NATO 2020: Germans to the Front!

Von Wolfgang Effenberger.

Ende September 2020 skizzierte der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, in der FAZ die »anspruchsvollste Aufgabe der Bundeswehr«: Während Akteure mit globalen Interessen wie Russland und China den internationalen Frieden stören, sichere (!) die Bundeswehr mit Eurofightern den Luftraum über dem Baltikum.

Wörtlich schrieb er:

„Wir beteiligen uns wesentlich am zentralen Abschreckungsinstrument, der Nato-Speerspitze, die wir 2023 wieder anführen. Unsere Heeresbrigaden führen multinationale Verbände zur Unterstützung Litauens. Und unsere Marine ist in allen Nato-Einsatzverbänden in Mittelmeer, Nord- und Ostsee aktiv. … Durch unsere Lage mitten im europäischen Nato-Gebiet sind wir Drehscheibe alliierter Truppenbewegungen und rückwärtiger Operationsraum, damit aber auch potentielles Angriffsziel. Wir befinden uns nach wie vor in Reichweite konventioneller und nuklearer Waffen.“(1)

Ein Mann, der einmal geschworen hat, das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, erklärt dieses Land ungerührt zum Spielfeld eines Dritten Weltkriegs. Wenige Wochen zuvor übte die Bundeswehr mit Tornados des taktischen Luftwaffengeschwaders 33 bei der NATO-Übung »Steadfast Noon« die nukleare Teilhabe. Der Verband ist auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel stationiert, wo nach offiziell nicht bestätigten Angaben taktische US-Kernwaffen vom Typ B61 lagern. Weitere sind wohl in Italien, Belgien, der Türkei und den Niederlanden deponiert.(2)

Das Schreckensszenario eines Atomkriegs ist zurückgekehrt.

Am 25. November 2020 veröffentlichte eine 10-köpfige NATO-Expertengruppe das Dokument »NATO 2030: United for a New Era«.(3) Als Vorsitzende hatte Jens Stoltenberg den ehemaligen Verteidigungsministers Thomas de Maizière (66), der 2011 die deutsche Truppe in Afghanistan aufrüstete(4), sowie den ehemaligen US-Staatssekretär für europäische und eurasische (!) Angelegenheiten, Aaron Wess Mitchell (43), bestimmt.

Mitchell studierte u.a. an der »Edmund A. Walsh School of Foreign Service«, einer der führenden Schulen für internationale Beziehungen und Geopolitik an der Georgetown University in Washington, DC. Übereinstimmend wird im Bericht das aktuelle Strategische Konzept aus dem Jahr 2010 bemängelt, da es noch auf der Basis von halbwegs freundschaftlichen Beziehungen zu Russland und unter völliger Ausblendung Chinas verfasst worden sei.

Seit Dezember 2014 sind in der US-Langzeitstrategiestudie »TRADOC 525-3-1 Win in a Complex World 2020-2040«(5) die Aufgaben für die US-Streitkräfte formuliert (erstellt unter Barack Obama/Joe Biden): Sie sollen sich darauf vorbereiten, die von Russland und China ausgehende Gefahr zu beseitigen. Nun trägt die offizielle »NATO-Strategie 2030« dem Rechnung: „Die Welt der NATO wird in den nächsten 10 Jahren anders sein als die sowohl während des Kalten Krieges als auch in den Jahrzehnten unmittelbar danach gewohnte. Sie wird eine Welt konkurrierender Großmächte sein, in der aggressive autoritäre Staaten mit revisionistischen außenpolitischen Agenden darauf abzielen, ihre Macht und ihren Einfluss auszuweiten.“(6)

Das ist direkt an Russland und vor allem an China gerichtet: „Die NATO muss den von China ausgehenden Sicherheitsherausforderungen mehr Zeit, politische Ressourcen und Aktivitäten widmen.“ Dazu wird eine stärkere NATO-Präsenz insbesondere im Indo-Pazifik gefordert, um China verstärkt entgegenzutreten.(7) Die Indo-pazifische Region als neuer Aufgabenschwerpunkt der NATO! Auf den Inhalt der neuen NATO-Strategie ging Außenminister Heiko Maas in seinem SPIEGEL-Interview vom 4. Dezember 2020 ein.

Mit Blick auf die kommende Präsidentschaft von Joe Biden seien nach Maas die Europäer bereit, im Bündnis mit den USA Frieden, Demokratie und Menschenrechte zu garantieren. Dazu werde der europäische Pfeiler in der Nato weiter gestärkt und sicherheitspolitische Verantwortung übernommen – „vom Sahel über das Mittelmeer bis in den Nahen und Mittleren Osten“. Im Rückblick auf die letzten acht Jahre verstieg sich Maas zu einer Aussage, die an Selbstüberschätzung nichts zu wünschen lässt:

„Wir dürfen nicht noch einmal ein Vakuum lassen, wie etwa in Libyen oder Syrien, das dann von anderen gefüllt wird, von Russland oder der Türkei. Autokratischen Akteuren dürfen wir keine Räume mehr für ihre Spielchen bieten“(8).

