Ein Standpunkt von Jochen Mitschka.
In Kolonialländern als Terrororganisation bezeichnet, durch UNO-Resolutionen zum bewaffneten Widerstand legitimiert, vom größten Teil der Welt als Kämpfer gegen die illegitime Besatzung Palästinas angesehen, von der UN als Kommunalverwaltung, was steckt hinter der Hamas tatsächlich? Schon im Jahr 2006 hatte Helga Baumgarten eine Analyse der Hamas veröffentlich, welche nun als Nachdruck wieder verfügbar ist. Trotz der langen Zeitspanne seit der ersten Veröffentlichung, gibt das Buch wesentliche Antworten auf Fragen, die immer wieder in Hinsicht auf die Hamas und den Konflikt mit Israel gestellt werden. Insbesondere zeigt das Buch meines Erachtens, dass mit jeder Tötung eines Hamasführers oder Kämpfers, zwei neue nachrücken, und dass „es“ nicht am 7. Oktober 2023 begann. Das Buch geht über die Beschreibung der Hamas hinaus und gibt Eindrücke davon, welche Geschichte dieses Teils des Widerstandes, neben seinem säkularen Konkurrenten, steckt.
Muslimbrüder
Im ersten Kapitel beschreibt die Autorin den Ursprung der Hamas, welche in der Muslimbruderschaft Ägyptens zu suchen ist. Die Entwicklung der Muslimbrüder in Palästina geht zurück bis ins Jahr 1936 und wird in dem Buch bis zur Gründung der Hamas im Jahr 1987 nachverfolgt. Ich will aber nur näher auf den Teil des Buches eingehen, welcher sich mit der Geschichte der Hamas nach der Gründung im Jahr 1987 beschäftigt.
In dem Kapitel „Zweistaatenlösung oder islamischer Staat“ beschreibt Baumgarten, wie sich auf Grund eines Unfalls, bei dem in zwei Sammeltaxis palästinensische Tagelöhner durch einen israelischen LKW getötet wurden, die erste „Intifada“, der arabische Begriff für Aufstand, entwickelte. Am 9. Dezember 1987, so berichtet die Autorin, hatten sich die Muslimbrüder in Gaza versammelt, um unter dem Druck der Straße eine neue Politik zu entwickeln. Sie sahen sich gezwungen, ihren Fokus vom religiösen Bereich auf den Widerstand gegen die Besatzung neu auszurichten.
„Die Führer des Islamischen Zentrums konzentrierten sich zunächst auf die Organisation von Demonstrationen überall im Gazastreifen. Einige Tage später verfassten sie ein politisches Flugblatt, das erste Flugblatt der palästinensischen Intifada überhaupt, das Mitte Dezember zuerst in Gaza, danach auch im Westjordanland verteilt wurde. Hier wurden ihre Ziele und Vorstellungen definiert.(3)
Ein übersetzter Auszug aus dem Flugblatt findet man in Anhang(18). Unterzeichnet war der Text auf einem Flugblatt mit „Bewegung des Islamischen Widerstandes“.
Es folgten weitere Flugblätter, bis Mitte Februar 1988 zum ersten Mal der Name Hamas offiziell auftauchte. Nun begann ein Streit zwischen der Hamas und den säkularen Widerstandsbewegungen Palästinas, welche sich als nationale Bewegung ansahen, und verschiedene politischen Richtungen vertraten. Sie stritten darum, wer für die erste Intifada die größte Entschlossenheit gezeigt hatte.
Das Buch erklärt, wie die israelische Besatzung das Leben der Palästinenser, auch wenn sie nicht im Widerstand waren, unerträglich machte. Und dass die Rolle der Hamas in der ersten Intifada nur von wenigen Historikern wirklich ernst genommen worden war.
Der Einfluss der Muslimbrüder wuchs aber nicht nur wegen ihres Widerstandes gegen die Besatzung, sondern weil sie auf Basis von vielen Spenden einen breiten sozialen Bereich der Hilfe für die palästinensische Bevölkerung abdeckten.
