Ein Standpunkt von Jochen Mitschka.
Die Geschichte der Migration ist so alt wie die Geschichte der Menschheit. Im Prinzip ist die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Migration. Völker gingen unter, wurden vernichtet, andere verteilten sich oder vermischten sich. Mit der so genannten "Zivilisation" und nationalen Grenzen wurden solche Vernichtungen und Verdrängungen immer heftiger. Aber heute haben wir eine Stufe erreicht, die durch Cyberspace und Globalisierung nationale Grenzen scheinbar unnötig macht. Um die heutigen Probleme zu verstehen, sollte man aber nicht oberflächlich urteilen, sondern sich trotz dieser scheinbaren "Globalisierung" mit den Hintergründen und der Geschichte beschäftigen, um aus der Vergangenheit zu lernen. Das will ich in einer folgenden Serie tun. Wir schauen zunächst in die Geschichte der Migration und Definitionen.
Nationen, die Voraussetzung für "Migration"
Ernest Renan war schon 1882 der Meinung, dass das Prinzip einer Nation eher auf private, persönliche Neigungen zurückzuführen sei, als auf öffentlichen Empfindungen. In seiner berühmten Vorlesung "Was ist eine Nation?" präzisierte er:
"Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip [...]. Der Mensch ist Sklave seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Religion oder des Verlaufs der Flüsse nicht; ein großes Menschenkollektiv, gesund im Geist und warm im Herzen, findet immer Mittel, sich zu verstehen."(1)
Diese subjektive, gefühlsbasierte Definition war revolutionär und beeinflusste später auch Denker wie Benedict Anderson 1983, der Nationen als "imaginierte Gemeinschaften" sah, die auf geteilten, aber individuell wahrgenommenen Erzählungen beruhen.
Wie so viele Ideen waren es aber ursprünglich die Ideen wohlhabender Menschen, welche Grenzen und Entfernungen überwinden konnten, während die Massen gar nicht in der Lage waren, zu dieser Zeit größere Strecken außerhalb von kriegerischen Bewegungen zurückzulegen. Es waren die Ideen von Menschen, welche nicht darauf angewiesen waren, von dem zu leben, was ihr Land ihnen schenkte. Einfache Menschen kannten nur die eigene Scholle, und verteidigten sie, wenn sie die Möglichkeit dazu hatten, gegen Eindringlinge. Sie kannten gar nicht "die Welt", wie jene Denker in den Bistros von Paris, oder den Cafés von Wien.
Die rasanten Fortschritte in der Informationstechnologie, wie sie insbesondere durch Mobiltelefone mit Internetzugang realisiert wurden, ermöglichen es heute den meisten Menschen, die Welt jenseits ihrer Grenzen täglich virtuell zu besuchen. Selbst für diejenigen, die durch einen Zufall des Schicksals in einem gefährlichen, verarmten Land geboren wurden, ist die Welt jenseits der Grenze nicht unbekannt, mit dessen Werbung für Konsum, dem Protzen mit Reichtum, Einfluss, militärischer Macht. Ja sie können täglich mit denen kommunizieren, welche aus dem eigenen Bekanntenkreis in diesem Umfeld leben.
Es gab eine Zeit, bevor die USA, angesichts des drohenden Verlustes des Hegemonieanspruchs, ihren Sanktions-Amoklauf begannen, da wurde kolportiert, dass Grenzen keine Rolle mehr spielen würden, weil transnationale Lieferketten innerhalb von Konzernen entstanden, der Globalismus Geld in Sekunden rund um die Welt schickte. Aber allerspätestens seit der durch den US-Präsidenten Donald Trump begonnenen Wirtschaftskriege mit Hilfe von Sanktionen und Zolltarifen stellen sich viele Menschen die Frage, ob diese Annahme wirklich die Realität ist. Aber dazu später mehr.
