Mörder in Uniform? – Wie der Staat Polizisten deckt

Der Asylbewerber Oury Jalloh verbrannte 2005 in einer Dessauer Polizeizelle binnen 20 Minuten bis zur Unkenntlichkeit. Aufgeklärt wurde bis heute nichts. Stattdessen verschwanden wie am Fließband Beweismittel, offensichtlich manipulierte kamen hinzu. Trotzdem sind die Akten voll von Indizien, die auf Misshandlungen und einen anschließenden Verdeckungsmord hindeuten. Nun bestätigten auch acht Gutachter der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau: Der Gefesselte wurde getötet. Als Täter kommt eine Handvoll Polizisten in Betracht. Die Reaktion: Mit einem Trick lässt die Justiz in Sachsen-Anhalt das Verfahren einstellen – offenbar auf Anweisung von oben.

Die Autorin des nachfolgenden Textes, Susan Bonath, recherchiert seit 2011 im Fall Oury Jalloh. Sie verfolgte einen Gerichtsprozess, las Tausende Seiten Ermittlungsakten, traf sich mit Insidern und Hinweisgebern. 

Abgewiesen vom Generalbundesanwalt

Ein Jahr lang geheimgehaltene Versuchsergebnisse, der Abzug der Ermittlungen nach Halle, dann die plötzliche Einstellung des Verfahrens: Das jüngste Prozedere im Fall Oury Jalloh säte zurecht Zweifel. Letzte Woche im Rechtsausschuss des Magdeburger Landtages kam nun ein neuer Skandal an Licht. Befragt von den Parlamentariern, redeten sich Sachsen-Anhalts Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad und die Leitende Oberstaatsanwältin Heike Geyer aus Halle um Kopf und Kragen.

So räumte Konrad auf mehrfaches Nachhaken der Linke-Abgeordneten Henriette Quade ein: Selbst die Dessauer Staatsanwälte, die bis dahin zwölf Jahre lang ins Leere ermittelt hatten, kamen nicht mehr umhin, ihre Selbstmordhypothese ad acta zu legen. Gemeinsam mit acht Gutachtern schlossen sie aus, dass Jalloh das Feuer in der Kellerzelle selbst gelegt haben kann.

Bereits im April schalteten sie deshalb den Generalbundesanwalt in Karlsruhe ein. Es bestehe ein Anfangsverdacht wegen Mordes gegen bestimmte Polizeibeamte aus Dessau. Doch die Bundesanwaltschaft lehnte das Gesuch, die Ermittlungen zu übernehmen, ab. Im Mai schickte sie die Akten nach Sachsen-Anhalt zurück. Generalstaatsanwalt  Konrad zog das Verfahren umgehend aus Dessau ab, die Behörde in Halle übernahm es im Juni. Nur vier Monate später stellte diese die Ermittlungen ein. Ihre Begründung steht der aus Dessau komplett entgegen: Es gebe weiterhin keinen Anhalt für die Beteiligung Dritter, behauptete sie.

Tatverdächtige bleiben unbehelligt

Mehr noch: Die Staatsanwaltschaft benannte in ihrem Schreiben an den Generalbundesanwalt sogar mehrere tatverdächtige Polizisten ganz konkret. Auch das gab Konrad auf nachdrückliche Fragen zu. Allerdings redete er sich heraus: Die Beamten seien gar nicht wirklich tatverdächtig. »Es mussten aber zwei, drei Namen genannt werden, um überhaupt nach Karlsruhe zu kommen«, so Konrad. Ein Verfahren gegen Unbekannt ziehe der Generalbundesanwalt nämlich nicht an sich.

Die Rechtsanwältin des in Guinea lebenden Vaters des Opfers, Beate Böhler, hält diese Erklärung für »juristischen Unsinn«. »Wenn ein Staatsanwalt Personen als tatverdächtig angibt, die er gar nicht dafür hält, wäre das eine Falschbeschuldigung«, sagte sie der Autorin. In den Akten, die sie wenige Tage zuvor auf Antrag zur Einsicht erhalten habe, seien die Namen leider geschwärzt, erklärte sie. Sie werde verlangen, diese herauszugeben. »Nebenklageberechtigte haben das Recht, zu erfahren, wenn es Beschuldigte gibt und wer das ist«, so Böhler.

