Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.
Die kulturellen Unterschiede im Global Village sind in den letzten Jahrzehnten in atemberaubender Weise geschliffen worden. Adidas, Coca-Cola und Konsorten begrüßen den Reisenden vor Ort wie der berühmte Igel den Hasen. Auf dem Altar der Globalisierung, die in den meisten Teilen der Welt nur Elend und Lächerlichkeit produziert, wurde auch die Gastfreundschaft geopfert, welche über Jahrhunderte hinweg als Bindeglied zwischen den Kulturen lag. Jetzt ist sie weg, verschwunden. Selbst auf Tahiti, dem Inbegriff des herzlichen Entgegenkommens. Zwar hängen sie dem Ankommenden am Flughafen nach wie vor Blumenkränze um, aber das ist dem Südsee-Image geschuldet, dass sich in den Köpfen der Besucher festgesetzt hat.
Dennoch hatte ich während meiner sechswöchigen Recherche-Reise für „Das Tahiti-Projekt“ etwas beobachten können, das Hoffnung macht. Es war der Spaß, mit dem die Tahitianer ihre kulturellen Wurzeln wieder freizulegen beginnen, die unter den Betonlasten der Zivilisation zu ersticken drohten. Ob es die Tattoo-Tradition ist, die Tänze, oder der Bootsbau – all dies wird in alter Manier wiederbelebt. Die Tattoos werden wie früher gestichelt, was sehr schmerzhaft ist. Die Motive bilden die Verdienste eines Menschen ab, im Grunde zeichnen sie die Vita einer Person auf. Die Tänze sind keine effekthaschende folkloristische Show mehr, sie tauchen tief ein in die Geschichte der Insulaner. Und die hölzernen schlanken Pirogen gleiten in alter Bauweise wieder ohne Motor übers Meer.
Auf Tahiti denkt man sogar darüber nach, die Gerichtsbarkeit wieder jener Rechtsprechung anzupassen, die auf den Gesellschaftsinseln vor dem Eintreffen der Europäer wesentlich zum sozialen Frieden beigetragen hat. Ich habe mir vor Ort erklären lassen, wie eine solche Rechtsprechung funktioniert. Auf der Basis dieser Information ist das folgende Kapitel entstanden. Zum besseren Verständnis sei erwähnt, dass Maeva und Cording meine Protagonisten im „Tahiti-Projekt“ sind:
Auf dem Weg zum Versammlungshaus von Tiarei offenbarte ihm Maeva, dass er gleich Zeuge einer außergewöhnlichen Gerichtsverhandlung werden würde. „Bisher ist Tiarei die einzige Gemeinde auf Tahiti, die diese Tradition der Rechtsprechung wieder aufgenommen hat. Zwar gibt es in Papeete ein zentrales Appellationsgericht, es wird aber nur bemüht, wenn ein Angeklagter sich dem Urteil seiner Gemeinde nicht fügen will, was selten vorkommt.“
Inzwischen hatten sie etwa hundert Dorfbewohner im Schlepptau. Fast ebenso viele strömten aus der entgegengesetzten Richtung zum Versammlungshaus. Die Menschen waren von einem Ernst durchdrungen, der seinen Eindruck auf Cording nicht verfehlte. Vor dem Eingang verschmolzen die beiden Züge zu einer Bewegung und strömten, einem Sturzbach gleich, bis in die letzten Winkel des langen Gebäudes, das vollständig mit Matten ausgelegt war.
Nach ein Weile nahmen zwei Frauen und ein älterer Herr im gelben Ornat auf dem Podium Platz. Schlagartig wurde es ruhig unter dem Pandanusdach. Der Mann fuhr mit erhobener Hand über die Köpfe hinweg, als wollte er auch noch das letzte Hüsteln einsammeln. „Es gibt da fünf Gaben, meine Freunde,“ begann er seine Rede in die Stille hinein. „Große Gaben, bekannt als die höchsten, bekannt als die ältesten noch nie außer Geltung gewesene Gaben. Welche fünf Gaben sind das? Erstens: wir stehen ab vom Töten. Zweitens: wir stehen ab vom Stehlen. Drittens: wir stehen ab von unrechtem geschlechtlichen Verkehr. Viertens: wir stehen ab von trügerischer Rede. Fünftens: wir stehen ab vom Genuss berauschender Mittel. Dadurch gewähren wir unermesslich vielen Wesen Sicherheit vor Schrecken, Feindschaft und Bedrückung. Über die Missachtung dieser fünf großen Gebote wollen wir heute zu Gericht sitzen.“
Maeva war ganz nahe gerückt, sie hatte den Text Satz für Satz übersetzt, ihm die beeindruckenden Worte quasi mit ihrem Atem verabreicht.
„Das Gericht tagt nur einmal im Jahr,“ flüsterte sie. „Die Sitzung wird immer mit derselben rituellen Ansprache eröffnet.“
Das Richter-Triumvirat bestimmte nun aus der Mitte der Dorfbewohner fünf Männer, die sich seitlich des Podiums in einer Reihe aufstellten, wo sie aus den Händen eines Gerichtsdieners kurze geflochtene Peitschen empfingen, die sie sich unter die Achseln klemmten, um dann stumm und regungslos über die Versammlung hinweg zu schauen.
„Was sind das für Leute?“ fragte Cording.
„Das sind die Auspeitscher,“ antwortete Maeva.
