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Post vom Ethikrat

Post vom Ethikrat


Ein Beitrag von Bastian Barucker.

Am 23. Oktober veröffentlichte ich den Artikel „Der Pressekodex und die Corona-Berichterstattung“. In diesem stellte ich dar, inwiefern die Pressearbeit in Bezug auf Corona den Richtlinien des Pressekodex entspricht. Ich schloss meine Analyse mit folgenden Worten:

Es ist höchste Zeit, Strukturen zu schaffen, die dafür sorgen, dass sowohl Pressekodex als auch die Grund- und Kinderrechte nicht hohle Phrasen sind, sondern gelebte Grundsätze für ein ethisches und würdevolles Zusammensein auch und besonders in Pandemiezeiten!“

Eines der Beispiele der desaströsen Pressearbeit war folgende Meldung des MDR (1): „In einem Schreiben fordert Wolfram Henn, Humangenetiker und Mitglied des Ethikrats der Bundesregierung, Verweigerer einer Corona-Impfung dazu auf, auch auf Notfallmaßnahmen im Krankheitsfall zu verzichten. Das berichtet die “Bild”-Zeitung. “Wer partout das Impfen verweigern will, der sollte, bitte schön, auch ständig ein Dokument bei sich tragen mit der Aufschrift: ‘Ich will nicht geimpft werden. Ich will den Schutz vor der Krankheit anderen überlassen. Ich will, wenn ich krank werde, mein Intensivbett und mein Beatmungsgerät anderen überlassen'”, wird Henn zitiert.“

Überraschenderweise erhielt ich am 7. November eine Email von Herrn Henn, in der er mich freundlich darauf hinwies, dass er diese Aussage nie getroffen habe und diese frei erfunden wäre. Er erläuterte mir, dass es sich um eine Falschmeldung handele, die es bis in amerikanische Nachrichtensender geschafft hatte. Er würde jedoch so eine absurde Aussage niemals treffen. Ich fühlte mich ein wenig ertappt, da ich scheinbar die von mir eingeforderte, journalistische Sorgfalt selber nicht an den Tag gelegt hatte und die Meldung des MDR nicht sorgfältig geprüft hatte. So kann es gehen, wenn man andere kritisiert, aber selber den Dingen nicht auf den Grund geht. Ich bedankte mich für den Hinweis und versprach Herrn Henn, dass ich unter dem Artikel eine Anmerkung verfassen würde, die klar stellt, dass er eine solche Aussage nie getroffen habe. Es folgte daraus ein Email-Austausch, der interessante Erkenntnisse zu Tage brachte.

Herr Henn und ich stimmten beide darin überein, dass der Verlust an Diskursfähigkeit eine aktuelle Gefahr für unsere Gesellschaft ist. Obwohl wir inhaltlich verschiedene Standpunkte vertraten, hatten wir in diesem Aspekt eine verbindende Gemeinsamkeit gefunden. Ich schlug Herrn Henn ein Interview mit mir als Maßnahmen-Kritiker vor, in dem wir öffentlich unsere unterschiedlichen Standpunkte vertreten und trotzdem respektvoll miteinander reden würden. Ich erachtete das als einen wertvollen Beitrag für den aktuellen öffentlichen Diskurs.

Herr Henn lehnte mein Angebot leider ab, da er sehr stark in die Versorgung seiner Patienten eingebunden sei. Dr. Henn hat eine Praxis für Humangenetik im Medicushaus in Kaiserslautern, die zum Institut für Immunologie und Genetik gehört. Für mich war unser Mailaustausch damit zu Ende und ich bedauerte, dass es nicht zu einem Interview kam.