Gehen wir zunächst zurück ins 20. Jahrhundert. Warum gab es damals das stetige Wachstum der Zahl von Nationalstaaten, wenn große Denker dieser Zeit schon damals der Meinung waren, Nationalstaaten seien obsolet? Als nach dem Ersten Weltkrieg der Völkerbund gegründet wurde, gab es lediglich 40 Mitgliedsstaaten. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Vereinten Nationen gegründet wurden, war die Zahl der Gründungsmitglieder auf 51 Staaten angewachsen. Danach folgte die antikoloniale Bewegung, wodurch, vor allem aus Afrika und Asien, neue Nationalstaaten und Mitglieder entstanden. Aber das Wachstum staatlicher Grenzen wurde noch größer nach dem Kalten Krieg, als sich viele neue Staaten, vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion, abtrennten und unabhängig wurden. Folglich gab es im Jahr 2018 196 Staaten, die UN-Mitglieder waren, was einer Vervierfachung der Zahl innerhalb von 100 Jahren war. Aber damit nicht genug, gibt es auch noch 10 Länder oder sogar noch mehr, als "nicht anerkannte Staaten", die de facto unabhängig sind, aber von der internationalen Gemeinschaft nicht offiziell anerkannt werden. Im Zuge der Sezession und Unabhängigkeit wurden zahlreiche nationale Befreiungskriege geführt und unzählige Menschen ums Leben gebracht. Menschen brachten unglaubliche Opfer für die politische Unabhängigkeit einer Gruppe, der sie sich zugehörig fühlten. Was war schief gegangen?
Waren damit die großen alten Denker widerlegt worden? Die Behauptung, dass die fortschreitende Globalisierung die Grenzen bedeutungslos gemacht habe, überzeugt auch nicht mehr. Wenn wir in langen Schlangen warten, um die Fragen der unausgeschlafenen und manchmal unfreundlichen Einwanderungsbeamten an Flughäfen in anderen Kontinenten zu beantworten, oder wenn wir lästigen Papierkram bei einer Bank ausfüllen müssen, nur um ein bisschen Geld ins Ausland zu schicken – in jedem Fall lernen wir, dass Grenzen auch und gerade im 21. Jahrhundert sehr effektiv existieren. Zumindest wenn man seinen Pass nicht wegwirft und "Asyl" in Deutschland ruft.
Seit der Auflösung der Sowjetunion wurden die Grenzen nicht weniger, sondern mehr, und die Eisernen Vorhänge dank Sanktionen und Wirtschaftskrieg noch dichter als sie jemals waren. Also nimmt wohl der größte Teil der Welt Grenzen noch sehr ernst! Und es gibt sogar immer mehr Länder, welche starke Grenzzäune, Mauern, Barrieren, ja sogar Minengürtel anlegen, um ihre Grenzen zu schützen.
Mauern und Grenzen
Wir sehen, seit der Chinesischen Mauer, welche ihre Ursprünge im 7. Jahrhundert vor Christus hat und schon zur Zeit der Kaltwaffen durch Bestechung, Schwachstellen und Verrat des Öfteren überwunden worden war, gab es viele Nachahmer. Schließlich waren da die Römer mit dem Limes, das sich über tausende Kilometer von Britannien bis zum Nahen Osten erstreckte, aber den Niedergang der Weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert doch nicht aufhielt. Auch die Mauer, welche Deutschland nach dem 2. Weltkrieg teilte, war irgendwann ziemlich plötzlich und spurlos verschwunden, nicht einmal wollte man sie in größeren Teilen als Denkmal stehen lassen. Was meiner Meinung nach ein großer Fehler ist, weil nichts so sehr Geschichte verstehen lehrt, wie die haptische Berührung mit derselben.