„Die Muslimbrüder breiteten sich institutionell in extrem weit gefächerten Bereichen aus: von Wohltätigkeitsorganisationen über Sportclubs, von Kindergärten bis zur Universität. Sie kontrollierten vor allem im Gazastreifen bis Mitte der achtziger Jahre fast den gesamten Bereich des Waqf – von Privatleuten gestiftete und finanzierte wohltätige Einrichtungen, Moscheen und Schulen bis hin zu Krankenhäusern oder Sozialarbeitsorganisationen – und erlangten so einen großen wirtschaftlichen Einfluss. Schließlich waren sie in einer ständig wachsenden Zahl von Moscheen vertreten. Ein Vergleich mit dem Ausbau der islamischen institutionellen Infrastruktur im Iran noch unter der Schah-Herrschaft und vor der islamischen Revolution drängt sich geradezu auf“(6).
Die Autorin erzählt dann die Geschichte des Widerstandes und die verschiedenen Phasen des Kampfes gegen die Besatzungsmacht. Während der sich die Hamas immer stärker politisierte. Es wird dargelegt, wie Israel systematisch die palästinensische Wirtschaft schwächte, nicht nur die vorhandene Unterentwicklung nutzte, sondern die Wirtschaft weiter zurückentwickelte.
Es folgte eine zunehmende Rivalität der Hamas zu den säkularen Teilen des palästinensischen Widerstandes. Das Buch beschreibt durch Erklärungen des Inhaltes von Flugblättern, wie sich die Hamas weiterentwickelte, dann auch Steuern eintrieb und diese an Bedürftige verteilte. Bei allen Bekenntnissen zur Einheit, wuchs aber die Spannung zwischen säkularen Nationalisten und der Hamas.
Schon sehr früh hatten israelische Regierungen die Möglichkeiten erkannt, die in der Spaltung des palästinensischen Widerstandes lagen. Dazu schreibt die Autorin:
„Nun ist es natürlich problematisch, die israelische Politik des divide et impera (lateinisch: teile und herrsche) den palästinensischen Muslimbrüdern anzulasten. Schließlich hatten sie die Besatzungsmacht nicht dazu aufgefordert, auch wenn sie über Perioden von deren Politik profitierten, sei es als sie von Israel eine Lizenz für das Islamische Zentrum erhielten oder auch Unterstützung beim Bau von Moscheen, bei der schrittweisen Übernahme der religiösen Stiftungen im Gazastreifen, der ausbleibenden Bestrafung ihrer Aktivitäten (im Allgemeinen!) durch den israelischen Geheimdienst und ähnlichem mehr.“(7)
Die erste Hamas-Charta wurde dann im August 1988 vorgestellt, welche jedoch in der Praxis in der palästinensischen Bevölkerung weitgehend unbekannt blieb, und in erster Linie in Israel und im Westen zur Dämonisierung der Hamas genutzt wurde. Es sei schwierig gewesen, in den besetzten Gebieten überhaupt ein Exemplar der Charta zu bekommen und ihre Kenntnis sei keine Voraussetzung für Mitglieder gewesen, sie habe sich vermutlich in erster Linie an die arabische muslimische Welt gerichtet, meint die Autorin, weniger direkt an die Palästinenser. Interessant ist, dass in der Muslimbruderschaft, allerdings ausschließlich bei der Hamas, auch Nicht-Muslime Mitglied werden können, was schon ein Hinweis auf die Besonderheiten Palästinas ist.(4)
Baumgarten erläutert Einzelheiten der ersten Charta, welche noch sehr stark religiös gefärbt war. Aber schon in der ersten Version zeigt sich, dass die Dämonisierung in den Kolonialländern künstlich erzeugt war. So schreibt die Autorin:
„An prominenter Stelle, in Artikel 6, sowie weiter ausgeführt in Art 31, wird die Hamas ausdrücklich als eine palästinensische Bewegung vorgestellt, deren Ziel es sei, ganz Palästina, jede Handbreit des Bodens von Palästina, zu befreien und dort einen Islamischen Staat zu errichten (Artikel 9). In diese maximale politische Zielsetzung in all ihrer Radikalität setzt die Hamas allerdings sofort den entscheidenden Satz: «... unter dem Islam können die Anhänger aller Religionen in Frieden und Sicherheit leben. » Dies wird in Artikel 31 weiter ausgeführt, wenn die Hamas als eine «humanistische Bewegung» vorgestellt wird, die immer die Menschenrechte der anderen respektiere und schütze, ihnen offen und großherzig gegenübertrete.“(8)
Allerdings weist Baumgartner darauf hin, dass das Feindbild, welches durch die Hamas beschrieben wurde, aus dem christlich-europäischen Anti-Semitismus stamme „und an Vulgarität nicht zu übertreffen“ sei. Das Buch versucht dies dann aus der geschichtlichen Entwicklung her zu erklären. Siehe auch Anlage(19).