Eine Woche später jedoch las ich folgende Aussage von Herrn Henn:

“Die 2G-Regel sollte beim Überschreiten der EU-Binnengrenzen generell gelten. Das wäre epidemiologisch sinnvoll und ethisch gerechtfertigt“. (2)

Diese Aussage erschien mir ähnlich absurd wie die, die sich als falsch herausgestellt hatte. Da ich meine Lektion nun gelernt hatte, fragte ich Herrn Henn direkt, ob er diese Aussage so getroffen hatte. In meiner Mail an ihm schickte ich ihm einen Auszug aus dem Artikel „Das ist keine Pandemie der Ungeimpften“.(3) In dieser Veröffentlichung vom Professor für Umweltmedizin und Hygiene, Günter Kampf, ging es auf der einen Seite um die fehlende wissenschaftliche Evidenz für die Annahme, dass Ungeimpfte Sars-Cov2 stärker übertragen als Geimpfte. Auf der anderen Seite erläuterte Dr. Kampf die möglichen gesellschaftlichen Folgen einer „Stigmatisierung von Teilgruppen der Bevölkerung“. Die besagte Studie, die ich Herrn Henn zusendete, ist im Lancet erschienen und untersuchte die Übertragung der Delta Variante von Sars-Cov2 in Haushalten in England. Ich wollte ihn darauf hinweisen, dass es Erkenntnisse gibt, die zeigen, dass Geimpfte und Ungeimpfte gleich infektiös sein können, was ein EU-Ausreiseverbot für Ungeimpfte sinnlos machen würde.

Überraschenderweise bekam ich eine längere Mail zurück, in der Herr Henn mir richtigerweise erklärte, dass normale Kontakte beim Reisen nicht denen in einem Haushalt gleichzusetzen sind. Trotzdem, so seine Aussage, gäbe es auch bei so nahen Kontakten wie im Haushalt eine signifikante Verringerung des Transmissionsrisikos. Ich war verwundert über diese Aussage, da sie den Aussagen des Artikels von Prof. Kampf widersprach. Da ich Laie auf diesem Gebiet bin, hielt ich Rücksprache mit einem Professor aus dem betreffenden Fachgebiet, welcher mich auf eine Aussage in der Studie hinwies und die Aussage von Herrn Henn bzgl. der Signifikanz als Falschaussage einschätzte. Die Verfasser der Studie kamen nämlich zu folgendem Ergebnis:

Alle 53 PCR-positiven Kontakte waren im Haushalt exponiert und die SAR (Secondary Attack Rate) für alle mit der Delta-Variante exponierten Haushaltskontakte betrug 26%. Die SAR war bei Ungeimpften nicht signifikant höher als bei vollständig geimpften Haushaltskontakten“

Ich schrieb Herrn Henn von diesem offensichtlichen Widerspruch und fügte noch weitere Ausschnitte aus der Veröffentlichung von Dr. Kampf über die Rolle der Ungeimpften hinzu. Darunter waren jüngste Daten über die Zahl der neuen Covid-19-Fälle in verschiedenen US-Bezirken mit unterschiedlichen Impfquoten, die zeigen, dass es keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen dem Anteil der vollständig geimpften Bevölkerung und den neuen Covid-19-Fällen gibt. (4) Außerdem befand sich unter den Studien eine Auswertung eines nosokomialern Ausbruchs von Covid-19 in Israel, an dem 16 Beschäftigte im Gesundheitswesen beteiligt waren. Und „die Erkenntnisse einer Studie, die zeigt, dass der Anteil der asymptomatischen Covid-19-Fälle bei den geimpften und ungeimpften Studienteilnehmern ähnlich ist, was die Relevanz asymptomatischer geimpfter Personen als potenzielle Übertragungsquelle unterstreicht.“ (5)

Ich bekam daraufhin eine sehr kurze Mail, die andeutete, dass wir inhaltlich gar nicht weit voneinander weg wären. Das verwunderte mich, da ich ihm zu erklären versuchte, dass ich Reisebeschränkungen für Ungeimpfte als unbegründet und unethisch erachtete. Ich schrieb:

Ich empfehle ihnen, den ganzen Text zu lesen und hoffe, dass sie sich selbst und ihre Ansichten tiefgehend hinterfragen, um immer wieder abzugleichen, ob es ethisch korrekt ist, den Impfstatus einer Person als Maßgabe für seine Rechte und Freiheiten zu machen."