Aber kehren wir zurück in die Geschichte der Migration. Wir sollten verstehen, dass die Bewegung von Menschen über Grenzen hinweg nicht ein spezifisch modernes Phänomen ist, und dass sie schon immer Probleme erzeugte. Oft für die indigenen Völker, welche in den Gebieten lebten, in welche die Migration stattfand. Schauen wir zurück. Die Vorfahren des modernen Menschen lassen sich alle bis nach Afrika zurückverfolgen. In diesem Sinne haben wir uns alle von dort aus bewegt.(3)
Seit es Geschichtsschreibung gibt, kann man von großräumigen Bevölkerungsbewegungen lesen, aber natürlich gab es sie auch schon davor. Die Völkerwanderungen germanischer Stämme setzten das Römische Reich stark unter Druck und führten in der Folge zu großen historischen Veränderungen: dem Zerfall des Weströmischen Reiches und der Entwicklung der mittelalterlichen Ordnung. Kultur, Wissenschaft, Technik, schienen sich zurück zu entwickeln, wären sie nicht im Osten, in Byzanz und durch den Islam bewahrt worden. Während der Westen degenerierte.
Aufeinanderfolgende chinesische Reiche gerieten immer wieder unter Druck durch Angriffe nördlicher Nomaden, doch da die Menschen, die aus dem Norden nach China kamen, kulturell weitgehend sinisiert wurden, hat China bis heute eine überraschende historische Kontinuität bewahrt. Was übrigens auch für Deutschland eine große Lehre sein könnte, aber dazu später mehr. Nach der Periode, die gemeinhin als Zeitalter der Entdeckungen bezeichnet wird und im 16. Jahrhundert begann, breitete sich Europa weltweit aus, mit einer großen Anzahl seiner Einwohner, die in viele Teile der Welt auswanderten.
Vor allem viele Europäer gingen in die nord- und südamerikanischen Kontinente, aber auch viele Menschen wurden vom afrikanischen Kontinent als Sklaven zwangsumgesiedelt. Letztlich war auch der Sklavenhandel eine Form der Migration, eine jener, die erzwungen wurden. Die indigenen Völker, die in diesen Gebieten lebten, wurden von den neuen Bewohnern an den Rand gedrängt und ihre Zivilisationen zerstört. Erstaunlich wenig bekannt sind die Geschichten über die Entbehrungen der indigenen Völker an Orten wie Hawaii und Tahiti, die sich viele Menschen als tropische Paradiese vorstellen.(4) Der Einfluss europäischer "Kultur" war verheerend.
Die Bewegung von Menschen, ein Phänomen, das so alt ist wie die Menschheitsgeschichte, hat uns viele Geschichten zu erzählen: von den Abenteuern der Pioniere, die ihr Schicksal in neuen Ländern suchen, von den Nöten der Menschen, die durch Armut und Gewalt gezwungen sind, zu flüchten und ihre geliebte Heimat hinter sich zu lassen, und von apokalyptischen Katastrophen, die über Menschen hereinbrachen, deren Zivilisation und Lebensweise durch eine große Anzahl von Einwanderern zerstört wurden.
Verglichen mit diesem Phänomen der Bewegung von Menschen hat das System souveräner Staaten, die sich gegenseitig die definierte territoriale Souveränität des anderen anerkennen, eine viel kürzere Geschichte. Aber heute bedingt das System von Nationalstaaten die moderne Form der Migration.
Das System souveräner Staaten, wie wir es heute kennen, entstand in Europa ungefähr im 17. Jahrhundert. Maßgeblich war das Ende des Dreißigjährigen Krieges und der Abschluss des Westfälischen Friedens im Jahr 1648. Dieser Friede etablierte Prinzipien wie die Souveränität der Staaten (innere und äußere Unabhängigkeit), die Gleichheit der Staaten unabhängig von ihrer Macht und das Recht auf eigenständige Außenpolitik – Grundlagen des sogenannten "Westfälischen Systems". Es markierte den Übergang von einer universalistischen, kirchlich geprägten Ordnung zu einem dezentralen System souveräner Territorien, das bis heute Einfluss auf das Völkerrecht hat.(5) Aber dieses Staatssystem war kein eigentlicher Nationalismus, wie er erst im 19. Jahrhundert entstand.