Aber die Charta definiert auch eine neue Form des Nationalismus, der sich auf eine „göttliche Grundlage“ berufe. Und, zur Zeit der ersten Hamas Charta, stellte sich die Organisation gegen „friedliche Lösungen“ oder „so genannte internationale Konferenzen“, da die Protagonisten der Hamas nicht daran glaubten, dass dies zu einer Lösung führen würde. Obwohl sich die Befürchtung bestätigte, oder vielleicht gerade deshalb, so könnte man schließen, änderte sich das spätestens in den 1990er Jahren. Denn die Hamas arbeitete seit 2006 an einer Neufassung der Charta, weil die erste Form als überholt und gegenstandslos angesehen worden war. Schon 2006 zeichnete sich ab, dass die Hamas den israelischen Staat anerkennen wird.
Zunächst aber war da 1988 die Proklamation eines palästinensischen Staates durch die PLO, was auf den vernichtenden Widerstand Israels traf, aber auch auf den der Hamas. Und das Buch beschreibt dann wie die palästinensische Staatsgründung am Widerstand aller möglichen Gruppen scheiterte.(2)
Zu diesem Zeitpunkt weigerte sich die Hamas noch, die Teilung Palästinas zu diskutieren. Was sich später jedoch änderte. Sicher dazu beigetragen hat die von der Autorin beschriebene Politik Israels im Sinne des „teile und herrsche“, die sie als „Politik der freundlichen Duldung“ charakterisiert. Zitate von führenden israelischen Persönlichkeiten und in dem Buch beschriebene Aktionen unterstreichen die Deutung.
Von 1983 bis 1988 hatte dann die Hamas keine bewaffneten Angriffe gegen die israelische Besatzung durchgeführt. Schließlich gab es jedoch erste Angriffe, worauf die israelische Besatzungsmacht mit aller Schärfe reagierte und die Hamas 1989 zur Terrororganisation erklärte. Was dazu führt, dass Hamas Mitglieder alleine wegen der Mitgliedschaft lange Gefängnisstrafen erhalten. Der zivilen palästinensischen Verwaltung wurde jeder Kontakt zu Hamas verboten.
Ein Kapitel des Buches beschreibt den bewaffneten Widerstand gegen die Israelische Besatzung zwischen 1983 und 1992. Gefolgt von Informationen über den Kampf in den Jahren 1990 / 1991, also während des zweiten Golfkrieges. Und, man staune und höre: Die Hamas hatte Kuwait unterstützt, und sich dDURCHdamit auf die Seite der Sieger gestellt, während die PLO noch die Meinung vertreten hatte, dass arabische Länder ihre Probleme ohne fremde Einmischung lösen sollten. Was zu eindeutigen finanziellen Erfolgen der Hamas nach dem Krieg führte(17).
