Standpunkte

Markt gegen Mensch | Von Rüdiger Rauls

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Frankreich hat einen neuen Premierminister, den fünften seit 2022. Das beruhigt vielleicht die Märkte, aber nicht die Menschen im Land. Die sozialen Einschnitte sind nicht vom Tisch. Aber es geht nicht um die Frage, wer das Land regiert, sondern was die Märkte daraus machen. 

Ein Standpunkt von Rüdiger Rauls.

Krankenblätter

Frankreich ist nach Deutschland die zweitwichtigste Stütze der europäischen Wirtschaft. Wenn die französische Wirtschaft hustet, droht der EU die Schwindsucht, und um Frankreichs Gesundheitszustand steht es nicht zum besten. Der abgetretene Premierminister Bayrou legte in seiner Rede zum Misstrauensvotum die Karten auf den Tisch: „Der Außenhandel sei chronisch defizitär, die Landwirtschaft nicht länger wettbewerbsfähig.“ (1). Außerdem produziere die französische Wirtschaft im Verhältnis zu Deutschland zu wenig. Frankreich lebe seit 1974 über seine Verhältnisse und deshalb sei sein Sozialsystem nicht mehr zu finanzieren.

War von solchen Leute etwas anderes zu erwarten? Von den Rüstungsausgaben und der Finanzierung der Ukraine, die zusätzliche Milliarden verschlingen und regelmäßig ohne große öffentliche Diskussionen erhöht werden, spricht Bayrou nicht, auch nicht Macron. Verwundert aber reibt man sich die Augen, dass die Bevölkerung diese Politik zu ihren Lasten nicht mittragen will. Zwar stehen die Themen Rüstungsausgaben und Finanzierung der Ukraine bei den derzeitigen Protesten nicht im Vordergrund, aber die Franzosen wehren sich aktiv gegen die Verschlechterung ihrer Lebenslage. Das macht mehr Druck bei der Kriegsfinanzierung als die Appelle deutscher Friedenstauben zur Beendigung des Krieges. Diese und sogenannte Linke sind nicht in der Lage, diesen sozialpolitischen Ansatz in Deutschland aufzugreifen.

Aber offensichtlich sind die europäischen Führungskräfte so sehr verfangen in ihrem Weltbild, das in erster Linie aus einer Bedrohung durch Russland zu bestehen scheint, dass sie die innenpolitischen Gefahren nicht so recht glauben, ernst nehmen zu müssen. Der Krieg und Russland sind weit weg, die Unruhe unter den Menschen aber bekommen die Regierenden immer öfter vor der eigenen Haustür zu spüren. Sie beeinträchtigt die Stabilität in fast allen Staaten der Europäischen Union, was am Zuwachs sogenannter rechtspopulistischer Bewegungen deutlich wird. In Frankreich tritt diese Instabilität am deutlichsten zu Tage. Insofern ist das Land das Fieberthermometer für Europas politischen Gesundheitszustand, und der Befund lautet:

„Frankreich steckt tief in einer Krise der repräsentativen Demokratie“ (2).

Damit steht das Land aber nicht alleine. Die politische Mitte schrumpft, und bei Wahlen wachsen die Kräfte an den Rädern des Parteienspektrums. Schon einmal war es Macron gelungen, mit seiner Bewegung „La Republique en Marche“ vor seiner ersten Präsidentschaft die Kräfte der Mitte aus dem Koma zu holen. Es sieht nicht danach aus, dass ihm das noch einmal gelingt. Seine Visionen von damals, mit denen er den Leuten Sand in die Augen gestreut hatte, haben sich verbraucht. So stellte denn der neue Premierminister Lecornu bei seiner Ernennung fest, „dass die Kluft zwischen der Politik und den Erwartungen der Bürger ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen habe“ (3).

Infektionsgefahr 

Doch wie lange sich der neue Premier halten wird – immerhin ist Lecornu bereits der fünfte seit 2022 – und wer das Land nach ihm regieren wird, sind nicht die entscheidenden Fragen. Die belgische Zeitung „Tijd“ sieht das Problem vielmehr grundsätzlicher, dass sich Frankreich immer mehr im Spannungsfeld zwischen zwei Kräften befindet: „den verärgerten Wählern, die nichts abgeben wollen, und den Finanzmärkten, die ihr Vertrauen in die Stabilität der französischen Staatsfinanzen verlieren.“ (4). Das aber ist ein Befund, der für die meisten Staaten der Europäischen Union zutrifft, zumal seit in Deutschland die Verschuldung durch die Aufrüstung ein Ausmaß erreicht hat, das das AAA-Rating für die gesamte EU gefährdet. Denn vom deutschen Rating hing auch das der EU ab.

