Seit dem Untergang der Sowjetunion ist der Sozialismus kein Thema mehr, das die Menschen im politischen Westen beschäftigt. Einzig in der Abgeschiedenheit einiger Universitäts-Seminare und Randgruppen müht man sich weiter an ihm ab. Dennoch haben die Krisen der letzten Jahre die Suche nach Alternativen zum Kapitalismus verstärkt.
Ein Kommentar von Rüdiger Rauls.
Gut gemeint
Vor einigen Jahren starb der italienische Marxist Domenico Losurdo. Nun kam sein letztes Buch in den Handel: „Der Kommunismus – Geschichte, Erbe und Zukunft“. Titel und Thema bergen in sich das Zeug für Enttäuschungen. Losurdo hatte zu seinen Lebzeiten für Erleichterung unter der Linken gesorgt. Einerseits war er keiner, der sein marxistisches Denken verleugnete wie so manche andere nach dem Fall der Mauer. Andererseits kam er als unbelasteter Hoffnungsträger daher, der versuchte, dem Sozialismus ein moderneres Gesicht zu geben.
Klassenkampf stand bei ihm nicht mehr so sehr im Vordergrund. Dieser hatte bis in die 1970er Jahre hinein im Rahmen der Kriege gegen die Kolonialherrschaft noch eine gewisse Rolle gespielt. In seiner zugespitzten Form wie noch zwischen den beiden Weltkriegen war er zuletzt kaum noch in Erscheinung getreten. Er hatte sich der Werteorientierung geschlagen geben müssen, die nach dem Vietnamkrieg besonders die westlichen Gesellschaften immer mehr durchdrungen hatte.
Das wird auch in Losurdos Werk deutlich, der den neueren gesellschaftlichen Bewegungen mehr Bedeutung beimaß als den Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Proletariat. Das entsprach dem Zeitgeist. Mehr Verständnis vom Scheitern des sowjetischen und Erhellendes über die Perspektiven des Sozialismus insgesamt gehen von Losurdo nicht aus. Dennoch meint er es gut mit ihm. Aber für ihn als Akademiker steht die Ideen-Geschichte im Vordergrund und weniger die Umstände, mit denen die Versuche sozialistischer Staatsbildung in der Praxis hatten fertig werden müssen.
Denkarbeit
Das Scheitern des frühen, des sowjetischen Sozialismus wird oft als Folge falsch verstandener oder falsch angewandter Theorien gesehen. Der Marxismus überlebte im Biotop der Seminarräume, wo er nach dem Dahinsiechen des materialistischen Denkens im Westen als Teil des Lehrplans weiterhin geduldet wird. Aber es ist ein kümmerliches Dasein mit den unvermeidlichen inzestuösen Fehlbildungen, wenn Gedankengut wie Erbgut immer untereinander weitergegeben werden.
Der Nachteil solcher Projekte besteht in der Konzentration auf die Denkarbeit in den abgeschotteten Welten der Elfenbeintürme. Das ist auch nicht weiter verwunderlich. Denn wie soll Sozialismus in der Praxis überprüft werden? Das geht nur im Sozialismus selbst. Eine naturwissenschaftliche Theorie beweist sich durch ihre Umsetzung im Labor, im Feldversuch. Sie bestätigen die Theorie oder aber die Theorie scheitert an ihnen. Simpel gesagt: Die Brücke bricht zusammen, wenn die theoretischen Grundlagen nicht stimmen.
Das geht beim Sozialismus so nicht wie auch nicht bei jeder anderen Gesellschaftstheorie. Selbst die soziale Marktwirtschaft sah im wirklichen Leben anders aus als in den Büchern ihrer Vordenker. Jedoch haben deren Abweichungen von der Theorie niemanden interessiert, solange der Kapitalismus den meisten Menschen ein auskömmliches Leben bieten konnte. Den meisten war es egal, ob ihnen der Wohlstand des Wirtschaftswunders als Ergebnis einer angeblich überlegenen marktwirtschaftlichen Theorie erklärt wurde.
Genau so egal ist den meisten Menschen auch heute, ob die Inflation von sogenannten Experten als eine Art wirtschaftliche Naturgewalt dargestellt wird oder ob sie nur ganz gewöhnlich als Preissteigerung daher kommt. Für sie ist wichtig, dass die Preise wieder runtergehen. Was sogenannte Wirtschaftswissenschaftler und Politiker daraus machen, interessiert sie in der Regel nicht und noch weniger die damit verbundene akademische Rechthaberei.