Allerdings stieß der Widerstand auf drakonische Maßnahmen Israels. So wurden 1992 415 Hamas-Aktivisten ausgewiesen, deportiert. Dies schloss jedoch für einige Zeit die Reihen des Widerstandes und die Hamas erklärte, nicht nur Siedler und die Besatzungsarmee seien nunmehr die Feinde, sondern jeder aktive Zionist, berichtet die Autorin. Später entspannte sich die Lage und Israel weichte die Deportationsregeln auf.
Ein Kapitel beschreibt dann das Verhältnis der Hamas zum israelischen Staat im Jahr 1992. Während die PLO auf den Osloer Friedensprozess gesetzt hatte, wollte die Hamas den Widerstand fortsetzen. Die Bevölkerung Palästinas interessierte sich in erster Linie dafür, dass die Unterdrückung DURCH Israels aufhörte. Israel unterschrieb zwar die Osloer Verträge, weigerte sich dann aber sie umzusetzen und intensivierte den kolonialen Siedlungsbau. Was letztlich wieder der Hamas Recht gab.
Das Buch geht sehr ausführlich auf diese Phase der Palästina-Krise ein, und beschreibt viele Details. Letztlich zeigte sich aber, was auch Gideon Levy in seiner Jahrhundertrede bitter bemerkte, dass Israel nie bereit war, eine Zweistaatenlösung zu realisieren.
Am 25. Februar 1994 kam es dann zu einem schrecklichen Massaker in einem der heiligen Stätten des Islam. Details in Anhang(20). Goldstein, der Verursacher des Terroranschlages, selbst fand seinen Tod im Chaos, das sich nach dem Massaker entwickelt, wurde aber zum Helden der rechtsextremen Siedler. Mehr dazu in Anhang(5). Tatsächlich wird Goldstein bis heute in Israel verehrt. In einer folgenden UN-Sicherheitsratssitzung waren die USA nicht bereit einer Verurteilung der israelischen Siedlungspolitik zuzustimmen. Erst drei Wochen später kam es dann zu einer solchen, bei der sich die USA enthielten.
Das Buch beschreibt dann, wie die Macht der Siedler schon damals verhinderte, dass es zu einer Verringerung der Siedlungen oder zu einem Siedlungsstopp kam. Man mag sich nicht vorstellen, wie groß der Einfluss dieser extremistischen Siedler heute ist, da noch weitere hunderttausende aus der ganzen Welt hinzu kamen.
Diese Entwicklung begann die Hamas weiter zu radikalisieren, und sie antwortete mit der letzten Waffe der Unterdrückten, mit Selbstmordattentaten. Allerdings bestrafte Israel nach einem Selbstmordattentat die gesamte palästinensische Bevölkerung, vergalt also ein Verbrechen mit einem noch größeren. Nach zwei spektakulären Selbstmordattentaten beendete die Hamas ihre Politik und versuchte wieder, über politische Mittel zum Ziel zu kommen, berichtet die Autorin.
In den Jahren 1997 bis 2000 ergab sich Baumgarten zufolge dann eine Zwickmühle zwischen der Hamas, der Palästinensischen Autonomiebehörde und Israel. Nach den Selbstmordattentaten war die Fernsehstation der Hamas geschlossen worden ebenso wie 20 soziale Einrichtungen. Aber die Hamas habe sich angepasst:
„Vom Oktober 1997 bis zum Beginn der Intifada 2000 ging es der Hamas unter der Führung ihres Gründers und charismatischen Führers Scheich Ahmad Yasin um eben diese Weiterentwicklung der Bewegung und ihre stabile Verankerung in der Bevölkerung unter den Bedingungen einer palästinensischen Regierung unter Arafat und der andauernden israelischen Besatzung.“(12)
Das Buch erklärt die Wichtigkeit von Almosen in der arabischen Welt und wie wichtig islamische Nichtregierungsorganisationen für das Überleben der Menschen sind. Baumgarten weist aber auch darauf hin, dass der entscheidende Grund, der die Hamas immer wieder in extremistische Reaktionen trieb, der strikte Kurs der israelischen Regierung war, insbesondere der immer weitere Ausbau von illegalen Siedlungen auf palästinensischem Land.