Aber, so beteuerte Oberstaatsanwältin Geyer aus Halle, ihre Behörde sei nun einmal zu einer anderen Einschätzung gekommen. In knapp drei Monaten – das begründete Einstellungsersuchen  landete schon am 30. August in den Akten – wollen zwei Kollegen sechs Umzugskartons voller Akten gesichtet haben. Alleine aufgrund es Umfangs scheint das unmöglich. Auf eine Anfrage der Autorin, ob sie in dieser kurzen Zeit wirklich alle Akten gelesen habe, antwortete Geyer: »Sie erwarten hoffentlich nicht ernsthaft, dass ich Ihnen auf eine derart unsachliche Anfrage Auskünfte erteile.«

Im Ausschuss betonten Geyer und Konrad erneut, dass alle Gutachter der Staatsanwaltschaft Halle »zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen« gekommen seien. Ihre Ergebnisse bewiesen weder eine Selbstanzündung noch einen Mord. Es gebe schlicht keine Möglichkeit, Täter zu ermitteln.

Acht Gutachter einig: Feuer von Polizisten gelegt

»Auch das ist Quatsch«, konstatierte Anwältin Böhler daraufhin. Ein Blick in die Akten offenbart: Eindeutig kamen die acht Experten – Toxikologen, Gerichtsmediziner und Brandsachverständige – zu dem Schluss: Oury Jalloh war vor Brandausbruch tot oder bewusstlos. Ansonsten hätte man bei ihm einen erhöhten Noradrenalinwert nachweisen müssen. Das Stresshormon bildet sich schon bei geringer Aufregung umgehend.

Fehlendes Kohlenmonoxid im Blut beweise zudem, dass Jalloh keinen Rauch eingeatmet haben kann. Außerdem, so die Experten, sei mindestens eine kleine Menge Brandbeschleuniger im Spiel gewesen. Einen solchen könne der Geschädigte nicht bei sich gehabt haben, heißt es. Und: Das angebliche Selbstmordfeuerzeug war wohl nie am Tatort.

Die Sache mit dem Feuerzeug ist ein Fall für sich: Nachweislich hatte es die Tatortgruppe des LKA Sachsen-Anhalt nicht vor Ort im Brandschutt gefunden. Laut Polizei entdeckten Ermittler das verschmorte Utensil drei Tage später in einer Brandschutttüte. Ordentlich dokumentiert wurde das aber nicht. Sieben Jahre später, 2012, fand die Gerichtsgutachterin Jana Schmechtig heraus: Es sind zwar allerlei Textilfasern darin eingeschmolzen. Nur stammen keine dieser Überreste vom Tatort, weder von der feuerfest umhüllten Matratze, noch von der Bekleidung des Toten. Erst dieser Umstand hatte die neuen Ermittlungen ausgelöst.

Erst misshandelt, dann verbrannt?

Die eindeutigen rechtsmedizinischen Befunde, wonach das Opfer vorher tot oder bewusstlos war, liegen schon seit Jahren vor. Bereits im Frühjahr 2005 hatte eine zweite Obduktion in Frankfurt am Main, finanziert durch Unterstützer der Angehörigen, offenbart, dass Oury Jalloh vor seinem Tod möglicherweise schwer misshandelt worden war.

So ergab die Röntgenuntersuchung der Leiche, welche die Staatsanwaltschaft zuvor verhindert hatte: Das Nasenbein und die Siebbeinplatte des Toten waren gebrochen, die Trommelfelle gerissen. Weil die Mediziner postmortale Verletzungen durch eventuellen unsachgemäßen Umgang mit der Leiche nicht 100prozentig ausschließen konnten, gingen die Ermittler dem nie nach.