„Auspeitscher…?!“
„Psst…“
Eine der beisitzenden Richterinnen zog Bilanz. Sie stellte fest, dass dem hohen Gericht in den vergangenen zwölf Monaten sieben Diebstähle, neunzehn Ehebrüche und dreizehn Betrugsfälle zur Anzeige gebracht worden waren. Die Angeklagten wurden namentlich verlesen und gefragt, ob sie sich schuldig bekannten, was ausnahmslos geschah. Cording blickte in die Gesichter der Auspeitscher, die keinerlei Regung zeigten. Als erstes mussten die Diebe erklären, wie sie sich die Wiedergutmachung ihrer Missetaten vorstellten. Die meisten versprachen, das gestohlene Gut an die Geschädigten zurückzugeben und ihren Opfern ein Geschenk zu machen. Die Ehebrecher schworen, dass sie von ihrem verwerflichen Tun Abstand nehmen würden, nicht wenige waren dabei, die den Gehörnten unter dem Gelächter der Anwesenden die eigene Frau versprachen, was aber nur ein symbolisches Versprechen war, wie Cording erfuhr. Die Betrüger gelobten unisono, bis zur nächsten Verhandlung an keiner öffentlichen Versammlung des Dorfes teilzunehmen, was vom Publikum mit Beifall quittiert wurde.
Der oberste Richter erinnerte daran, dass eine Schuld nicht nur dann vorliege, wenn sie entdeckt und zur Anzeige gebracht wurde. Schuldhaftes Verhalten mache sich in der Seele eines Menschen immer bemerkbar. Wer aber nicht die Kraft fände, sich diese Schuld einzugestehen, riskiere, dass sie in ihm wie ein Geschwür heranwachse und letztlich auf die Gemeinschaft abstrahle. Deshalb rate er allen Anwesenden, die heutige Gelegenheit zu nutzen und sich öffentlich zu bekennen.
Cording traute seinen Ohren nicht, als sich der alte Mann nach kurzem Zögern selbst eines Vergehens bezichtigte. Er habe der Vahine Itae eine falsche Auskunft erteilt, als sie zu ihm gekommen war, um sich zu erkundigen, ob es ihre Pflicht sei, eine alte Satellitenschüssel zu entsorgen, die ihr Sohn des Nachts heimlich in Betrieb nahm.
„Ich habe gesagt, dass der Empfang amerikanischer Fernsehprogramme verboten sei auf Tahiti. Das war gelogen, eine solche Verordnung gibt es nicht.“
Das Geständnis des Richters wirkte wie eine Initialzündung. Ein Dorfbewohner nach dem anderen erhob sich und bekannte seine Sünden. Nach jedem Bekenntnis ließen die Auspeitscher über ihren Köpfen die Peitschen knallen. Anschließend legten die Sünder selbst ihre Strafe fest, die zumeist darin bestand, der Gemeinschaft einen besonders wertvollen Gegenstand aus ihrem Besitz zu spenden. Auf diese Weise verwandelte sich der Gerichtssaal abwechselnd in eine Kirche und in einen Basar. Die Mischung aus öffentlicher Beichte und angeregtem Tauschhandel besänftigte letztlich sogar den Zorn jener, die durch die überraschenden Geständnisse ihrer Nachbarn direkt betroffen waren. Und da es fast jeden danach drängte, sich zu offenbaren, glich sich das Sündenregister am Ende nahezu aus. Alle der hier Versammelten waren irgendwie Täter und Opfer zugleich.
Das Zeremoniell zog sich endlos in die Länge.
„Was sollte das Geständnis des Richters am Anfang?“ fragte Cording seine Begleiterin. „In keinem Land der Welt wäre es denkbar, dass ein sich selbst belastender Richter weiterhin den Vorsitz führt.“
„Schade, oder?“
Cording sah sie verblüfft an. Dann musste er lachen. Er stellte sich einen deutschen Richter vor, der sich bei einem Scheidungsprozess der Bigamie bezichtigte und dann seelenruhig die Verhandlung eröffnete. Da durfte man auf Milde hoffen.
„Was ist mit den amerikanischen Fernsehprogrammen, auf die ihr angeblich freiwillig verzichtet?“ fragte er.
Maeva deutete auf die türkisfarbene Lagune, die schwarzgrünen Berge, das fruchtbare Tal mit seinen leuchtenden Obstplantagen: „Ist dies das Land, in dem man sich nach explodierenden Autos, Schießereien und dem Seelenstriptease in billigen Talkshows sehnt?“
„Sind sie verboten oder nicht?“
„Du verstehst das nicht,“ antwortete Maeva in nachsichtigem Ton. „Wir arbeiten nicht mit Verboten, wir belohnen die Menschen. Wer seine Satellitenschüssel abgibt, wird mit bestem Bauholz belohnt. Inzwischen sind sie vollständig verschwunden, oder fällt dir noch eine auf?“
Die Schüsseln, die den Häusern früher ihren Stempel aufgedrückt hatten und sie zu Dependancen eines weltweiten Verdummungsystems machten, waren verschwunden. Dieses Erbe war bereinigt. Wie so vieles andere auch, was hier auf keinen Fall hingehörte …
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Fauzi Muda / shutterstock
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Es wäre angebracht, eine solche Tradition bei uns einzuführen. Doch es setzt voraus, dass die Menschen die 5 Geboten akzeptieren und vielleicht die folgenden Gebote ebenfalls:
1. Ich stehe dafür ein, die Übertretung der Gebote nicht mit Rache zu verfolgen
2. Ich stehe dafür ein, Geduld und Nachsicht zu üben
3. Ich stehe dafür ein, Gerechtigkeit allen widerfahren zu lassen
4. Ich stehe dafür ein, der Wahrheit zu dienen
5. Ich stehe dafür ein, die Gemeinschaft zu stärken
6. Ich stehe dafür ein, mich selber zu achten, wie ich such meine Mitwelt achte, unabhängig von Ansehen, Herkunft oder Rasse.
Vielleicht wären die positiven Gebote eine gute Ergänzung zu den 5 oben genannten der Tahitianer.