
Versuch, die Vorgänge im Nachbarland zu verstehen
Ein Kommentar von Tilo Gräser.
Die spinnen, die Franzosen – das ließe sich angesichts der Vorgänge im Nachbarland sagen. Wobei das nicht für alle Franzosen gilt, sondern insbesondere für die politischen Führungskräfte wie Präsident Emmanuel Macron. Der hat den zuvor gescheiterten Premierminister Sébastien Lecornu nun erneut beauftragt, eine neue Regierung zu bilden. Frankreichs Präsident scheint bestrebt zu sein, sein Land nicht aus der Krise zu führen, in die er es selbst geführt hat. Das geschah, indem er nach der vorfristig anberaumten Parlamentswahl am 30. Juni und 7. Juli 2024 nicht die Wahlgewinner vom linken Bündnis Nouveau Front Populaire (NFP, deutsch: Neue Volksfront) und auch nicht den Rassemblement National (RN, deutsch.: Nationaler Zusammenschluss – bis 2018: Front National) als stärkste Einzelpartei mit der Regierungsbildung beauftragte.
RN war diejenige Einzelpartei, die jenseits der verschiedenen Bündnisse die meisten Sitze in der französischen Nationalversammlung erhalten hat. Auch wenn die Partei im Vergleich zu den Parteibündnissen als Verliererin aus der Wahl hervorging, erreichte die Anzahl ihrer Sitze im Parlament und der Stimmen, die für sie gestimmt haben, ein Rekordniveau. Doch die anderen politischen Kräfte taten alles, was ihnen möglich war, um einen tatsächlichen Erfolg des RN, geführt einst von Marine Le Pen und seit 2022 von Jordan Bardella, zu verhindern. In Frankreich ist das ähnlich wie hierzulande, wenn es um die Alternative für Deutschland (AfD) geht, die die anderen Parteien mit allen, auch undemokratischen Mitteln bekämpfen.
Nebenbemerkung: Dabei gilt in beiden Fällen, dass es sich um Systemparteien handelt, auch wenn sie sich öffentlich gegen das etablierte „System“ stellen. Wenn es tatsächlich dazu kommt, dass der RN wie auch die AfD erwartungsgemäß eines Tages an der Regierung ihrer Länder beteiligt werden, werden viele ihrer Wähler ihr „blaues Wunder“ erleben. Der Politikwissenschaftler Erhard Crome bezeichnete schon 2017 die AfD als „politische Reserve des bürgerlichen Lagers für den EU-Crash“.
Zurück nach Frankreich: Die derzeit herrschenden Kreise im Nachbarland stehen für die globalistisch und auch transatlantisch orientierten Kräfte innerhalb der politischen Kreise. Sie verfolgen seit langem ähnlich wie jene in Deutschland eine Politik gegen die eigentlichen nationalen Interessen – wenig überraschend scheinen sich Macron und Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) gut zu verstehen. Um jeden Preis wollen diese Kräfte ihre politische Macht halten, auch gegen den offensichtlichen Willen der Bevölkerungsmehrheit, aber im Interesse der Bürokratie der Europäischen Union (EU).
Regierung in der Zange
Folge der Politik von Macron sind schon mehrere gescheiterte Regierungen seit der Parlamentswahl 2024. Lecornu ist insgesamt der vierte Premierminister unter dem derzeitigen Präsidenten. Seiner neuen Regierung droht denn auch gleich ein Misstrauensvotum der Opposition im Parlament, jeweils eins vom RN und eines der Fraktion der linken Partei La France Insoumise, wie unter anderem das russische Portal RT DE meldet. Der designierte Premierminister will demnach mit den bisherigen Ministern in Schlüsselressorts arbeiten.
Wenig überraschend will er die liberal-konservative, antisoziale Politik, die neben den wirtschaftlichen Problemen zur Krise in Frankreich beigetragen und für massive Proteste gesorgt hat, fortsetzen. Lecornu war erst Anfang September berufen worden, nachdem sein Vorgänger François Bayrou daran scheiterte, die Sparpolitik durchzusetzen. Es geht dabei um Einsparungen im Haushalt in Höhe von 44 Milliarden Euro.
„Die anhaltende Regierungskrise resultiert aus haushaltspolitischem Druck und fehlenden Mehrheiten für Reformen“, war Anfang September im Onlinemagazin Makroskop zu lesen. Demnach stehen seit der Wahl 2024 Macron zwei starke Lager links und rechts entgegen. Dabei gibt es von keiner der derzeitigen politischen Kräfte grundsätzlichen Widerstand gegen die Sparpolitik. Bloß in der Frage, wo gespart werden soll, gibt es laut Makroskop Unterschiede. Das Magazin machte auf Unterschiede in der Ausrichtung der Parteien im Nachbarland zu denen in Deutschland aufmerksam: So sei der RN „nicht derart marktliberal wie die AfD“. Er schlage geringere Einsparungen vor und bringe Instrumente wie eine Kapitalertragssteuer oder eine Abgabe auf Aktienrückkäufe ein, was bei der AfD nicht der Fall sei.
