir, das wird ja überall kolportiert. Umso bemerkenswerter sind jene Äußerungen, die hinter den käuflichen „Objekten“ eine Seele zu erkennen vermögen. Der französische Schriftsteller Ferdinand Céline (1894 – 1961, „Reise ans Ende der Nacht“), hat ein Buch über Detroit geschrieben. Von allen Menschen, die er in diesem Buch erwähnt, erfährt nur die Hure Molly eine Ehrenrettung.

»Wir küssten uns«, heißt es. »Aber ich küsste sie nicht gut genug, nicht so, wie ich gemusst hätte, nämlich eigentlich auf Knien. Ich dachte dabei zugleich immer an etwas anderes, daran, dass ich keine Zärtlichkeit verlieren wollte, als wollte ich alles aufbewahren für weiß Gott was für Großartiges, Erhabenes, für später, aber nicht für Molly, nicht dafür. Als würde das Leben mir das verbergen, wegnehmen, was ich von ihm wissen wollte, vom Leben am Grunde der Dunkelheit, als hätte ich dann nicht mehr genug in der Hand, als hätte das Leben mich dann betrogen wie alle anderen auch, das Leben, die einzige wirkliche Geliebte der echten Männer.«

Es folgt der Abschied. »Der Zug fuhr ein. ›Sie sind jetzt schon so weit weg, Ferdinand. Ferdinand, machen Sie auch wirklich genau das, was Sie tun wollen? Das ist so wichtig … Das ist das Einzige, worauf es ankommt …‹ «

Und später: »Jahre sind vergangen seit diesem Abschied. Ich habe oft nach Detroit geschrieben und an alle Adressen, die ich noch wusste und wo man sie kennen mochte. Eine Antwort hab ich nie gekriegt. Der Puff ist mittlerweile dicht. Mehr hab ich nicht in Erfahrung bringen können. Die liebe, wunderbare Molly, falls sie dies hier lesen sollte, dann soll sie wissen, dass meine Gefühle für sie sich nicht verändert haben, dass ich sie immer noch liebe und sie immer lieben werde, auf meine Art, dass sie herkommen kann, wenn sie mein Brot und mein bescheidenes Leben mit mir teilen will. Und wenn sie nicht mehr hübsch ist, ja was soll’s! Wir werden schon zurechtkommen! Ich hab so viel von ihrer Schönheit in mir bewahrt, so lebhaft, so warm, das reicht sicher für uns beide, für die nächsten zwanzig Jahre mindestens, und dann ist sowieso alles vorbei.«

Das schrieb ein Mann, dessen Verachtung für die Menschen niemanden verschonte, der seinen Spott auf das Menschengeschlecht in eine Sprache kleidete, die wie ein reißender Sturzbach auf unsere Scheinheiligkeit herunterbrach. Der sich unter Menschen nur einer Welle nutzloser Geschöpfe gegenübersah, die aus den Tiefen der Zeit heranbrauste. Geschöpfe, die unablässig vor unseren Augen sterben, »aber wir stehen da und hoffen auf wer weiß was …«

In »The Air-Conditioned Nightmare« zieht Henry Miller den Hut vor Celine, weil er den Körper einer Hure über die Seele der Maschine triumphieren lässt. Da sind wir schon mal zwei, die Beifall klatschen. Vielleicht könnten Sie sich ebenfalls dazu entschließen, meine Herren, dann wäre dem Spuk der Prostitution eventuell beizukommen.

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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman “Go! Die Ökodiktatur” ist eine beklemmend dystopische Zukunftsvision. 2023 erschien sein aktuelles Buch „HEROES. Mut, Rückgrat, Visionen“.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bild: Jean-Leon Gerome, Phryne revealed before the Areopagu

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Kommentare (1)

Ein Kommentar zu: “Seid willkommen, süße Buhlerinnen

  1. Nevyn sagt:

    Ist es nicht interessant, dass das Gericht zu einem völlig anderen, ja gegensätzlichen Urteil kommt, sobald es den Gegenstand seiner Beurteilung ganz unverhüllt betrachten kann und so die „nackte Wahrheit“ erfährt?

    Und ist es nicht genau das, was der Mensch tagtäglich macht, nämlich dass er sich allein an der An-Sicht ein Urteil bildet, ohne je eine echte Ein-Sicht erlangt zu haben?

    Ist jemandem der Tisch neben der Zeus-Figur aufgefallen, mit den drei Ringen, durch die man nie gleichzeitig hindurchsehen kann? Was man dort in die Mitte stellt, wird nur erkannt, wenn man es von drei Seiten gesehen hat, in der Raumzeit nacheinander, was den Bewusstseinsakt provoziert, mehrere Aspekte im Kopf ein und demselben Gegenstand zuordnen zu können, obwohl sich die Bilder unterscheiden.

    Hat sich jemand gefragt, warum die Gewänder des Gerichtes rot (Urprinzip Mars), die der „Angeklagten“ und ihres „Verteidigers“ dagegen blau (Urprinzip Mond) sind?
    Fällt jemandem die Analogie zur verschleierten Isis oder der Chymischen Hochzeit auf, in der Christian Rosenkreuz die Venus nackt sieht.
    Das weibliche oder Mond-Prinzip täuscht deswegen, weil der Mond ein Spiegel der Sonne ist. Man glaubt, man sähe Mondlicht in der Nacht. Dabei ist es Sonnenlicht, von einem Himmelskörper, der in der Nacht verborgen bleibt.

    Ich höre hier auf, denn ich will kein Buch darüber schreiben. Aber es dürfte offensichtlich sein, dass die Interpretation eines Bildes wieder viel über den Interpreten sagt und eigentlich nichts über das Bild. Denn auch das Bild ist ein Spiegel, in dem sich der Mensch erkennen kann.
    Die ganze Welt ist ein Spiegel.

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