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Die wahren Helden | Von Dieter Höntsch

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Ein Kommentar von Dieter Höntsch.

Hinweis zum Beitrag: Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Hans-Joachim Maaz aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt apolut diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!

Wer sich um eine Verhandlungslösung im Russland-Ukraine-Konflikt bemüht, ist mitnichten ein „Weichei“ — er rettet Menschen, indem er sein eigenes Ego zurückstellt.

Marshall B. Rosenberg war der Vater der „Gewaltfreien Kommunikation“. Stets versuchte er darauf hinzuwirken, dass Menschen im Konfliktfall ihre gegenseitigen Bedürfnisse ernst nahmen und diese ohne verbale Aggressivität aussprachen. Betrachtet man die Verlautbarungen der Politiker, die sich derzeit zum Russland-Ukraine-Konflikt äußern, so drängt sich der Eindruck auf, diese hätten allesamt Kurse in Gewalttätiger Kommunikation belegt. Das gilt für alle beteiligten Seiten. Denn „Mit Aggressoren redet man nicht“; vielmehr scheint es notwendig, diese zu beschämen, niederzuringen oder im besten Fall sogar zu vernichten. Dass daraus kein Friede entstehen kann, leuchtet Menschen, die sich ihren gesunden Menschenverstand bewahrt haben, unmittelbar ein. Wer Frieden stiftet, sollte deshalb in einer Gesellschaft hoch angesehen sein, wer auf Krawall gebürstet ist, dagegen unter Rechtfertigungsdruck geraten. Oder? Leider müssen wir feststellen, dass Menschen, die auf eine Verhandlungslösung mit Russland drängen, als Feiglinge und Verräter abgekanzelt werden, gar als Schergen des Erzfeindes, welche aus dem öffentlichen Raum verbannt werden müssten. Dabei sind gerade jene die wahren Helden, die eine robuste und selbstgerechte Sprache durch Einfühlungsvermögen ersetzen. Auf diese Weise „feige“ zu sein, ist in einer Zeit, in der die Scharfmacher das große Wort führen, in Wahrheit ungemein mutig.

„Alles, was Menschen sagen oder tun, tun sie, um sich Bedürfnisse zu erfüllen.“ Das ist für mich eine der wichtigsten Botschaften des amerikanischen Psychologen M. B. Rosenberg, dem Vater der Gewaltfreien Kommunikation (GFK). Gewaltfrei kommunizieren meint, mit Worten nicht zu verletzen, würdevoll und respektvoll mit anderen, aber auch mit sich selbst umzugehen. Grundlagen der GFK sind neben Bedürfnissen, Gefühlen und Beobachtungen Strategien zur Erfüllung der Bedürfnisse.

Wir Menschen haben alle die gleichen Bedürfnisse. Dabei geht es uns um Glück, Gesundheit, Frieden, Freiheit, Respekt, Anerkennung sowie vieles mehr, um all das, was wir brauchen, damit es uns gut geht. Um uns unsere Bedürfnisse zu erfüllen, bedarf es konstruktiver Strategien.

Bedürfnisse haben nichts mit Not, Leid, Gewalt oder gar Krieg zu tun. All das entsteht durch destruktives Handeln. Wer meint, dass es alternativlos ist, Konflikte mit Gewalt oder gar Krieg lösen zu müssen, dem mangelt es an Kompetenzen, um konstruktive Wege zu suchen und Konflikte einvernehmlich zu lösen. Verfügen Menschen in verantwortungsvollen Positionen nicht über konstruktive Konfliktlösungskompetenzen, kann das dramatische Folgen haben, nicht nur für Einzelne oder die Bevölkerung eines Landes. Diese Auswirkungen können die gesamte Menschheit treffen.