Die sogenannten Zentristen unter Macron seien bei ihren Entscheidungen immer wieder darauf angewiesen, dass sie von links oder rechts unterstützt werden. Bereits im September wurde demnach Macrons wiederholter Verzicht darauf, als Premierminister einen Kandidaten des Linksbündnisses NFP als stärkster Kraft zu ernennen, wie es gegebene Praxis war, als Affront gesehen. Das mache die Mehrheitsbeschaffung aus dem linken Lager schwierig, so das Magazin.
Danach hat Frankreich derzeit mit 3,3 Billionen Euro eine Staatsschuldenquote von 114 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, während die EU nur 60 Prozent erlaubt. Hinzu kommen Wachstumsraten der Wirtschaft um die Ein-Prozent-Marke und eine beschlussunfähige Regierung ohne neuen Haushalt, „Völlig offen bleibt, wie Frankreich mit einer gelähmten Pro-EU-Regierung und starken EU-skeptischen Fraktionen mit den europäischen Schuldenregeln umgeht“, heißt es bei Makroskop. Analytiker würden eine neue europäische Schuldenkrise befürchten, allerdings werde die Europäische Zentralbank (EZB) Frankreich als „ein Herzstück der europäischen Integration“ nicht fallen lassen.
Sparen und Aufrüsten
Das Magazin wies daraufhin, dass Berlin die Entwicklung im Nachbarland besorgt verfolge:
„Die EU-kritischen, protektionistischen Kräfte werden stärker, während das neoliberale Zentrum seine alten Mehrheiten verloren hat. Zusammen hätten Deutschland und Frankreich zwar die Kraft, die europäische Wirtschaftspolitik in neue Bahnen zu lenken. Doch dass die Bundesrepublik ausgerechnet unter Friedrich Merz von den Maastricht-Kriterien abrückt, ist unwahrscheinlich.“
Zu den Folgen der Krise in Frankreich seit mehr als einem Jahr gehört, dass kaum mehr Gesetze gemacht werden und die Regierungen ihre Umbaupläne nicht durchsetzen können. Die bisher vorgeschlagenen Sparpläne vor allem zu Lasten der Beschäftigten und der einkommensschwachen Bevölkerungskreise wie eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 68 Jahre führten zu massiven Streiks. Die Gemeinsamkeit mit Deutschland ist, dass der Bevölkerung Kürzungen im Sozialbereich aufgezwungen werden, während gleichzeitig der Krieg in der Ukraine gegen Russland mit Milliarden an Euro von Beginn an und weiter finanziert wird. Zugleich will auch Paris massiv aufrüsten.
Der französische Philosoph Pierre Levy erklärte dazu bereits 2023:
„Ziel der Rentenreform war es, Dutzende Milliarden Euro einzusparen. Uns wurde gesagt, dass dies notwendig sei, dass wir uns in einer schwierigen Situation befänden, dass wir die Ausgaben überwachen müssten und so weiter. Aber die Regierung liefert weiterhin Waffen und leert unseren Haushalt.“
Selbst politische Begleiter von Präsident Macron haben sich inzwischen von ihm abgewandt. So forderte wie andere auch sein ehemaliger Premier Édouard Philippe sogar seinen Rücktritt, den Macron aber bis heute ablehnt. Seine reguläre Amtszeit endet 2027. Beobachtern zufolge hätte der Präsident erneut das Parlament auflösen können, um stabile Verhältnisse zu erreichen. Aber das will anscheinend Macron aus einem Grund nicht: Umfragen zufolge könnte das rechtsnationale RN bei einer Neuwahl weiter zulegen und möglicherweise sogar eine Mehrheit in der Nationalversammlung erringen. Der Präsident hatte versprochen, so zu regieren, dass die Franzosen nach ihm keine „extremen Parteien“ mehr wählen würden.
„Der schlechteste Präsident“
Gewollt ist nur selten gekonnt, ließe sich das kommentieren. Und so macht der ehemalige Präsidentenberater Alain Minc Macron für die Krise und deren Folgen verantwortlich. Er bezeichnete ihn jetzt in einem Interview als „schlechtesten Präsidenten“ der neueren Geschichte Frankreichs, der sogenannten Fünften Republik, die 1958 mit der Rückkehr von Charles de Gaulle an die Macht begann. „Die Fünfte Republik basiert auf einer klaren Mehrheit und einer ebenso klaren Opposition im Parlament“, erklärte Minc. Diese habe Macron 2022 verspielt, weil er kein Bündnis mit der republikanischen Rechten einging und unübliche Schritte bei der Auswahl des Premiers vollzog.
