
“Die Lyrische Beobachtungsstelle” von Paul Clemente.
Haben Sie von dem Film „Rust“ gehört? Bestimmt. Sie erinnern sich nicht? Okay: Vor vier Jahren raste eine Meldung um den Globus: Beim Dreh eines Hollywood-Films erschoss Darsteller Alec Baldwin versehentlich die Kamerafrau Halyna Hutchins und verletzte den Regisseur. Beides mit derselben Kugel. Zuvor hatte ein Regieassistent ihm das tödliche Requisit gereicht – mit der Versicherung, die Knarre sei „ungeladen“. Das war leider falsch. Im vergangenen Jahr folgte die juristische Aufarbeitung. Der Assistent kam mit einer Bewährungsstrafe davon, lediglich die junge Waffenmeisterin wanderte für 18 Monate in den Knast. Im gleichen Jahr wurde „Rust“ fertig gestellt. Im Abspann liest man eine Widmung an die Verstorbene. Die Premiere fand auf dem Filmfestival im polnischen Toruń statt – so wie Hutchins es gewünscht hatte. Und Regisseur Joel Souza bereute öffentlich, diesen Film je begonnen zu haben.
Es ist nicht das erste Mal, dass es bei Dreharbeiten Tote gab. Die Filmgeschichte ist voll davon. So starb 1924 ein Catering-Koch den Hitzetod beim Dreh für „Greed“ im Death Valley. 1981 wurde Regisseur Boris Sagal durch die Rotorblätter eines Hubschraubers tödlich verletzt - ebenfalls auf einem Filmset. Berühmtestes Beispiel ist freilich „The Crow“. Hauptrolle: Brandon Lee, Sohn des legendären Martial Arts-Kämpfers Bruce Lee. Beim Dreh verunglückte Lee tödlich. Damit wurde der finstere Gothic-Streifen schon vor Fertigstellung zur Legende. Die Kassen klingelten und Sequels folgten. Das war 1993. Bei „Rust“ lief es umgekehrt: Nur der Set-Unfall hielt sich in Erinnerung. Beim Kinostart vor wenigen Wochen blieben die Kassen leer. Dabei ist der Film keineswegs misslungen. Im Gegenteil. Er gehört zu den Höhepunkten in diesem schwachen Kinojahr.
Ein Grund für den Misserfolg könnte im Genre liegen. Immerhin gilt der Western als ziemlich tot. Außerdem ist der Hauptdarsteller ein alter weißer Mann. Ein toxischer Killer, der nichts bereut. Aber auch konservativen Filmfans bietet „Rust“ wenig Freude. Schließlich handelt es sich um einen Anti-Western. Ohne positiven Gründungsmythos. Kein Make american history great again. Der Vergleich zu Michael Ciminos „Heavens Gate“ drängt sich auf. Der war ein schweineteurer Anti-Western von 1980. Sein Thema: Wie Großgrundbesitzer in Wyoming kleinen Farmern das Land raubten. Wer sein Grundstück nicht verkaufen wollte, erhielt Besuch von Auftragskillern. Ein typischer Film der Spätsiebziger. Aber er kam zu spät: Kurz vor Kinostart wurde Ronald Reagan ins Präsidentenamt gewählt. Schlagartig wich der selbstkritische Zeitgeist einem neuen Patriotismus. Rambo avancierte zum offiziellen Vorzeigehelden. Regisseur Cimino, zwei Jahre zuvor mit dem Anti-Vietnamkriegsfilm „The Deer-Hunter“ hoch gefeiert, ritt mit „Heavens Gate“ die damalige Produktionsfirma United Artists in den Bankrott. „Rust“ hat ein ähnliches Problem: Set und Bildgestaltung weisen den Film ab der ersten Minute als Anti-Western aus: Das Wyoming der 1880er Jahre ist keine heimelige Ortschaft mit gemütlichen Saloons, Country-Musik und einem positiven Helden. Nein, die Kamera zeigt schlammige, von dunklen Wolken bedeckte Berglandschaften. Schneereste suggerieren Kälte. Die Stadt: ein paar wackelige Holzhütten, Zelte und natürlich ein Galgen. Die Einwohner feilschen um das Lebensnotwendige. Heute würde man sie als „White Trash“ bezeichnen.