Das Buch kommt dann zu den Verhandlungen in Camp David, dem Ende des Osloer Prozesses und dem Beginn der zweiten Intifada. Aber Camp David war von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen, weil Israel auf keinen Fall einem palästinensischen Staat und der Aufgabe der Besatzung zustimmen wollte, wie inzwischen klar ist.
Als Ariel Scharon mit über 1000 Polizisten den Anspruch Israels auf die Heiligtümer des Islam ausdrückte, löste das schließlich die zweite Intifada aus, erklärt das Buch. Während den ersten drei Monaten tötete die israelische Armee 237 palästinensische Zivilisten, darunter 83 Kinder und Jugendliche, israelische Siedler töteten 6 Zivilisten, darunter ein zwei Monate altes Baby. Die Polizei tötete 35 Palästinenser. Die zweite Intifada war ursprünglich durch die säkularen Widerstandskräfte unterstützt worden. Auch die Hamas war zum bewaffneten Widerstand zurückgekehrt, nachdem Camp David als endgültig gescheitert angesehen wurde, so die Erklärungen von Baumgarten. Aber auch die wirtschaftliche Lage der Palästinenser hatte sich unter der Besatzung nicht verbessert, sondern verschlechtert. Dinge, welche von internationalen Organisationen zur Unterstützung aufgebaut worden waren, wurden von Israel systematisch "zurückgebaut“.
Zwischen 2001 und 2003 fand dann ein „Politizid“ an Palästinensern durch Scharon statt. Nachdem die israelische Armee im Gazastreifen ein angebliches Hamas-Mitglied tötete, wobei in seinem Taxi dabei ein Passagier ebenfalls ums Leben kam und mehrere schwer verletzt wurden, reagierte der Widerstand mit einem Selbstmordattentat.
Scharon erklärte ganz offen, wegen strategischer Wasserreserven und aus anderen Gründen keinen palästinensischen Staat zulassen zu wollen, und dass er maximal 42 Prozent des Westjordanlandes bereit war aufzugeben. Um sein Ziel zu erreichen wurde die Einwanderung von einer weiteren Million Menschen nach Israel und in die besetzten Gebiete forciert.
In der Folge intensivierte sich der Jihad und Baumgarten erklärt, was das bedeutet: unter anderem waren damit auch wieder Selbstmordattentate verbunden. Man findet in dem Buch auch die Rechtfertigung der Hamas für die damaligen Selbstmordattentate:
„1. Diese Attentate seien als Märtyrer-Operationen eine legitime Verteidigung gegen eine gewaltsame, gnadenlose und tödliche Besatzung, die trotz aller UN-Resolutionen von der internationalen Gemeinschaft bis 2001, also seit 34 Jahren, nicht beendet worden sei.2. Diese Attentate seien das einzig effektive und legitime Mittel in der Hand der Palästinenser gegen die weit überlegene militärische Macht der israelischen Armee mit ihren Apache-Hubschraubern und F-16-Bombern.“(13)
Baumgarten vermutet aber, dass der Grund in erster Linie in der Vergeltung für die tödliche Gewalt zu suchen war, welche von der israelischen Besatzungsmacht gegen die Palästinenser ausgeübt wurde.