Dafür aber den demokratischen Akteuren der freien Welt und Verteidigern der westlichen Werteordnung. Sie haben nur 27 Tage nach 9/11 Afghanistan mit Krieg überzogen, obwohl eine Beteiligung Afghanistans bis heute nicht nachgewiesen werden konnte. Und noch immer verlängert der Bundestag das Mandat für Afghanistan. Seit dem 12. September 2001 befindet sich die westliche Wertegemeinschaft im »Krieg gegen den Terror«. Schon Ende September hatte das Pentagon die Zerstörung der Länder Irak, Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, Sudan & Iran beschlossen.(9)

Es fehlt nur noch der Iran. Russland hat sich erst 2014 in Syrien engagiert. Wie kann ein deutscher Außenminister die Tatsachen derart verdrehen und dann noch versprechen, im Bündnis mit den USA Frieden, Demokratie und Menschenrechte zu garantieren?

Einen klaren Blick hat sich dagegen der ehemalige stellvertretender Finanzminister während der Regierung Reagan und heutige Publizist Paul Craig Roberts (geb. 1939) bewahrt. Anlässlich des Brexit-Votums schrieb er, die EU und die NATO seien „bösartige Institutionen“ (evil institutions), die von den USA kreiert wurden, „um die Souveränität der europäischen Völker zu zerstören. NATO und EU ermöglichen Washington die Kontrolle über die westliche Welt. Unter dieser Tarnung wird Washingtons Aggression erst möglich. Ohne EU und NATO kann Washington Europa und das Vereinigte Königreich nicht in einen Konflikt mit Russland zwingen. Ohne EU und NATO hätte Washington in den letzten 15 Jahren nicht sieben muslimische Länder zerstören können, ohne als Kriegsverbrecher gehasst und isoliert zu werden.“(10)

Unbestreitbar haben EU/NATO auch in Libyen und Syrien ihre völkerrechtswidrigen Spielchen gespielt.

In einem aufrüttelnden Brief wandten sich im Oktober 2020 ehemalige Top-Gewerkschaftler mit Funktionen in den großen Einzelgewerkschaften, im Journalismus im Arbeitsrecht oder auf Unternehmensebene als Betriebsräte und Aufsichtsräte, an den SPD-Außenminister. Sie stellten erschüttert fest, dass seit dem vermeintlichen Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus eine kontinuierliche Abkehr der herrschenden Politik, von den Grundwerten einer sozialen Demokratie, wie sie das Grundsatzprogramm der SPD ziert, zu beobachten ist. Dabei sei das zentrale Anliegen des Grundsatzprogramms auf die Friedenspolitik gerichtet: Eine Friedenspolitik, die ohne Waffengewalt, ohne Androhung von Waffengewalt, ohne irrwitzige Aufrüstung, ohne Vorbereitung von Angriffskriegen und ohne Strafmaßnahmen für große Bevölkerungsgruppen anderer, teils ferner Länder, auskommt.

Sie werfen Maas vor, dass er als Vertreter der Regierungspolitik der GroKo allerdings offensichtlich einen anderen Weg für uns gewählt hat und Maas eine Politik des »Wandels durch Provokation und Konfrontation« betreibt:

Neben der Stationierung von Kampftruppen der Bundeswehr unmittelbar an der russischen Grenze, der andauernden Stationierung von Nuklearwaffen auf bundesdeutschem Gebiet, der Unterstützung des US-Drohnenkrieges mit unzähligen ermordeten Unschuldigen, verfolgen Sie damit aktiv die Ziele kapitalistisch geostrategischer Interessen. Sie erhöhen die Kriegsgefahr und machen mit ihrer Handlungsweise Deutschland zum Frontstaat und Mitteleuropa zur Hauptkampfzone. Die Kriegsvorbereitungen der USA unterstützen sie durch die Rechtfertigung horrender Investitionen in kriegsvorbereitende Infrastruktur, wie z.B. Kampfführungsanlagen am Niederrhein und Hauptquartiere nicht NATO zugehöriger Verbände z.B. in Stuttgart, obwohl das sozialdemokratische Versprechen lautet, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen solle“.