Im Mittelpunkt der Handlung steht der 13jährige Waisenjungen Lucas. Der wohnt auf einer zerfallenen Farm, muss sich und seinen jüngeren Bruder versorgen. Als ein Wolf sich nähert, jagt Lucas ihn und erschießt versehentlich einen Farmer. Der Richter glaubt nicht an einen Unfall, da Lucas und der Erschossene zuvor im Streit lagen. Das Urteil für den Teenager: Tod am Galgen. Regisseur Joel Souza erklärte, dass sein Film auf einer historischen Begebenheit beruhe: Man habe damals tatsächlich einen 13jährigen gehängt. Der sei, so ergänzte Alec Baldwin, vielleicht das jüngste Opfer der Wild West-Justiz gewesen. Leider irrt er da. Ebenfalls überliefert ist nämlich die Hängung eines siebenjährigen Mädchens. Noch 1944, mitten im Zweiten Weltkrieg, wurde in South Carolina der 14jährige George Stinney auf dem elektrischen Stuhl getötet. Die Geschworenen hatten nur zehn Minuten beraten. Hauptgrund für die Verurteilung: Stinney war schwarz. Erst 2014 wurde seine Unschuld post mortem anerkannt. Und was die Gegenwart betrifft: Bis 2005 wurden in den USA, die sich gerne als Schützer der Menschenrechte ausgeben, Sechzehnjährige von Richtern und Geschworenen in den Tod geschickt. Sechzehn heißt: Nur drei Jahre älter als Lucas.
Zum Glück endet der nicht am Galgen. Sein Großvater Harland Rust überfällt das Kaff und entführt den Jungen aus der Todeszelle. Natürlich kommt die Frage: Wieso hat Rust sich nicht früher um seinen Enkel gekümmert? Antwort: Der Alte ist ein gesuchter Schwerverbrecher. Zahlreiche Überfälle und Morde gehen auf sein Konto. Ein Anti-Held par excellence. Sein sicheres Versteck hat er verlassen, um das Leben des Enkels zu retten. Mit ihm flüchtet Rust in Richtung Mexiko. Dort, wo keine Strafverfolgung mehr droht. Dankbar zeigt sich der Gerettete allerdings nicht. Im Gegenteil: Bei der Befreiungsaktion, als Rust den Knaben aus der Zelle zerrt, schreit der laut um Hilfe, ruft nach dem Sheriff! Tja, mancher fühlt sich im Gefängnis sicher, selbst wenn es eine Todeszelle ist. Was für eine Metaphorik! Ständig versucht Lucas, seinem Retter zu entkommen. Er will zurück zu seiner Farm. Weil der kleine Bruder ihn dort braucht. Er kann nicht begreifen, dass man ihn dort tatsächlich töten will.
Noch am selben Tag beginnt die Jagd auf die Fliehenden. Zu den Verfolgern zählt ein Sheriff, der seinen Glauben an Gott und Gerechtigkeit längst verloren hat. Als Verfolger des entkommenen Lucas redet er sich ein, nur seine Pflicht zu erfüllen. Verantwortlich für das Todesurteil sei allein der Richter. Sein Konkurrent hingegen, ein Kopfgeldjäger, glaubt sich selbst berufen, das Werk Gottes zu vollbringen. Man fragt sich, wessen Psyche stärker deformiert ist.
Bei ihrer Flucht durchs Grenzland pausieren Rust und Lucas in Ortschaften oder Einsiedlerklausen. Die Armut der Menschen ist so bitter, dass jeder nach der Kopfprämie für die beiden giert. Daher ist allen Gastgebern zu misstrauen: Vielleicht warten sie nur darauf, dich im Schlaf zu überrumpeln, zu fesseln und auszuliefern. Die Kopfprämie verhindert jegliche Solidarisierung, hetzt die Besitzlosen gegeneinander auf. Nochmal: Für sozial Schwache war Amerika niemals „great“.
Bleibt noch eine Anmerkung zur Rezeptionsgeschichte. Wie bereits erwähnt: Vor 30 Jahren, bei „The Crow“, herrschte keine Sekunde Zweifel, dass der Film fertig gestellt und in die Kinos kommen würde. Trotz des tödlichen Unfalls. Wahrscheinlich war diese Tragik sogar ein zusätzlicher Kassenmagnet. Bei „Rust“ trat das Gegenteil ein. Viele Kritiker fassten ihn mit der Feuerzange an, spielten seine Qualitäten runter. Schon die Fertigstellung galt manchem als „unmoralisch“. Die NDR-Rezensentin sprach von einem „komischen Gefühl“, das einem beim Betrachten des Films überkomme. Eine Emotion, die sich nicht abstellen lasse. Und der Kritiker von Kinostart.de konstatierte: „Ob es richtig war, den Film trotz des tödlichen Unfalls fertigzustellen, muss jede*r für sich selbst entscheiden. Dasselbe gilt für die Frage, ob man sich einen Film ansehen möchte, in dessen Entstehungsprozess ein Mensch ums Leben gekommen ist.“ Willkommen im Hypermoralismus. Was die Autoren solcher Betroffenheits-Prosa übergehen: Wo produziert wird, da passieren Unfälle. Leider auch tödliche. Die drohen in jeder Fabrik, auf jeder Baustelle, in jedem Kraftwerk, in jedem Labor. Würde ein Hypermoralist deshalb auf Haus, Strom oder Medikamente verzichten? Wohl kaum. Nur will dieser Menschenschlag die Welt auch nicht verbessern, sondern vor allem die eigene Sensibilität ausstellen. Ein genervter „Rust“-Fan kommentierte im Internet: „An alle, die den empörten Zeigefinger erheben: geht heulen!“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: KI / shutterstock
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