Im Jahr 2003 wurde schließlich zwischen allen Widerstandsgruppen, auch der Hamas, und der israelischen Besatzungsmacht ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen. Worauf die Besatzungssoldaten deutlich weniger Palästinenser töteten und verletzten, aber umso mehr inhaftierten. Aber bevor es dazu gekommen war, waren viele Waffenstillstandsvorschläge, allerdings auch von der Hamas, in den Wind geschlagen worden. Auch durch Israel, wie das Buch erklärt, mit voller Unterstützung der kolonialen Unterstützer Israels:
„Die israelische politische und militärische Führung, zusehends aber auch der Westen, und zwar die EU ebenso wie das übrige Europa, wollte offensichtlich keine Kompromisslösung, selbst keinen Waffenstillstand, mit den radikalen islamistischen Organisationen eingehen. Man versuchte, diese im Rahmen der Rhetorik des «Kampfes gegen den Terror» allgemein zu dämonisieren und zu isolieren.“(14)
Was die Hamas immer zynischer werden ließ, und viele Mitglieder weiter radikalisierte. Und so brach schon im Sommer 2003 der Waffenstillstand zusammen, als ein Hamas-Mitglied, entgegen den Befehlen der Führung ein Selbstmordattentat ausführte, bei dem 23 Menschen getötet und über 100 verletzt wurden.
„Israel reagierte mit einer «außergerichtlichen Tötung» und bombte seinerseits einen der gemäßigtsten Hamas-Führer aus Gaza, Ismail Abu Schanab, in den Tod. Die israelische Presse meldete damals, dass der israelische Geheimdienst eindeutige Informationen habe, dass die Hamas-Führung nicht hinter der Busbombe von Jerusalem gestanden hatte. Die politische Führung in Jerusalem versuchte dennoch nicht, einen neuen Gewaltzyklus zu verhindern.“(15)
Eskalation schien vielmehr im Interesse der israelischen Führung zu sein und als Folge sah man wieder ein Ansteigen der Gewalt von beiden Seiten.
Auch 2004 stand im Zeichen der außergesetzlichen Tötung von palästinensischen Führern durch Israel. Aber die Reaktion der Hamas war, sich an den Kommunalwahlen in Palästina zwischen 2004 und 2005 zu beteiligen. Dabei gewann die Hamas in städtischen Zentren und fast überall im Gazastreifen. Wobei zwei Ergebnisse in Flüchtlingslagern gerichtlich hinterfragt wurden. Interessanterweise wurde in Bethlehem ein christlicher Bürgermeister durch die Hamas an die Macht gebracht. Das Buch beschreibt, wie die Hamas 81 von 121 Gemeinden für sich gewann. Wobei die soziale Arbeit neben der politischen Aktivität der Hamas entscheidend war.
2006 beteiligte sich die Hamas auch an den palästinensischen Parlamentswahlen. Die Wahlen wurden von 17 000 von der EU finanzierten Wahlbeobachtern überwacht. Israel versuchte jedoch immer wieder die Reisen von Mandats-Bewerbern zu verhindern. Und in Jerusalem hatte Israel bis kurz vor der Wahl erklärt, dass die Bewohner nicht teilnehmen dürften. Hinzu kamen Verhaftungen und Polizeibesuche bei Bewerbern. Völlig überraschend gewann die Hamas mit großem Vorsprung vor allen anderen Parteien. Sie erhielt 74 Sitze, während die Fatach nur 45 Sitze für sich beanspruchen konnte. Dann gab es noch vier kleinere Parteien mit 3 bzw. 2 Sitzen. Die Wahlbeteiligung hatte bei 74 bis 82% gelegen, je nach Region. Nur in Jerusalem konnten wegen der massiven Interventionen der israelischen Polizei und der Geheimdienste nur 47,5% der Palästinenser ihre Stimme abgeben. Das Buch berichtet weiter, welche Motive die Wähler hatten, um trotz der Widrigkeiten, welche die Besatzung veranstaltete, zur Wahl zu gehen.
Bedingt durch die Besatzung, musste die konstituierende Sitzung in Ramallah und in Gaza stattfinden, weil Israel ein Reiseverbot verhängt hatte. Die Hamas erklärte, eine Regierung der nationalen Einheit bilden zu wollen, in der alle Parteien eingeschlossen werden sollten.