Deshalb warnte EZB-Präsidentin Christine Lagarde eindringlich, dass das Risiko eines Regierungssturzes im Euroraum ein Grund zur Besorgnis sei. Denn Trumps Zölle, die teure Unterstützung der Ukraine, die gestiegenen Rüstungsausgaben, die selbstverschuldete Verteuerung der Energieversorgung durch die antirussischen Sanktionen und der wachsende Konkurrenzdruck durch chinesische Unternehmen setzen der europäischen Wirtschaft schon hart genug zu. Nicht auszudenken, wenn nun auch noch durch die politischen Unsicherheiten in Frankreich sich die Investoren aus den europäischen Anleihen zurückzögen.

Vor Bayrous Vertrauensfrage war bereits eine „deutliche Nervosität der Anleger“ (5) bei den Anleihen zu spüren gewesen. Das Problem dabei ist, dass Investoren an den Finanzmärkten ihre Entscheidungen nicht immer rational treffen und bei erkennbaren Unsicherheiten schnell handeln. Denn es geht um viel Geld, und ehe man Gefahr läuft, zu spät zu kommen, versucht man lieber, allen anderen zuvorzukommen. Daraus entstehen dann oftmals jene Bewegungen, die Kurse und Märkte in den Keller schicken. Anleger wollen noch schnell verkaufen, ehe die Verluste zu groß werden.

Lagardes Sorgen gelten weniger den Lebensumständen der Menschen als vielmehr der Reaktion der Anleihemärkte und der Stabilität des Euro. Denn eines ist klar: Frankreich ist zu groß, „um im Notfall vom Rest der Eurozone gerettet zu werden“ (6) wie seinerzeit Griechenland. Wenn auch Frankreich mit Lecornu einen neuen Premier hat, so ist die französische Krankheit noch lange nicht ausgeheilt. Die Krise bedroht nicht nur Frankreich. Weil viele Staatsanleihen auf den Bankbilanzen liegen, besteht eine hohe gegenseitige Abhängigkeit zwischen Staaten und Banken.

Wackelt ein Staat, zittern auch dessen Banken. Denn die Anleihen dieser Staaten liegen dann wegen der sinkenden Kurse zu geringeren Werten in den Depots der Banken. Diese müssen um ihre Bonität fürchten, was bedeutet, dass ihre Kreditwürdigkeit an den Finanzmärkten sinken könnte. Sie müssten dann Anlegern höhere Zinsen bieten, um frisches Geld vom Markt beziehen zu können. Das schmälert den Ertrag. Wackelt andererseits eine große Bank wie vor nicht allzu langer Zeit die Credit Suisse, zählen die Staaten nach, wie viel Geld ihnen noch für Rettungsmaßnahmen zur Verfügung steht. Im Falle der Schweiz reichte es nicht. Deshalb musste die Union Bank of Switzerland (UBS) auf Druck des Schweizer Staates einspringen und über Nacht einer Fusion zustimmen.

Die Krise eines großen Landes wie Frankreich bedroht das gesamte „Bankensystem im Euroraum, weil viele Banken in großem Umfang Staatsanleihen der angeschlagenen Länder“ (7) in ihren Bilanzen halten. Hinzu kommt, dass immer mehr Eurostaaten mit Wachstumsschwäche konfrontiert sind, während die Staatsausgaben unaufhaltsam steigen. Die Folge ist, dass „das Vertrauen in eine langfristig nachhaltige Fiskalpolitik bröckelt“ (8). Schon jetzt sind deshalb steigende „Renditen für nahezu alle Staatsanleihen (9)“ des Euroraums festzustellen. Die Renditen steigen, weil die Kurse der Anleihen sinken. Das ist ein Zeichen dafür, dass Investoren eher auf der Verkäuferseite stehen.

Wer setzt sich durch? 

