
Der deutsche Bundeskanzler dankt Israel, dass es für uns die Drecksarbeit macht. Auch die Ukraine verteidigt mit dem Blut ihrer Bürger unsere Freiheit. Was aber sagen solche Sichtweisen aus über das Denken der westlichen Führungen und den Zustand ihrer Gesellschaften?
Ein Standpunkt von Rüdiger Rauls.
Keine Drecksarbeit ohne Dreck
Es war ein Satz, den Merz so dahin gesagt hatte, ohne sich anscheinend seiner tieferen Bedeutung bewusst zu sein. Teile der Öffentlichkeit reagierten darauf mit der gewohnten moralischen Empörung. Wieder andere stellten sich voll hinter diese Aussage des Kanzlers. Endlich werde einmal aufgeräumt mit den Mullahs und der Bedrohung, die sie nach westlicher Meinung darstellen. Auch Trump glaubt anscheinend, dass der Angriff auf den Iran so etwas wie die Endlösung der Konflikte im Nahen Osten bringt. Aber welche Einstellungen bringen solche Aussagen wie die von Merz und auch anderen zum Vorschein?
Wo Drecksarbeit geleistet wird, muss auch Dreck sein. So tief scheinen Merzens Gedankengänge nicht gegangen zu sein, sonst hätte er so etwas Entlarvendes vermutlich nicht gesagt. Denn bei genauerem Hinsehen werden Abgründe offenbar, in die er der Weltöffentlichkeit sicherlich nicht gerne Einblick gegeben haben dürfte. Aber gesagt, ist gesagt. Aber was sagen uns diese Worte? Sie sagen: „Israels Armee beseitigt Dreck.“ Gilt das nur für die iranische Führung oder nicht doch auch für das iranische Volk und die Menschen im Gaza-Streifen? Sogar die Israel eng verbundene Frankfurter Allgemeine Zeitung stellt fest, dass inzwischen „der Kampf gegen die Hamas immer stärker überlagert wird von den Bestrebungen der Siedlerfraktion in der Regierung, die Palästinenser zu vertreiben“ (1).
Soll auch hier der Dreck weggeräumt werden, der diesen Plänen im Wege steht? Trump hatte ja schon Vorstellungen von einer neuen Riviera im Nahen Osten entworfen und den Reichen der Welt goldene Zeiten in Aussicht gestellt an den Stränden des östlichen Mittelmeers. Welche Rolle soll in diesen Plänen den Palästinenser zuteil werden? Sind sie dann die billigen Servicekräfte in den Häusern der neuen Herren? Die Vorstellungen des amerikanischen Präsidenten gehen ja schon so weit, den unbrauchbaren Rest auf die arabischen Nachbarstaaten zu verteilen, notfalls auch unter Zwang.
Jordanien hat jedenfalls scheint diese Pläne so ernst zu nehmen, dass es bereits Protest dagegen erhoben hat. Drohen nun auch ihm die unausweichlichen Vernichtungsphantasien des Chefs im Weißen Haus, entweder Vernichtung durch Zölle oder durch die „großartigen“ Produkte amerikanischer Rüstungsunternehmen? Ob solche Phantasien auch wirklich umgesetzt werden können, ist noch etwas ganz anderes. Aber gesagt, ist gesagt, wenn auch Trump sich wenig Gedanken macht über die Verwirklichung solcher Pläne. Denn die Berücksichtigung von Gegebenheiten ist sein Ding nicht und die Erkenntnis, dass die meisten seiner vollmundigen Ankündigungen bisher an der Wirklichkeit scheiterten, hat sich bisher beim ihm nicht eingestellt.
Aber sowohl in Trumps Phantasien, Merzens Äußerung und der Politik Israels gegenüber den Palästinensern und seinen Nachbarstaaten entpuppt sich ein Denken, das nach dem Faschismus lange als überwunden galt: Der Glaube an die eigene Besonderheit, der Vorrang der eigenen Interessen, die höheren Rechte gegenüber denen der anderen Völker dank der Überlegenheit der eigenen Werte. Ist das der Dreck, der beseitigt werden muss? Ist der Begriff „Dreck“ nun nur ein anderer, neuer Ausdruck für das höhere eigene Lebensrecht gegenüber dem Unrat, den andere Völker darstellen?
Verdeckte Schwäche
Verachtung nicht nur für die Rechte und Interessen anderer wird in solchen Aussagen deutlich, sondern auch Verachtung gegenüber diesen Menschen selbst. Sie scheinen für Leute wie Merz und viele anderen in den europäischen Führungen nichts weiter als Dreck zu sein. Das kommt normalerweise in den gefilterten und entschlackten Erklärungen sonst nicht so deutlich zum Ausdruck. Aber ihre tatsächlichen Entscheidungen und Handlungen sprechen eine ganz andere Sprache. Besonders die derzeitigen Kriege in der Ukraine und dem Nahen Osten offenbaren die Doppelmoral westlicher Politik und Werteorientierung.