Zum Beweis, dass Jalloh noch gelebt haben müsse beim Ausbruch des Brandes, führten die Staatsanwälte ihren eigenen Obduktionsbericht aus Halle an. Demnach habe man dort geringe Rußspuren im Magen und der Luftröhre gefunden. Das steht auf dem Papier, weiter geprüft wurde es nie. Ein angebliches Foto der Luftröhre des Opfers entlarvte der Sachverständige Iain Peck 2015 als Fake. Tatsächlich stelle dieses eine Speiseröhre dar, so Peck. Um herauszufinden, ob der Mann tatsächlich noch lebte, als das Feuer ausbrach, müsse man, so Anwältin Böhler, die Asservate neu checken.

Genau das wollen sie und ihre Kollegin Gabriele Heinecke in der Berliner Charité in Auftrag geben. Doch anderthalb Jahre lang habe die Justiz ihren Antrag darauf ignoriert. Später habe Oberstaatsanwältin Geyer aus Halle ihnen mitgeteilt, es gebe keine Asservate. Im Ausschuss behauptete sie hingegen, sie wisse gar nicht, wo diesse seien. Ihre Aufgabe sei es nicht gewesen, weiterführend zu ermitteln. Sie habe nur Akten prüfen müssen, so Geyer. Die Linke-Abgeordnete Quade will nun, ebenso wie die Anwältinnen, eine klare Antwort: Gibt es noch Asservate oder wurden diese vernichtet? Um ein Ja oder Nein zu bekommen, werde sie eine Anfrage stellen, so Quade.

Die Lüge der Polizistin Beate H.

Von Anfang an ließ die Polizei im Fall Jalloh zahlreiche Beweismittel verschwinden. Es fehlten Polizeijournale, Dienstpläne, Kaufbelege für Matratzen, ein Fahrtenbuch. Eine Handfessel entsorgte der Hausmeister »auf Anweisung von oben« im Müll. Das Tatortvideo bricht nach vier Minuten ab. Ein als Grund behaupteter Stromausfall entpuppte sich als Lüge. Auch vor Gericht logen Polizisten das Blaue vom Himmel herunter. Das konstatierte der Dessauer Richter Manfred Steinhoff 2008 in aller Öffentlichkeit.

Wurden diese Lügen je verfolgt?, wollte Quade in Magdeburg wissen. Konrad sprach von sieben Ermittlungsverfahren, die man darum eingeleitet habe. »Sie mussten aber eingestellt werden, weil wir nicht herausfinden konnten, wer die Wahrheit gesagt hat und wer nicht«, so der Generalstaatsanwalt.

Ganz bei der Wahrheit blieb er dabei nicht. In mindestens einem Fall ist klar, wer gelogen hat. So sagte die Beamtin Beate H. bereits am Tattag und Jahre später vor Gericht aus, Oury Jalloh habe noch um Hilfe gerufen, als ihr Vorgesetzter Andreas S. und ihr Kollege Gerhard M. auf dem Weg in die brennende Zelle gewesen waren. Das habe die damals stellvertretende Dienstgruppenleiterin H. über die Sprechanlage vernommen, die den Zellentrakt und ihren Dienstraum miteinander verband und die zu überwachen ihre Aufgabe gewesen war. Danach müsste Jalloh etwa sieben Minuten nach Anschlagen des Rauchmelders noch »Feuer, mach mich los« gerufen haben. Doch zu diesem Zeitpunkt, so sind sich alle Mediziner einig, war das Opfer längst tot. Verfolgt wurde diese Falschaussage nie. Dabei könnten die Beweggründe Aufschluss darüber geben, was H. tatsächlich von den tatsächlichen Vorgängen weiß.

Weitere ungeklärte Todesfälle im Dessauer Revier

Ebenso brisant ist, dass Oury Jalloh nicht der einzige Gefangene war, der im Dessauer Polizeigewahrsam auf ungeklärte Weise ums Leben kam. Nur gut zwei Jahre zuvor, am 30. Oktober 2002, wurde der damals ebenfalls 36jährige Mario Bichtemann in derselben Zelle wie Jalloh tot aufgefunden. Untersucht hatte ihn zuvor derselbe Arzt, Andreas B. Im Amt war auch derselbe Dienstgruppenleiter, Andreas S.