Sozialistische Theorie und Wirklichkeit
Falsche Theorien trugen nur wenig dazu bei, dass der sowjetische als eine frühe Form des Sozialismus sich schwer tat in seiner wirtschaftlichen Entwicklung. Hier wird bewusst von einer frühen Form gesprochen, weil dieses Gesellschaftssystem wie jedes andere auch dem Wandel der Entwicklung unterliegt. Der heutige Kapitalismus ist gegenüber dem Manchester-Kapitalismus vor annähernd zweihundert Jahren auch nicht mehr wiederzuerkennen. Aber in beiden Fällen handelt es sich um Kapitalismus.
Wieso aber sollte Veränderung nur den Kapitalismus erfassen, nicht auch den Sozialismus? Gerade dieser hat sich gewaltig entwickelt, wenn man dessen Fortschritte betrachtet zwischen dem ersten Versuch sozialistischer Staatsbildung, der Pariser Kommune, und seinem heutigen Zustand in China oder Vietnam. Besonders China ist mittlerweile eine moderne Gesellschaft, die dem westlichen Kapitalismus in weiten Bereichen bereits überlegen ist – und das innerhalb weniger Jahrzehnte.
Das jedoch passt nicht in das Bild von Armut und ideologischer Starrheit, das der politische Westen immer gerne über den Sozialismus verbreitet hat. Aber auch viele linke Dogmatiker machen China den Vorwurf, den Sozialismus verraten zu haben. Für sie steht ideologische Reinheit an höherer Stelle als gesellschaftlicher Wohlstand. Das aber ist eine jener inzestuösen Fehlbildungen des sozialistischen Gedanken. Gerade der Sozialismus ist doch jene Gesellschaftsform, die die Armut überwinden und das Leben lebenswert gestalten will – für alle. Das wird von solchen Kritikern oftmals vergessen.
Es ist nicht Sinn des Sozialismus, die Lehren der marxistischen Altväter zu erfüllen und deren Richtigkeit unter Beweis zu stellen, was sie selbst auch nie wollten. Vielmehr ist er eine Gesellschaftsform, die den Wohlstand mehren will. Ihm geht es nicht um ideologische Reinheit in gesellschaftlicher Armut. Wozu soll Armut gut sein? Die Menschen wollen ein menschenwürdiges Leben führen, und das erwarten sie vom Sozialismus. Dafür haben sie gekämpft, nicht für ideologische Rechthaberei.
Dieses Bild einer Gesellschaft des Mangels wurde geprägt durch den frühen Sozialismus der UdSSR, die das wirtschaftliche Niveau des westlichen Kapitalismus nicht erreichen konnte. Das war aber nicht das Ergebnis falsch ausgelegter marxistischer Theorien, eines menschenfeindlichen Machtapparats oder gar der Planwirtschaft, wie uns westliche Wirtschaftswissenschaftler immer weismachen wollen. Wo Mangel herrscht, müssen die vorhandenen Mittel sinnvoll und planvoll eingesetzt werden. Nur wer im Überfluss lebt, kann wie der Westen das Geld aus dem Fenster werfen.
Das soll nicht heißen, dass die russischen Kommunisten keine Fehler gemacht hatten. Der größte war die Überschätzung der eigenen Möglichkeiten, indem man glaubte und verkündete, den Kapitalismus innerhalb kürzester Zeit überflügeln zu können. Darin drückte sich sehr viel Begeisterung aus und noch mehr Unkenntnis in Wirtschaftsfragen. Denn es genügt nicht, im Sozialismus ein gerechteres gesellschaftliches Modell zu haben. Auch die Begeisterung der Bevölkerung kann trotz aller Opferbereitschaft keine Berge versetzen.
Neben all diesen Bedingungen darf eine wichtige Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg, die auch heute noch von vielen unterschätzt und sogar verachtet wird, nicht übersehen werden: Kapital. Das Vorhandensein von Kapital bedeutet nicht Kapitalismus. Letzterer ist die Gesellschaftsform des Bürgertums als herrschender Klasse, die sich als die Besitzer von Kapital charakterisiert. Kapital aber muss in allen Gesellschaften bereit stehen, um Wirtschaftswachstum zu beschleunigen - nicht allein im Kapitalismus. Das wird oft verwechselt: Das Vorhandensein von Kapital ist nicht gleich Kapitalismus.