Ich hoffte weiterhin darauf, dass Herr Henn auf meinen Hinweis bzgl. der Studie zu Geimpften und Ungeimpften reagieren würde und eingestehen könnte, dass der von ihm postulierte signifikante Unterschied zwischen Geimpften und Ungeimpften nicht existiert. Es war für mich ein entscheidender Punkt zu erleben, wie Herr Henn auf inhaltliche Kritik reagieren würde, da ich genau diese faktenbasierte Auseinandersetzung im Corona-Geschehen seit über 18 Monaten vermisse. Wie würde nun ein Mitglied auf sachliche Kritik reagieren?

Im Prinzip reagierte Herr Henn gar nicht. Es kam eine weitere, kurze Antwortmail, die darauf verwies, dass der Sachverhalt zu komplex sei, um ihn jetzt schriftlich aufzudröseln. Außerdem seien die Intensivstationen in Südbayern voll mit ungeimpften teils jungen Covid-Patienten, so dass Herr Henn scheinbar keine Zeit für weitere Diskussionen habe.

Ich schrieb eine letzte Mail mit der Bitte um Klarheit bzgl. seiner Aussagen und fügte ein Diagramm zur Auslastung der Intensivstationen in Bayern an. Auf diesem ist zu sehen, dass es zum Zeitpunkt unseres Mailverkehrs keine signifikante Mehrbelegung der Intensivstationen gab. Was jedoch deutlich zu sehen ist, ist der rasante Abbau von Betten und das mitten in der Pandemie. (7)

https://www.intensivregister.de/#/aktuelle-lage/zeitreihen

Abschlussbetrachtung

Ich hätte mich sehr über eine Debatte mit Herrn Henn gefreut. Ich denke, es wären genau diese Debatten, wenn sie fair geführt werden, die unserer Gesellschaft Zusammenhalt und gegenseitige Achtung zurückgeben könnten. Mir ist es nicht möglich zu wissen, warum Herr Henn meine sachliche Kritik nicht beantwortet hat. Es gäbe die Möglichkeit, dass er in all dem Trubel wirklich nicht die Zeit hat, sich die von mir erwähnten Punkte anzuschauen. Das wäre aber bei der von ihm geäußerten Forderung nach Reisebeschränkungen für Ungeimpfte und dem Gewicht seiner Stimme als Mitglied des Ethikrates verantwortungslos. Schließlich beschreibt der Ethikrat sich selber auf seiner Webseite folgendermaßen:

Der Deutsche Ethikrat beschäftigt sich mit den großen Fragen des Lebens. Mit seinen Stellungnahmen und Empfehlungen gibt er Orientierung für die Gesellschaft und die Politik.“

Es kann auch sein, dass die von mir vorgebrachten Studien das Narrativ der Pandemie der Ungeimpften zu sehr in Frage stellen und deshalb ein innerer Widerstand entsteht, sich der Debatte zu öffnen. Das wäre verständlich, wäre aber ebenfalls sehr verantwortungslos, da es ein elementarer Teil wissenschaftlichen Arbeitens ist, sich auch neuen Fakten und Beweislagen zu öffnen. Der Ethikrat selber schreibt über seine Mitglieder:

„Die Ratsmitglieder sollen naturwissenschaftliche, medizinische, theologische, philosophische, ethische, soziale, ökonomische und rechtliche Belange in besonderer Weise repräsentieren sowie unterschiedliche ethische Ansätze und ein plurales Meinungsspektrum vertreten.“

Heute, am 2.12.2021 wurde der erste Lockdown für Ungeimpfte (8) in Deutschland verhängt und Herr Spahn hat bereits das 2G Modell für das ganze kommende Jahr, unabhängig von den Inzidenzen, vorgeschlagen.(9) Weitreichende, historische Einschränkungen für Millionen von ungeimpften Deutschen treten in Kraft und damit werden sie weiterhin zu einer Impfung genötigt. Wenn die Diskursfähigkeit auf Regierungsebene die gleiche ist, wie die von Herrn Henn beim Thema Reisebeschränkungen für Ungeimpfte, dann liegt hier ein geschlossenes und erkenntnisresistentes System vor. Es erscheint mir in hohem Maße unethisch, die Stigmatisierung einer großen Teilgruppe der Gesellschaft voranzutreiben, vor allem dann, wenn die Befürworter dessen nicht willens scheinen, ihre Thesen in Frage zu stellen. Das ist Rechthaberei und nicht Wissenschaft.