Aber es zeigt sich auch etwas anderes in solchen Äußerungen und den vollmundigen Drohungen aus dem Weißen Haus. Dass die Israelis die Drecksarbeit erledigen und die Ukraine unsere Freiheit verteidigt, zeigt, dass der politische Westen selbst dazu nicht mehr in der Lage ist. Man kann sich selbst nicht mehr den nötigen Respekt verschaffen, der den eigenen Vorstellungen entspricht. Dafür braucht es andere, die diese Drecksarbeit erledigen. Die Vorstellung der eigenen Überlegenheit, die sich besonders im westlichen Denken eingenistet hat, wird durch die Entwicklungen in der Welt immer mehr in Frage gestellt. Russland stellt diesen Anspruch militärisch infrage und China wirtschaftlich.
Der politische Westen zeigt sich immer mehr als ein aufgeblasener Popanz, der von seiner Vergangenheit lebt, aber keine Perspektive für die Zukunft hat, nicht für sich selbst und schon gar nicht für andere Völker. Deutlich wird dieses Missverhältnis zwischen Vorstellungen und Möglichkeiten in Verlautbarungen, dass Putin den Krieg in der Ukraine nicht gewinnen und der Iran niemals Atomwaffen haben darf. China muss sich an die regelbasierte Ordnung halten. So genannte Schurkenstaaten haben sich nach den westlichen Werten zu richten und Demokratie westlichen Zuschnitts gilt als der Standard, nach dem alle anderen Gesellschaften und Staaten gemessen und gemaßregelt werden.
Aber entgegen westlichen Befehlen gewinnt Russland den Krieg in der Ukraine. Wollen Staaten, die vor Atomwaffen strotzen, festlegen, wer außer ihnen welche besitzen darf? Das hat bei Nord-Korea schon nicht funktioniert, und wie lange man den Iran noch daran hindern kann, wird sich zeigen. Denn über die Mittel zu ihrer Herstellung verfügen immer mehr Staaten. Wieso soll sich China an eine regelbasierte Ordnung halten, über die andere Staaten ohne Beteiligung Chinas entschieden haben? Zumal jene westlichen Staaten, die immer wieder auf ihre Anwendung pochen, sie selbst nur dort respektieren, wo es ihren eigenen Interessen dient.
Die westlichen Staaten jedenfalls sind nicht in der Lage, all diese von ihnen aufgestellten Verbote, Gebote und Forderungen gegenüber anderen durchzusetzen. Das weltweite Geflecht amerikanischer Bündnisse und Stützpunkte ist teuer. Aber es schafft keine Abschreckung mehr, nur noch Bedrohungen, die Spannungen erzeugen, ohne in der Lage zu sein, unerwünschte Entwicklungen zu verhindern. Nach den verlustreichen und teuren Abenteuern im Irak und Afghanistan beschränken sich amerikanische Militäroperationen auf die Beherrschung des Luftraums, denn die Entsendung eigener Truppen traut man sich nicht mehr zu. Damit alleine aber sind keine Kriege zu gewinnen, wie die Ukraine und der Iran zeigen. Dauerhafte Veränderungen von Kräfteverhältnissen finden am Boden statt.
Verfall westlichen Denkens
Merzens Äußerung über die Drecksarbeit widerspiegelt nicht nur diese Schwäche des politischen Westens sondern auch den Verfall seines Denkens und seiner Moral. Der Anspruch auf moralische Überlegenheit kann im Ansehen außerhalb der westlichen Welt nicht mehr aufrecht erhalten werden. Man selbst will es noch nicht wahrhaben, dass die Felle davon schwimmen. Der Rest der Welt aber wendet sich ab. Der Glanz, den einmal der american way of life versprühte, ist inzwischen sehr matt geworden. Die USA sind für die meisten Menschen nur noch wirtschaftlich interessant; eine politische oder gar moralische Orientierung bieten sie immer weniger, geschweige denn dass sie noch ein erstrebenswertes Vorbild wären.
Die Welt verweigert sich immer öfter den Aufforderungen, Geboten und Verboten des politischen Westens. Auch wenn er der Meinung ist, dass Russland diesen Krieg in der Ukraine nicht gewinnen darf, so sieht es doch danach aus, dass es ihn gewinnt - trotz aller westlichen Beschwörungen und Wutausbrüche. Auch China richtet sich nicht nach den Regeln einer Ordnung, an deren Verfassung es selbst nicht beteiligt war. Die Regeln und Verordnungen, die der politische Westen aufzustellen über Jahrzehnte gewohnt war, werden immer seltener befolgt. Das westliche Denken ist nicht mehr in der Lage, die Welt zu erfassen, denn es geht von Voraussetzungen aus, die nicht mehr bestehen.