Weiter wird Maas vorgeworfen, dass er sich aktiv an sog. Regime-Changes, wie in Venezuela, Hongkong, Syrien, Belarus, Jemen beteiligt und sich vom Chaos und dem damit verbundenen Leid der unschuldigen Bevölkerung unberührt zeigt:

„Ihre Nähe zu dem umstrittenen brasilianischen Präsidenten Bolsonaro empört, angesichts des Schicksals des Gewerkschafters und früheren Präsidenten Lula da Silva, jeden demokratisch aufrichtigen Menschen. Zusammenfassend stellen wir fest, dass Ihr Wirken als deutscher Außenminister dem Zusammenhalt der hiesigen Gesellschaft weder dienlich, noch dem Wohlergehen der abhängig Beschäftigten, dem wir alle jahrzehntelang gedient haben, zuträglich ist.“

Der Brief endet mit der Forderung, „entweder aktiv friedenspolitisch sinnvolle Politik zu betreiben, oder dieses Amt aufzugeben“(11). Die Forderungen der ehemaligen Gewerkschaftler decken sich mit den Ergebnissen einer Studie des »Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften« der Bundeswehr zum Sicherheits- und verteidigungspolitischen Meinungsbild in der Bundesrepublik vom Dezember 2019.(12)

Nach dieser Studie sind die Bundesbürger hinsichtlich ihrer außenpolitischen Grundorientierungen als anti-militaristisch, anti-atlantizistisch und multilateralistisch zu charakterisieren, d.h. sie glauben nicht an militärische Gewalt als effektives oder moralisch angemessenes Mittel der Außenpolitik, sprechen sich eindeutig für eine Zusammenarbeit mit befreundeten Staaten und Bündnispartnern aus und wünschen sich eine außenpolitische Emanzipation von den USA. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger spricht sich außerdem für die parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte aus und unterstützt den Parlamentsvorbehalt des Deutschen Bundestags bei der Entsendung der Bundeswehr.

Nach dem vom Westen inszenierten Staatsstreich in der Ukraine finden seit 2015 in Osteuropa umfangreiche Militärmanöver statt, samt Dislozierung von umfangreichen Rüstungsgütern in Polen und im Baltikum. Diese Kriegsvorbereitungen werden in der Öffentlichkeit weitgehend ausgeblendet. Die deutsche Bevölkerung wähnt sich in friedlichem Fahrwasser gemäß den Beteuerungen westlicher Politiker, und die Medien beschäftigen sich weit mehr mit Genderfragen oder Rentenerhöhungen als mit der drohenden Kriegsgefahr. Das verbale NATO-Säbelrasseln geht im allgemeinen tagespolitischen Gerede unter. Wenn wir nicht bald aufwachen, werden uns die Kriegstrommeln wecken.

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Quellen und Anmerkungen:

  1. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/generalinspekteur-zorn-fuer-praesente-bundeswehr-im-alltag-16977307.html
  2. https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/geheime-buendnisuebung-steadfast-noon-bundeswehr-trainiert-mit-nato-partnern-verteidigung-mit-atomwaffen/25129772.html?ticket=ST-11243900-cdgxUIelOTp55yLxQsvS-ap6
  3. https://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/2020/12/pdf/201201-Reflection-Group-Final-Report-Uni.pdf
  4. https://www.wiwo.de/politik/deutschland/bundeswehr-thomas-de-maiziere-ruestet-afghanistan-truppe-auf/5761794.html
  5. Wolfgang Effenberger: US-Verteidigungsministerium und dessen Vision künftiger bewaffneter Konflikte „Win in a Complex World“ in NRhZ vom 29.10.2014 unter 
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=20915
  6. https://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/2020/12/pdf/201201-Reflection-Group-Final-Report-Uni.pdf
  7. Jürgen Wagner: Konfrontation und kaum Verständigung – Die NATO auf Abwegen? vom 3. Dezember 2020 unter https://www.darmstaedter-signal.de/meldungen/konfrontation-und-kaum-verstaendigung-die-nato-auf-abwegen
  8. Heiko Maas im SPIEGEL-Interview am 4. Dezember 2020: „Darauf haben wir lange gewartet“ unter https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/maas-spiegel/2423634
  9. Amy Goodman and Wesley Clark Interview: https://youtu.be/JOtbNC4oJ54
  10. Paul Craig Roberts: The Brexit Vote – What Does it Mean? Friday June 24, 2016 http://www.paulcraigroberts.org/2016/06/24/the-brexit-vote-paul-craig-roberts/
  11. Brief im Wortlaut abgedruckt in Wolfgang Effenberger: Schwarzbuch EU & NATO Warum die Welt keinen Frieden findet. Höhr-Grenzhausen 2020, S. 551-554
  12. Forschungsstudie 120: Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsbild in der Bundesrepublik Deutschland Ergebnisse und Analysen der Bevölkerungsbefragung 2019 unter https://opus4.kobv.de/opus4-zmsbw/frontdoor/index/index/searchtype/series/id/3/docId/466/start/4/rows/10

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Die Bücher „Wiederkehr der Hasardeure“ und „Europas Verhängnis 14/18“ von Wolfgang Effenberger werden in diesem Zusammenhang empfohlen.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle:     Alexandros Michailidis/ shutterstock

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