Erlauben Sie mir, Herr Henn, Ihnen einen Gedanken von Alberto Giubilini, Philosoph und wissenschaftlicher Mitarbeiter für praktische Ethik an der Oxford-Universität, vorzustellen. Er ist spezialisiert auf Ethik der öffentlichen Gesundheit und die Ethik im Bereich des Impfens. In seinem Artikel „Wie sähen ethische Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung aus und warum die Ethik genauso wichtig ist wie die Wissenschaft“, (9) äußert er folgenden Satz:

Die Ethik verlangt von uns, dass wir rationale Überlegungen anstellen und bereit sind, unsere Meinung zu ändern, wenn uns gut begründete Argumente vorgelegt werden. Aus diesem Grund wäre es am besten, wenn Politik und Ideologie von der ethischen Bewertung von Pandemiebekämpfungsmaßnahmen getrennt blieben. Die Menschen sind oft nicht bereit, ihre Meinung über politische und ideologische Fragen zu ändern, selbst wenn es rationale Gründe dafür gibt.“ https://www.ethikrat.org/

In diesem Sinne erinnere ich Sie daran, wie weitreichend Ihre Aussagen für den Umgang mit der aktuellen Situation sind. Damit einhergehend tragen Sie eine große Verantwortung und sind als öffentliche Person Vorbild für ethisches Handeln. Dazu muss heute mehr denn je zählen, Kritik ernst zu nehmen und das Gespräch mit Andersdenkenden aktiv zu suchen und zu führen.

Bon voyage!

Quellen:

(1) https://www.mdr.de/brisant/corona-ethikrat-impfgegner-notfallhilfe-verzichten-100.html

(2) https://rp-online.de/panorama/coronavirus/corona-zahlen-explodieren-ethik-experte-fordert-2g-regel-bei-reisen-innerhalb-der-eu_aid-64073147

(3) https://www.thelancet.com/journals/laninf/article/PIIS1473-3099(21)00648-4/fulltext

(4) Subramanian SV, Kumar A. Increases in COVID-19 are unrelated to levels of vaccination across 68 countries and 2947 counties in the United States. Europäische Zeitschrift für Epidemiologie. 2021:1-4.

(5) Voysey M, Clemens SAC, Madhi SA, Weckx LY, Folegatti PM, Aley PK, et al. Safety and efficacy of the ChAdOx1 nCoV-19 vaccine (AZD1222) against SARS-CoV-2: an interim analysis of four randomised controlled trials in Brazil, South Africa, and the UK. Lancet. 2021;397(10269):99-111.

(5) Shitrit P, Zuckerman NS, Mor O, Gottesman BS, Chowers M. Nosokomialer Ausbruch, verursacht durch die SARS-CoV-2 Delta-Variante in einer hochgeimpften Bevölkerung, Israel, Juli 2021. Euro Surveill. 2021;26(39).

(6) https://www.bitchute.com/video/jo02YnTLhllY/

(7) https://www.focus.de/politik/deutschland/vor-ministerpraesidentenkonferenz-beschlussvorlage-vor-corona-gipfel-knallhart-massnahmen-fuer-deutschland-geplant_id_24478563.html

(8) https://www.berliner-zeitung.de/news/spahn-2g-das-ganze-jahr-2022-denkbar-li.197426

(9) https://blog.bastian-barucker.de/ein-ethisch-vertretbarer-umgang-mit-corona/

+++Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.+++Bildquelle: Vadi Fuoco / Shutterstock.com+++Dieser Beitrag wurde vorab am 04.12.2021 auf den Seiten von Bastian Barucker veröffentlicht.


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