Für ein besseres Leben
Wie wichtig das Kapital für die gesellschaftliche Entwicklung ist, soll hier an einem einfachen Beispiel verdeutlicht werden. Der Wunsch nach einem besseren Leben ist oft verbunden mit dem Leben im eigenen Haus. Dieser Wunsch kann erfüllt werden, indem man monatlich Geld anspart. In diesem Fall wird der Wunsch nach einem besseren Leben auf Jahre hinausgeschoben und erst spät, vielleicht sogar nie verwirklicht. Aber die Menschen leben jetzt und wollen sich nicht mit der Zukunft vertrösten lassen.
Der andere Weg ist der Einsatz von fremdem Kapital, also Kredit. Dann ist man zwar verschuldet, bezahlt letztlich auch mehr für das Haus, kommt aber sofort in den Genuss dieses besseren Lebens, das man sich ersehnt hat. Nicht anders ist es mit der Wirtschaft. Ist ausreichend Kapital vorhanden, kann dieses wie im Falle Chinas in die Wirtschaft investiert werden, um das Wachstum zu beschleunigen.
China ist der Häuslebauer, der sich Geld leihen konnte. Die Chinesen hatten den Vorteil, dass westliches Kapital zur Genüge vorhanden war und nach Investitionsmöglichkeiten suchte. Der Westen investierte sein Kapital in China nicht aus Nächstenliebe sondern aus Profitinteressen. Dadurch wurde aber China noch lange kein kapitalistisches Land, was heute oftmals falsch verstanden wird. Denn das Proletariat mit seiner kommunistischen Partei ist die herrschende Klasse in China. Sie bestimmen die gesellschaftliche Entwicklung, nicht das Bürgertum, nicht die Kapitalbesitzer.
Die Sowjetunion dagegen war der Häuslebauer, der sein Haus nur Stück für Stück bauen konnte entsprechend seinen Einnahmen, weil er keinen Kredit bekam oder vielleicht auch keinen wollte, um nicht erpressbar zu sein. Andererseits war auch im politischen Westen Kapital nach dem Krieg knapp, solange es noch keine unbegrenzten Finanzmärkte gab. Und da man das Kapital im Westen gut in der eigenen Realwirtschaft anlegen konnte, sah man keinen Grund, es den Kommunisten als dem politischen Gegner zu leihen.
Aber sowohl der Sozialismus in der Sowjetunion als auch der in China, Vietnam und anderen Staaten ist getragen von dem Wunsch und getrieben von der Forderung nach einem besseren Leben. Das gilt selbst für den Kapitalismus. Auch er will keine Armut, wie so manche glauben. Von Armen kann man nicht reich werden. Armut bringt keinen wirtschaftlichen Fortschritt, keinen Profit.
Für den Kapitalismus aber gilt, dass er aufgrund seiner inneren Triebkräfte und Widersprüche immer weniger in Lage ist, seinen Gesellschaftsmitgliedern ein besseres Leben zu ermöglichen. Dieser Anteil an der Bevölkerung wächst und wird sich auf Dauer nicht zufriedengeben mit der Verschlechterung seiner Lebensumstände. Sie werden sich nach neuer gesellschaftlicher Ordnung umtun müssen, die ihren Bedürfnissen eher gerecht und hoffnungsvoller Entwicklung Raum gibt. Den Sozialismus haben dabei aber die wenigsten im Blick.
Für den Chef des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, jedoch scheint die Lage ernster zu sein, als in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung lässt ihn in einem Meinungsbeitrag über dieses Thema direkt zum Leser sprechen: „In der Nachkriegsgeschichte war die Demokratie in unserem Lande selten so in Gefahr wie heute“(1).
Gegen den sozialistischen Gedanken während des Systemkonflikts waren die deutschen Arbeiter immun gewesen. Mittlerweile scheint die Gefahr von innen größer, als sie von außen jemals war. Der Zweifel an der bestehenden Ordnung hat besorgniserregend zugenommen, ist in allen gesellschaftlichen Schichten verbreitet und zerfrisst ihr Fundament. Das ist an der Oberfläche noch nicht wahrnehmbar, aber die tektonischen Platten der Gesellschaft sind in Bewegung.
Quellen und Anmerkungen
(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.4.2024: Die Meinungsfreiheit ist kein Freibrief
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
+++ Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse+++ Bildquelle: fran_kie / shutterstock
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