Auf dem Totenschein Bichtemanns, tags zuvor als »hilflose Person« eingesperrt, konstatiert der Arzt einen Schädelbasisbruch als Ursache. Der und zahlreiche Hämatome entstanden demnach durch stumpfe Gewalteinwirkung. Als Beamte den Toten in der Zelle Nummer fünf im Keller des Reviers entdeckten, war die Leichenstarre bereits voll ausgeprägt. Gewöhnlich ist diese frühestens nach drei, vier Stunden der Fall. Doch  ein Verfahren zum Fall Bichtemann stellte die Staatsanwaltschaft alsbald ein. Interne Ermittlungen beendete die Polizei nach dem Feuertod von Jalloh. Sie habe den Dienstgruppenleiter nicht zu sehr belasten wollen.

Hans-Jürgen Rose hatte im Dezember 1997 zwar noch lebend das Dessauer Polizeirevier verlassen. Doch wenige Meter später brach der Mann zusammen. Laut Medizinern verstarb Rose an schweren inneren Verletzungen. Es gab Gerüchte, dass Polizeibeamte den Mann an eine Säule gefesselt und schwer verprügelt hätten. Tatsächlich fanden Kriminalisten an einer solchen allerlei Spuren des Opfers. Just die Ermittlungen führten ins Leere. Der oder die Täter wurden nie gefasst.

Justiz baut auf öffentliches Desinteresse

Offensichtlich bauen die Behörden in Sachsen-Anhalt, einschließlich der Ministerien für Justiz und Inneres, auf öffentliches Desinteresse. Es geht wohl vor allem darum, Schaden vom Ansehen des Landes Sachsen-Anhalt abzuwenden, und natürlich auch jede Mengen Konsequenzen.

So werfen etwa Kommentatoren unter Artikeln, die freilich die brisanten Akten nicht kennen, mit dem Schlagwort »Verschwörungstheorie« um sich. Die Polizei zünde auf keinen Fall einfach Menschen an, so ihr Weltbild. Viele, zuletzt auch die AfD im Magdeburger Landtag, rechtfertigen die Vorgänge damit, dass es sich schließlich um einen vorbestraften Afrikaner handele.

Tatsächlich wurde Oury Jalloh zuvor mehrfach mit Drogen erwischt. Es lief ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz gegen ihn. Am Morgen der Festnahme war er betrunken aus einer Diskothek gekommen. Weil er sich nicht in der Lage fühlte, alleine zu seiner Unterkunft zu gelangen, wollte er Hilfe holen.

So sprach Jalloh Ein-Euro-Jobberinnen an, die für die Stadt Dessau Grünanlagen pflegten. Er fragte sie, ob er mit ihrem Handy telefonieren dürfe. Die Frauen fühlten sich bedrängt, riefen die Polizei. Als die Beamten Hans-Ulrich M. und Udo S. eintrafen, habe Jalloh weit abseits gestanden, sich aber dagegen gewehrt, seine Papiere zu zeigen. M. und S. nahmen ihn mit, sperrten ihn in die 2,35 mal 4,5 Meter kleine, bis zur Decke geflieste Zelle und ketteten ihn an Händen und Füßen auf einer feuerfest umhüllten Matratze an.

Es waren übrigens diese beiden Streifenpolizisten, die der Zeuge Torsten B. etwa 20 Minuten vor dem Anschlagen des Alarms bei einer undokumentierten Zellenkontrolle gesehen hatte. Jalloh habe dabei still und bewegungslos mit herausgestülpten Hosentaschen dagelegen. Hans-Ulrich M. und Udo S. hätten erklärt, den Gefangenen noch einmal zu durchsuchen.

Dass strafbares oder ordnungswidriges Verhalten kein Grund für Polizeibeamte sein darf, einen Menschen zu misshandeln und anzuzünden, sollte indes selbstverständlich sein. Ebenso haben, zumindest nach dem Gesetz, Angehörige das Recht auf umfassende Aufklärung. Das ist definitiv weder im Fall Jalloh, noch in den Fällen Rose und Bichtemann geschehen. Am Ende bleiben mutmaßliche Mörder in Uniform frei. Sie dürfen weiterhin ungestört »Freund und Helfer« spielen – geschützt von ganz oben.

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