Die USA verhinderten jedoch, dass andere Parteien in die von der Hamas geführte Regierung eintraten. Und ein internationaler Boykott verhinderte die Ausübung der demokratischen Rechte der Palästinenser. Denn der Westen hatte nicht erwartet, dass die Hamas die Wahlen gewinnen würde, ansonsten wäre sie wohl nicht zugelassen worden. Und im Jahr 2024 muss man feststellen, dass auch keine weiteren Wahlen mehr zugelassen wurden, weil die Palästinenser drohten nicht so zu wählen, wie es eigentlich für sie vorgesehen war.
Im letzten Kapitel begründet dann die Autorin schon im Jahr 2006, dass der Westen nicht an der Hamas vorbeikommen werde. Natürlich war 2006 nicht das Ende der Geschichte, es folgte ein kurzer Krieg zwischen der Hamas und der Fatach, aber am Ende setzte sich die Hamas in Gaza durch, und die Fatach in der Westbank. Ideale Situation für Israels „teile und herrsche“.
Wer mehr Details wissen möchte, sollte sich unbedingt diese Buch-Wiederauflage sichern. Sie enthält auch die erste Charta der Hamas in deutscher Übersetzung und ein Wahlprogramm. Wer etwas über die neue Charta der Hamas erfahren will und Veränderungen nach 2006, der sollte den Artikel bzw. Podcast von mir vom 8. Februar 2024 bemühen(16).
Hinweise und Quellen
Der Autor twittert zu tagesaktuellen Themen unter https://x.com/jochen_mitschka
(1) Hamas, Der politische Islam in Palästina – Helga Baumgarten – Gamila Basel Mai 2024, ISBN 9783759221322 (Hamas, Baumgarten)
(2) „Die Hamas hatte dazu nur ein kategorisches Nein. In Flugblatt Nr. 27 vom 3. August 1988, also in direktem Anschluss an den Verzicht Jordaniens auf das Westjordanland und auf die Veröffentlichung des Entwurfs für die Proklamation eines palästinensischen Staates, wie er im Orient-Haus gefunden worden war, nennt die Hamas die Idee direkter Verhandlungen mit Israel Teil «jüdischer Komplotte» mit dem alleinigen Ziel des «Verkaufs» der «heiligen Orte.» Am schwersten sei zu ertragen, dass diese Ideen von «Angehörigen unserer Nation», «innen» und «außen», also in den besetzten Gebieten und in der Diaspora, diskutiert würden, mit dem Versuch, sie allen Ernstes zu verwirklichen. Die Hamas setzt die absolute Ablehnung aller Pläne dagegen, die nach ihrer Interpretation Kapitulation bedeuten könnten: Das galt ebenso für die Zweistaatenlösung wie auch für die Idee einer internationalen Konferenz oder den Vorschlag zu direkten Verhandlungen mit Israel.“ Hamas, Baumgarten, Seiten 94/95.
(3) Übersetzung der Autorin aus dem Arabischen. Hamas, Baumgarten, Hamas, Baumgarten S. 51.
(4) „Artikel 3 spricht als Mitglieder der Hamas ausschließlich Muslime an. Tatsächlich sollen vor allem während der zweiten palästinensischen Intifada aber auch Christen mit der Hamas gekämpft haben. Ein palästinensischer Muslimbruder definiert es so: Jeder Muslimbruder ist Hamas, nicht jedes Hamas-Mitglied aber ist ein Muslimbruder. Nicht-Muslime können nur bei der Hamas Mitglieder werden.“ (Interview der Autorin mit einem Scheich der Muslimbruderschaft, anonym, April 2006.)