Der Nationalismus
Nationalismus wurde dann später zum vorherrschenden Gedanken, und er besagte, dass ein Nationalstaat aus einer einzigen Nation von Menschen bestehen sollte, die eine gemeinsame Identität teilen. Die Wurzeln mögen früher liegen, aber diese Idee wurde durch die Napoleonischen Kriege befeuert, welche in Europa Widerstandsbewegungen hervorbrachten, die eine nationale Identität als Gegenpol zur französischen Vorherrschaft erzeugten. In Deutschland waren es Romantiker wie Johann Gottfried Herder und Johann Gottlieb Fichte, welche einen romantischen Nationalismus entwickelten.
Die Hochphase der Entwicklung geht zurück bis ins Jahr 1848 und die Revolution in Frankreich. In Deutschland versuchte die Frankfurter Nationalversammlung (1848–1849), eine geeinte deutsche Nation zu schaffen, scheiterte aber an politischen Spaltungen. Diese Ereignisse verankerten die Idee, dass Staaten nicht nur souverän, sondern Ausdruck einer „nationalen Gemeinschaft“ sein sollten. Nach 1848 führte der Nationalismus zu konkreten Staatsbildungen: Die deutsche Einigung (1871) unter Otto von Bismarck und die italienische Einigung (1861–1870) unter Camillo Cavour waren Höhepunkte. Hier verschmolz die Idee der nationalen Identität mit staatlicher Macht, oft unter Ausschluss ethnischer Minderheiten, was den Nationalismus nun erlaubte, aus der Defensive in die Offensive zu gehen, ihn aggressiver machte (z. B. deutscher "Kulturkampf").(6)
Der einflussreiche Aufstieg der Demokratie, einer Idee die davon ausgeht, dass alle Mitglieder des Staates politische Akteure sein sollten, ist dagegen ein noch neueres Phänomen. Mit der veränderten Idealform des Staates veränderte sich auch das Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Gliedern und damit auch die Bedeutung der Menschen, die Grenzen überschreiten.
In modernen Demokratien sind die letzten Akteure des Staates theoretisch seine Mitglieder die theoretisch das gleiche Recht auf politische Partizipation genießen. Wobei in Deutschland, dessen Volk sich keine eigene Verfassung geben durfte, die Vertreter seiner Mitglieder, also die politischen Parteien, diese Rolle ausüben. Darüber hinaus spielt der moderne Staat eine sehr große wirtschaftliche Rolle, indem er die Dienstleistungen der sozialen Sicherheit und die Funktionen der Einkommensumverteilung bereitstellt, auf die seine Bevölkerung stark angewiesen ist. Ob diese Umverteilung (7) von wo nach wo erfolgt, und ob und warum sie notwendig ist, das ist eine separate Frage, die den Rahmen hier sprengen würde.
Die Rolle, die die Nation sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht spielt, kann nicht ohne ein gemeinsames "Wir" unter ihren Mitgliedern stattfinden. Die Tatsache, dass die Minderheit das Abstimmungsergebnis akzeptiert und dem Willen der Mehrheit folgt, kann aus dem Bewusstsein stammen, dass sie alle ein gemeinsames Schicksal teilen. Und das hat Folgen für die Migration.
"Unabhängig davon, wie offen er sein soll, kann ein Staat neue Einwanderer nicht unbegrenzt und bedingungslos aufnehmen, weil er von seinen Mitgliedern, insbesondere den Mitgliedern demokratischer Nationalstaaten, ein langfristiges Engagement erwartet, das von einem Gefühl des Vertrauens begleitet wird. Es handelt sich nicht um einen Club nur für Mitglieder, in den die Mitglieder frei ein- und aussteigen können."(8)
Ich möchte nun ein längeres übersetztes Zitat aus einer Arbeit von Professor Masayuki Tadokoro aus seinem Open Access Buch "The International Politics of Migration" zitieren, weil es meiner Meinung nach wichtig ist für das Verständnis der nachfolgenden Erklärungen.
"Welche Art von Beziehung sollte der Staat zu Menschen haben, die über seine Grenzen einwandern wollen? Wie allgemein bekannt ist, ist dies aus den oben genannten Gründen zu einem wichtigen politischen Thema in den westlichen Ländern geworden. Das Problem endet jedoch nicht dort.