Für Banker und Politiker ist die Lösung klar:

„Das hoch verschuldete Land muss dringend seinen Sparkurs festigen. Sollte die Lage länger instabil bleiben, droht ein Vertrauensverlust an den Märkten, was Frankreichs Finanzen zusätzlich belasten würde.“ (10)

Was damit gemeint ist, dürfte auch nicht schwer zu erraten sein: Sozialabbau. Denn wie Bayrou schon anfangs zitiert wurde, ist die politische Führung Frankreichs der Meinung, dass man sich den Sozialstaat in dieser Form nicht mehr leisten kann. Damit steht Bayrou nicht alleine. Ähnlich denken auch viele andere Spitzenkräfte in Europas Führungsetagen von Wirtschaft und Politik von Paris über Brüssel bis nach Berlin.

Doch scheinen diese Pläne zumindest in Frankreich nicht so leicht umzusetzen zu sein. Die Proteste der neu ins Leben gerufenen Bewegung „Bloquons tout“ sind eher Ausdruck von allgemeiner Unzufriedenheit, aber ihnen fehlt das klar definierte Ziel. Mehr Aufschluss über die Kräfteverhältnisse dürften die landesweiten Streiks der Gewerkschaften geben. Es wird sich zeigen, wie viel Durchsetzungskraft sie entwickeln können, um Druck auf die politische Führung das Landes auszuüben. Es rumort noch immer im Land, seit Macron das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre angehoben hat.

Die Auseinandersetzung in Frankreich zwischen den Interessen der Bevölkerung nach Sicherung des Lebensstandards und denen von Regierung und Staat nach der Aufrechterhaltung der staatlichen Handlungsfähigkeit laufen immer mehr auf eine harte Konfrontation hinaus. Bayrou hatte in seiner Rede die Grundsätzlichkeit für die Regierung deutlich aufgezeigt, denn „es gehe um die historische Frage, die Schuldenpolitik zu beenden. Es sei „eine Frage von lebenswichtiger Dringlichkeit, der Überschuldung ein Ende zu setzen“ (11). Das klingt nicht nach Verhandlungsbereitschaft.

Für die Vertreter des Systems ist die Sache klar. Für sie gibt es keine Alternative, denn „die Realität wird unerbittlich bleiben, die Ausgaben werden weiter steigen, und die ohnehin schon unerträgliche Schuldenlast wird immer schwerer und immer teurer werden“ (12). Daran wird auch die Absetzung eines Präsidenten nichts ändern:

„Sie haben die Macht, die Regierung zu stürzen, aber Sie haben nicht die Macht, die Realität auszulöschen“ (13).

Die von der Opposition vorgeschlagenen Steuererhöhungen von zwei Prozent auf Vermögen von über 100 Millionen Euro lehnt die Regierung ab mit dem Verweis auf die „drohende Kapitalflucht“ (14).

Die Märkte unterstützen die Vertreter des Systems und machen unmissverständlich klar, was sie erwarten. Ihr Druck und die Einschätzungen der Ratingagenturen zu Frankreichs Kreditwürdigkeit diktieren das Tempo. Je länger das politische Patt in Frankreich anhält zwischen der Regierung und den politischen Kräften der Rechten und der Linken, „desto größer werde der Druck der Märkte“ (15). Wenn das alles nicht hilft, dann müssen halt andere Seiten aufgezogen werden:

„Es brauche vermutlich deutlich mehr Druck von den Finanzmärkten, durch höhere Zinsen, bevor sich eine Koalition der Willigen finden wird“ (16).

Will heißen: Dann müssen halt die Zinsen die Regierung in die Knie zwingen – Volkswille hin, Volkswille her.

Quellen und Anmerkungen

(1, 2) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 10.9.2025 Brandbeschleuniger Bayrou

(3) FAZ vom 11.9.2025 Der nächste Krisenmanager in Paris

(4) FAZ vom 10.9.2025 aus Frankreichs Mitte muss neu erfunden werden

(5, 6, 7, 8, 9) FAZ vom 6.9.2025 Gallischer Hahnentanz

(10) FAZ vom 10.9.2025 Neue Züricher Zeitung: Macron muss sich innenpolitischen Fronten stellen

(11, 12, 13, ) FAZ vom 9.9.2025 Das Scheitern des François Bayrou

(14) FAZ vom 10.9.2025 Der Druck auf Frankreich wächst

(15) FAZ vom 6.9.2025 Gallischer Hahnentanz

(16) FAZ vom 10.9.2025 Der Druck auf Frankreich wächst

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Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bild: Protest in Frankreich gegen die Rentenreform 2023
Bildquelle: O.Kemppainen / shutterstock


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