Der Soziologe sieht als Problem, dass die französische Politik noch nie „so stark von der Psychologie des Präsidenten der Republik dominiert“ worden sei wie derzeit. Er macht bei Macron einen „fast schon pathologischen Narzissmus“ aus, der zur Verleugnung der Realität führe. Zudem habe er „nie seine spielerische Seite abgelegt, die glaubt, dass die Vorsehung immer auf seiner Seite sein wird“. Außerdem habe er „keine historische Bildung, sondern nur eine literarische und philosophische Bildung. Für die Politik ist jedoch die historische Bildung am wichtigsten.“
Minc hält den „Macronismus“ für gescheitert, was sich bei einer erneuten Neuwahl des Parlaments zeigen würde. In einem Interview mit dem Fernsehsender BFMTV warnte er, der Präsident werde „Frankreich in eine noch viel schlimmere Lage bringen“ und dass der RN „kurz vor der Machtübernahme“ stehe. Macron sei inzwischen „radioaktiv“, da seine Umfragewerte auf einen historischen Tiefstand von 14 Prozent gesunken seien. Gegenüber dem Sender wies Minc auf die Kluft zwischen der politischen Klasse und der wirtschaftlichen Realität hin:
„Die Menschen konsumieren nicht, Unternehmer investieren nicht, ausländische Akteure wollen nicht mehr zu uns kommen.“
Der ehemalige Berater warnte vor den Folgen der politischen Blockade: In Frankreich habe die Sparquote 19 Prozent erreicht, was als Zeichen des Misstrauens den Konsum wie auch die Investitionen bremse. Das habe Folgen für das Wirtschaftswachstum und den Haushalt in Frankreich – was durch die geplante Sparpolitik aber weiter verschärft wird.
Wachsende Wut und deutsche Verantwortung
Derzeit gilt Frankreich als „Sorgenkind der Brüsseler Eurokraten“, wie Pierre Levy Ende September in einem Beitrag für RT DE feststellte. Sorgen bereiten Brüssel demnach nicht nur die ökonomische Entwicklung Frankreichs, sondern auch die Zunahme der sozialen Bewegungen wie den Demonstrationen und Streiks von beispiellosem Ausmaß seit zwei Jahren. Die Wut bei den arbeitenden Menschen sei so groß, dass es zu weiteren Protesten kommen könne.
„Diese Wut richtet sich in erster Linie gegen die sich abzeichnende Verschärfung der Sparpolitik, gegen die Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen, die zwangsläufig aus den Haushaltskürzungen resultiert, und natürlich gegen den unerträglichen Kaufkraftverlust für Millionen von Arbeitnehmern, die immer mehr Mühe haben, über die Runden zu kommen.“
Die Situation werde zunehmend explosiver, berichtete Levy. Diese politische Instabilität sei für die EU umso problematischer, als Frankreich die zweitgrößte Volkswirtschaft in der EU und eines ihrer Gründungsmitglieder sei. Macron sei 2017 von vielen als „Hoffnungsträger“ gesehen worden, während er 2022 nur wiedergewählt worden sei, um Marine Le Pen nicht in den Pariser Elysée-Palast einziehen zu lassen.
Levy verwies darauf, dass der frühere Wirtschaftsminister Eric Lombard am 13. September angesichts des Ausmaßes der sozialen Mobilisierung einräumte, dass die von der gescheiterten Bayrou-Regierung für 2026 geplanten „‘Sparmaßnahmen‘ reduziert werden müssen“. Der Philosoph sieht in der französischen politischen Klasse keine Abkehr vom „Europäismus“. Aber zahlreiche Anzeichen würden auf eine „wachsende Unbeliebtheit der europäischen Integration“ hindeuten.
Der deutsche Ökonom Heiner Flassbeck machte in einem aktuellen Interview darauf aufmerksam, dass Deutschland mit seiner Exportüberschuss- und Niedriglohnpolitik mitverantwortlich für die französische Wirtschafts- und Finanzkrise ist. Schon 2017 stellte Flassbeck in einem Beitrag klar, „wer in Frankreich über die Rolle und die Verschuldung des Staates redet, muss darüber reden, wie man – bei Nullzinsen – die Unternehmen dazu bringt, sich noch mehr zu verschulden und so viel zu investieren, dass die vom Ausland und von den heimischen Sparern geschaffene Nachfragelücke geschlossen wird“. Es bliebe nur die Möglichkeit, das Leistungsbilanzdefizit zu vermindern und in einen Überschuss zu verkehren oder weiter auf Staatsverschuldung zu setzen, wobei nur Letzteres realistisch sei – was aber strikt abgelehnt wird.
„Nichts außer einem sofortigen Rücktritt des Präsidenten wird jetzt ausreichen, um den wichtigsten Nachbarn Deutschlands politisch wieder in halbwegs stabiles Fahrwasser zu bringen“, schrieb Flassbeck am 6. Oktober nach dem ersten Rücktritt von Lecornu.
„Frankreich bricht gerade politisch zusammen, weil Deutschland das Land mit seinen ‚Reformen‘, seinen Leistungsbilanzüberschüssen und seiner Schuldenpolitik für Europa wirtschaftlich ruiniert hat.“
Aus der Sicht des Ökonomen erleben wir derzeit „in Zeitlupe“ nicht weniger als den „Untergang Europas“.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bild: Emmanuel Macron (Präsident Frankreichs)
Bildquelle: Victor Velter / shutterstock
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