Dies wird unweigerlich zu einer Frage der zwischenstaatlichen Beziehungen, d.h. zu einer Frage der internationalen Politik. Denn Menschen, die Grenzen überqueren, um in ein Land einzureisen, müssen notwendigerweise ein anderes Land verlassen haben, und auch dieses Entsendeland hat ein gewisses Interesse an den Menschen, die das Land verlassen. Wenn also die Interessen der Entsende- und Aufnahmeländer nicht übereinstimmen, besteht die Möglichkeit, dass sich ein Konflikt zwischen den beiden Staaten entwickelt.
Sobald eine große Anzahl von Menschen aktiv über Grenzen hinweg zieht, engagieren sich die Staaten sowohl für ihre eigenen Mitglieder außerhalb ihrer Grenzen als auch für die Nichtmitglieder innerhalb ihrer Grenzen. Dies führt zu einem Missverhältnis zwischen der territorialen und der persönlichen Zuständigkeit des Staates.
Die Ordnung, die sich aus souveränen Staaten zusammensetzt, beruht auf der Tatsache, dass jeder souveräne Staat die ausschließliche Gerichtsbarkeit über sein eigenes Hoheitsgebiet hat und sich nicht in das einmischt, was auf dem Territorium anderer Staaten geschieht. Dies hat es Ländern mit sehr unterschiedlichen Bräuchen, Überzeugungen und politischen Systemen ermöglicht, nebeneinander zu existieren, solange sie gegenseitig das Ausmaß ihrer ausschließlichen Gerichtsbarkeit, d.h. ihres Territoriums, anerkennen.
Wenn sich die Menschen nicht bewegen und innerhalb des Landes bleiben, dann stimmen die territoriale und die persönliche Zuständigkeit des Staates überein und es entstehen keine Probleme. Aber wenn die Menschen anfangen, sich aktiver zu bewegen, führt dies zu überlappenden Zuständigkeiten, da sich die Mitglieder eines Staates auf dem Territorium anderer Staaten niederlassen und die Mitglieder anderer Staaten auf dem Territorium dieses Staates leben. Diese Situation kann die Aufrechterhaltung der internationalen Ordnung erschweren, einer grundlegenden Vereinbarung, die auf einer friedlichen Koexistenz von Staaten durch die gegenseitige Anerkennung der Gerichtsbarkeiten des jeweils anderen Staates beruht.
Wenn es zu einer Überschneidung der persönlichen Zuständigkeiten von Staaten kommt und mehrere von ihnen gleichzeitig die Treue einer einzelnen Person verlangen oder sich zum Schutz dieser Person einsetzen, kann dies zu einem zwischenstaatlichen Konflikt führen, genau wie bei sich überschneidenden territorialen Rechten. Umgekehrt entstehen verlassene Menschen, die nicht den Schutz eines Landes genießen, wenn sie, zwischen Staaten gefangen, nicht mehr der Gerichtsbarkeit eines Landes unterliegen.
Die Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern kann dem Staat nicht gleichgültig bleiben, wenn, wie bereits erwähnt, eine starke Beziehung zwischen dem Staat und seinen Mitgliedern erforderlich ist und wenn die Mitglieder politisch am Staat teilnehmen und wirtschaftliche Dienstleistungen von ihm erhalten. Darüber hinaus werden die Staaten, wenn die zwischenstaatlichen Beziehungen angespannt werden, ihre Mitglieder mobilisieren und versuchen, sich verschiedene Ressourcen zu beschaffen. Sollte dies geschehen, müssten die Staaten noch sensibler dafür werden, wer Mitglied ist (von dem Loyalität erwartet werden kann) und wer Nicht-Mitglied ist (mit Verbindungen zu ausländischen Mächten, die sogar eine Bedrohung darstellen können). Dies hat das Potenzial, sich zu einem komplexen internationalen politischen Thema zu entwickeln, insbesondere jetzt, da die Herkunftsländer von Migranten zunehmend mit ihren Landsleuten in Übersee in Kontakt treten."(9)
Der Autor erklärt dann noch etwas sehr Wichtiges, nämlich dass es wichtig sei anzuerkennen, dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Fluss von Menschen, dem Fluss von Waren und dem Fluss von Geld gibt.