(5) „Goldstein selbst fand seinen Tod im Chaos, das sich nach dem Massaker entwickelte. Er wurde zwei Tage später in einem großen Beerdigungszug, der von Jerusalem nach Kiryat Arba führte, von über dreihundert Anhängern und seinen Angehörigen beerdigt. Journalisten, die über diese Beerdigung eines Massenmörders berichteten, wurden von Siedlern als «Nazis» beschimpft. In seiner Grabrede «predigte » Rabbi Yaacov Perrin, dass «eine Million Araber nicht einen jüdischen Fingernagel wert» seien.“ (Hamas, Baumgarten, S. 144)
(6) Skocpol (1982), 273–276 - Skocpol, Theda: „Rentier State and Shi’a Islam in the Iranian Revolution“, in, Theory and Society Nr. 11.3, 1982, S. 265-283
(7) Hamas, Baumgartner, S. 66
(8) Hamas, Baumgartner, Seiten 80/81
(9) Hamas, Baumgartner, Seite 84
(10) Legrain (1991 b), S. 79. Legrain, Jean-Francois: „A Defining Moment: Palestinian Islamic
(11) Hamas, Baumgarten, Seiten 143/144
(12) Hamas, Baumgarten, S. 177
(13) Hamas, Baumgarten, S. 209
(14) Hamas, Baumgarten, S. 215
(15) ebd
(17) „In finanzieller Hinsicht kam die Hamas deshalb als der klare Gewinner aus der Golfkrise und aus dem Golfkrieg heraus. Schon 1990 hatte sie begonnen, der PLO den Rang als größter Empfänger finanzieller Unterstützung aus Kuwait abzulaufen: Kuwait bezahlte damals nur noch 27 Millionen Dollar an die PLO, während 60 Millionen Dollar an die Hamas flossen. In den folgenden Jahren hielten die Golfstaaten die enormen finanziellen Zahlungen an die Hamas weiter aufrecht.“ Hamas, Baumgarten S. 113.
(18) «Die Intifada unseres standhaften Volkes im besetzten Gebiet kam als klare Ablehnung der oppressiven Besatzung, als Ablehnung der Landenteignungen und des Baus von Siedlungen, als Ablehnung der Unterdrückungspolitik seitens der Zionisten. Sie kam als Appell an das Gewissen all derer in unserer Mitte, die nach einem mickrigen Frieden lechzen, nach sinnlosen internationalen Konferenzen, nach dem Verrat separatistischer Versöhnungen wie dem von Camp David. Die Intifada kam, um sie zu überzeugen, dass der Islam die Lösung und die Alternative ist ... Nehmt Eure Hand von unserem Volk – von unseren Städten – von unseren Flüchtlingslagern – von unseren Dörfern – unser Kampf mit Euch ist ein Glaubenskampf, ein Kampf um die Existenz, ein Kampf um das Leben.»“(3)
(19) Und sie kommt zu dem Schluss: „Die in der Charta vorgefundenen Denkmuster lassen sich daher nur nachvollziehen, wenn sie als überdimensionale – und möglicherweise unbewusste – Vergrößerung des Feindes verstanden werden, der als Teil einer globalen Verschwörung vorgestellt wird. Mit eben diesem «Trick» aber wird auch die sonst unerklärliche und letztlich unerträgliche Niederlage gegen diesen Feind erklärt und erleichtert.“(10)
(20) „Baruch Goldstein, ein extremistischer israelischer Siedler und Mitglied der Kach-Partei aus der etwas außerhalb von Hebron gelegenen Siedlung Kiryat Arba, erschoss in Armeeuniform und mit seinem Armee-Maschinengewehr am frühen Morgen, als die Gläubigen gerade in der Moschee zum Gebet versammelt niederknieten, 29 Palästinenser. An diesem Tag im Fastenmonat Ramadan waren sehr viele Gläubige zum Morgengebet gekommen. Bei dem Versuch, dem Massaker zu entkommen, wurden sechs weitere Menschen direkt vor der Ibrahims-Moschee von israelischen Soldaten erschossen. Im Laufe des Tages wurden schließlich noch fünf Palästinenser in Hebron getötet. Dieser Tag sollte der blutigste Tag seit dem Ende des Juni-Krieges 1967 werden.“(11)
+++ Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags. +++ Bildquelle: Tomas Ragina / shutterstock
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