Dieses Denken ist geprägt vom Idealismus der europäischen Aufklärung. Sie hatte die Menschen befreit aus der Beschränktheit des Gottesglaubens und Verwirrung der Gottesurteile. Der Mensch trat in den Mittelpunkt der Entwicklung, seine Intelligenz, sein Urteilsvermögen, seine Vernunft. Sie drückten sich aus im: „Cogito, ergo sum! Ich denke, also bin ich!“. In diesem Selbstverständnis war nur noch wenig Platz für einen Gott und seine unergründlichen Wege und Entscheidungen. Der Mensch selbst war Herr über sein Leben geworden; er hing nicht weiter an den Fäden unerforschlicher Pläne eines launischen Gottes.
Die Aufklärung war ein Schritt der Befreiung in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Das selbständige Denken wurde Waffe und Werkzeug für die Gestaltung der Welt. Den bestehenden Verhältnissen, die als unvollständig empfunden wurden, stellte es eigenständige Welten entgegen, erschuf ideale Welten. In diese Errichtung von Gedankenwelten flossen all die Wünsche ein, die besonders die neue Klasse der Städtebürger mit ihrer kapitalistischen Produktionsweise als Grundlage ansahen für eine erstrebenswerte neue Gesellschaft.
Das idealistische Denken erschuf Wunschwelten für die Interessen, Fähigkeiten und das Drängen dieser neuen Klasse nach Freiheit. Gegenentwurf zu sein zur bestehenden Wirklichkeit, war Wesensmerkmal dieses Denkens mit den eigenen Wünsche als Kern, nach denen sich die Veränderung der Welt ausrichten sollen, und das ist es immer noch. Wie Pippi Langstrumpf es so einfach auf den Punkt brachte: „Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt“. Aber die Welt besteht nicht nur aus Wünschen, sondern auch aus den Gegebenheiten der Natur und den Umständen, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte entwickelt haben.
Das materialistische Denken
Aus dieser seiner Wunschorientierung hat sich das westliche Denken, vielmehr das Denken der westlichen Machthaber und Meinungsmacher, nie gelöst. Vielmehr ist sie zur bestimmenden Herangehensweise an die Entwicklungen in der Welt geworden. Hieß es in den Zeiten der Gottesgläubigkeit noch: „Dein Wille geschehe“, so ist das im westlichen Denken zu „Mein Wille geschehe“ geworden. Das gilt vom Stammtisch bis in die große Politik. Der eigene Wille ist der Nabel der Welt.
Was nicht dem eigenen Wunschbild von der Welt entspricht, darf nicht sein. Deshalb darf auch Russland seinen Krieg nicht gewinnen, China muss sich an die westliche regelbasierte Ordnung halten und Iran darf keine Atomwaffen haben nach der Meinung der großen Atommächte. Aber trotz aller wirtschaftlichen und militärischen Macht des Westens gewinnt Russland den Krieg und trotz der Nichtbeachtung der westlichen Regeln hat China einen bisher nie gesehenen Erfolg. Die Welt richtet sich immer weniger nach westlichem Willen.
Das ist nicht zuletzt Ergebnis eines überlegenen Denkens. China und Russland stehen in der Tradition des materialistischen Denkens, das wesentlicher Bestandteil des Marxismus ist. Auch wenn in Russland die kommunistische Partei nicht mehr die Geschicke der Gesellschaft bestimmt, so steht diese Gesellschaft immer noch unter dem Einfluss des Materialismus. Es ist nicht bestimmt von den eigenen Wunschvorstellungen sondern von der Einordnung der eigenen Wünsche und Interessen in die Gegebenheiten der Welt und den in ihr erkennbaren Entwicklungen.
Auch die materialistisch denkenden Marxisten haben Wünsche an die Zukunft und Vorstellungen von der Verwirklichung der eigenen Interessen. Aber sie sehen auch die Bedingungen, die für deren Umsetzung vorliegen beziehungsweise vorliegen müssen. Wenn die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Verwirklichung nicht gegeben sind, dann muss man entweder günstige Bedingungen schaffen oder aber die Verwirklichung der eigenen Pläne verschieben, notfalls sogar ganz absagen. Oder aber man geht den westlichen Weg, man geht mit dem Kopf durch die Wand. Dazu braucht es aber dann gelegentlich auch jemanden, der die Drecksarbeit macht.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.6.2025: Israels Sicherheitspolitik und Ideologie
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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Bildquellle: Brian Jason/Shutterstock
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