Menschen seien keine Objekte, die passiv auf Preise reagieren wie Dinge (Waren) oder Geld (Währung). Sie sind Subjekte, die ihre Umwelt formen und beeinflussen und versuchen, sie nicht nur zu beherrschen, sondern auch zu verändern. Tadokoro weist besonders darauf hin, dass das Zugehörigkeitsgefühl dieser Menschen nicht im Voraus festgelegt ist. Es sei dynamisch und werde unter dem Einfluss verschiedener Bedingungen ständig neu gestaltet. Daher seien es nicht die offiziellen Vereinbarungen wie die Nationalität, die letztlich über den Umfang der Staatsmitgliedschaft entscheiden, sondern die Intersubjektivität zwischen den Menschen, die migrieren, denen, die sie aufnehmen, und denen, die zurückbleiben.
Diese Tatsache, die hier noch einmal beschrieben wird, macht das Thema zu einem komplexen und schwierigen Thema, das man nicht mit "Welcome" Plakaten so einfach vom Tisch wischen kann.
In Deutschland wird sogar versucht, das Thema ganz aus der Diskussion zu nehmen, indem man Migranten und Flüchtlinge vermischt, ja jede Diskussion über Migration als Unmenschlichkeit mit Totschlagargumenten abwürgt. Lange Zeit konnte sich diese Übung, jede Kritik an unkontrollierter Zuwanderung als "unmenschlich" zu diskreditieren in der Gesellschaft durchsetzen, und die Unfähigkeit der Regierung überdecken, eine kontrollierte Migration einerseits, und praktikable und sinnvolle Flüchtlingshilfe andererseits zu realisieren.
Während sich aber in der Bevölkerung langsam ein Umdenken einstellte, und erkannt wurde, dass Migranten und Flüchtlinge nicht synonym zu benennen sind, befinden sich die "staatstragenden" Parteien in einer selbst erzeugten Falle der "Menschlichkeitsbehauptung". Was es ihnen unmöglich macht, schnell genug die Unterschiede und eine entsprechende Politik dazu, zu entwickeln. Hauptnutznießer dieser Unfähigkeit ist die Alternative für Deutschland (AfD), welche die Gefühle der Menschen nutzt, um ihre politische Agenda zu verfolgen.
Aber wir schweifen ab von der Geschichte, also zurück zu Grundsätzlichem.
Wer sind Migranten?
Einerseits wird das Problem der Migration oft stark übertrieben, andererseits kann es zu katastrophalen Ergebnissen für die indigene Bevölkerung führen. Besonders wenn, wie in Australien, dem modernen Amerika, oder in Palästina, die indigenen Völker nicht in der Lage sind, Migration zu kontrollieren und in vernünftige Bahnen zu lenken. Die Befürworter einer toleranten Politik gegenüber Migranten und Flüchtlingen verschleiern die Probleme und erkennen die gesellschaftlichen Risiken nicht an, und fordern sogar noch mehr und ungezügelte Migration. Schauen wir uns ein paar Fakten an.
Laut UN-Statistiken gab es im Jahr 2015 weltweit 244 Millionen Menschen, die man Migranten nannte, was etwa 3,4 % der Weltgesamtbevölkerung entspricht.(10) Das waren Zahlen aus 2015. Im Jahr 2010 lagen sie bei 222 Millionen und soll aber in den letzten 15 Jahren stetig gestiegen sein, was diese Zahlen nicht verraten, weil sich die Grundlagen der Erhebung veränderten. Aber wenn man die Zahlen in Bezug zur Weltbevölkerung ansieht, haben sie sich kaum verändert.(11) Hinzu kommt, dass es Unterschiede in der Definition von Migration gibt. So werden oft Personen, die länger als ein Jahr im Ausland arbeiten oder im Ausland studieren, als Migranten gezählt, auch wenn sie planen, in ihre Heimat zurückzukehren. Im Gegensatz dazu werden Kinder von Migranten nicht mehr als solche angesehen, egal ob sie assimiliert sind oder nicht.
So wie es Menschen geben mag, die sich auch nach Generationen in ihrem derzeitigen Wohnsitzland als Migranten und nicht als Staatsbürger dieses Landes empfinden, gibt es auch im Ausland geborene Menschen, die sich in ihr aktuelles Wohnsitzland assimilieren und keine emotionale Bindung zu ihrem Geburtsland haben, obwohl sie die Staatsangehörigkeit beider Länder besitzen, oder sogar nur das des Herkunftslandes. Wobei Sprachkenntnisse oft eine entscheidende Rolle spielen. Die Diskrepanz zwischen der Selbstwahrnehmung dieser Menschen und den statistischen Einordnungen ist oft frappierend. Die Selbstwahrnehmung der Menschen verändert sich natürlich unter den unterschiedlichsten Bedingungen. Manche Menschen, die glaubten, sich assimiliert zu haben, werden plötzlich von der Tatsache konfrontiert, dass sie als Einwanderer angesehen werden. Sie entfremden sich dann von der Gesellschaft und dem Staat ihres Wohnsitzlandes werden zu Außenseitern. Und dann gibt es die Fälle, dass Menschen unfreiwillig Migranten werden, weil sich die Grenzen verändern. Was insbesondere nach der Auflösung der Sowjetunion eine besondere Rolle spielte, man denke nur an Abchasien, Südossetien, Transnistrien, oder den Donbass.
Man sieht, wie unterschiedlich die Assets "Mensch und Arbeitskraft" von Finanzen und Handel unterscheiden. Es sind Menschen, die freiwillig oder unfreiwillig migrieren, nicht Geld oder Güter, und sie haben alle eine Seele. Und das, was die gebildeten Schichten des 19. Jahrhunderts in ihren literarischen Zirkeln über "… ein großes Menschenkollektiv, gesund im Geist und warm im Herzen, findet immer Mittel, sich zu verstehen…." erzählten, wurde durch den Nationalismus leider auf den Boden der Tatsachen zurück gebracht.
Demnächst
Um das Thema nicht oberflächlich, sondern einmal gründlich zu behandeln, möchte ich es in einer Reihe von Beiträgen darstellen. Denn zwei Themen sind vermutlich die Wichtigsten der Menschheitsgeschichte: Migration und Kriege. Wir sollten uns daher gründlich damit beschäftigen, bevor wir oberflächliche und rein emotionale Entscheidungen fällen. Im nächsten Beitrag will ich über Migrationsströme berichten, woher sie kommen, wohin sie zielen, und vielleicht noch, welche Ursachen sie auslösten.
Quellen und Anmerkungen
(1) https://en.wikipedia.org/wiki/What_Is_a_Nation%3F
(2)

(3) https://www.eva.mpg.de/evolution/field-projects/africa-and-the-origins-of-modern-humans/
(4) https://www.britannica.com/place/Pacific-Islands/Early-European-settlement und https://populationandeconomics.pensoft.net/article/81900/
(7) https://de.wikipedia.org/wiki/Umverteilung besser noch https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Ministerium/Geschaeftsbereich/Wissenschaftlicher_Beirat/Gutachten_und_Stellungnahmen/Ausgewaehlte_Texte/2017-02-28-einkommensungleichheit-und-soziale-mobilitaet-anlage.pdf?__blob=publicationFile&v=6
(8) https://link.springer.com/book/10.1007/978-981-96-0422-7
(9) Ebd.
(10) https://chooser.crossref.org/?doi=10.1596%2F978-1-4648-0319-2
(11) https://www.un.org/en/desa/international-migration-2020-highlights
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bild: Aquarell künstlerisches Bild der Welt heute Migration Konzept modernen Stil Menschen der Welt
Bildquelle: Shutterstock AI / shutterstock
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