Konflikte entstehen nicht durch die unterschiedlichen Bedürfnisse, die für die Menschen jeweils gerade vorrangig sind, sondern durch die unterschiedlichen Mittel und Wege, mit denen Menschen versuchen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Ein Staatschef, der sein Land bedroht sieht und meint, die Sicherheit seines Landes gewährleisten zu müssen, indem er Teile eines Nachbarlandes annektiert, handelt destruktiv, ja sogar menschenverachtend. Versucht ein anderer Staatschef, sein Bedürfnis nach Sicherheit für sein Land mit Sanktionen gegen den Angreifer sowie mit Waffenlieferungen an den Angegriffenen zu erfüllen, handelt dieser ebenfalls destruktiv und verstärkt dadurch den Strudel der Eskalation.

Alternativen zu destruktivem Handeln gibt es immer. Die wohl naheliegendste Alternative im Fall militärischer Handlungen gegenüber einem Nachbarland ist der beharrliche Verhandlungsweg. Auf diesem Weg können die Bedürfnisse, Anliegen und Ziele beider Seiten berücksichtigt werden, um zu Lösungen zu kommen, die den Menschen tatsächlich dienen.

Wo Bedürfnisse ignoriert werden, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Konflikte immer weiter eskalieren. Genau das erleben wir gerade im Spannungsfeld Russlands und der Ukraine, aber auch anhand der aktuellen Situation in Deutschland.

Die wahren Helden

Es scheint aussichtslos, der Spirale des Krieges und der Sanktionen zu entkommen, bevor nicht alles in Schutt und Asche liegt.

Doch Politiker, die trotz allem immer wieder den Verhandlungsweg anstreben, sind keineswegs „Loser“. Sie sind die wahren Helden, denn sie dienen den Menschen. Vorbilder sind hier vor allem Mahatma Gandhi und Nelson Mandela.

Doch so mancher unserer Volksvertreter scheint vergessen zu haben, wen er eigentlich vertritt. Oder ist es den destruktiv agierenden Politikern gleichgültig, welche Bedürfnisse jene haben, die sie zu vertreten haben? Schließlich gelten für Deutschland die Grundsätze einer repräsentativen Demokratie. Gerade deshalb muss Politikern auf konstruktive Art und Weise so oft und so deutlich wie nötig bewusst gemacht werden, wen sie gemäß ihres Wahlauftrages zu vertreten haben und welche Bedürfnisse jene haben.

Es reicht nicht aus, wenn Menschen artikulieren, was sie nicht wollen. Kein geistig gesunder Mensch will Not, Gewalt oder Krieg. Es muss offenbar immer wieder deutlich hörbar und beharrlich vermittelt werden, was die Menschen brauchen. Dazu gehören noch viel mehr als Frieden, Sicherheit, Gewaltlosigkeit, Freiheit, Rechtssicherheit und Verlässlichkeit. Wahlversprechen zu machen und im alltäglichen politischen Alltag das Gegenteil zu tun, ist jedenfalls Betrug am Wähler. „Keine deutschen Waffen in Kriegsgebiete und Diktaturen“, heißt es zum Beispiel im Bundestagswahlprogramm der Grünen zur Bundestagswahl 2021. Die gegenwärtige Realität sieht anders aus.

Rosenberg hat erkannt, dass die Menschen oft nicht das wiedergeben, was wirklich geschah oder gerade geschieht, also ihre tatsächliche Beobachtung, sondern ihre bewertete Sicht. Statt: „Sie bedrohen mit ihrem Handeln den ganzen Kontinent“, könnte es heißen: „Sie haben in den letzten Wochen Teile ihres Nachbarlandes annektiert.“

Sicherlich sind dabei Bedürfnisse wie Sicherheit und Verlässlichkeit verletzt worden. Gefühle in diesem Zusammenhang können Sorge, Angst, Wut oder Ratlosigkeit sein. Eine Strategie zur Erfüllung der unerfüllten Bedürfnisse könnte eine Bitte sein: „Bitte ziehen Sie Ihr Militär unverzüglich aus den annektierten Gebieten zurück. Was braucht es, damit das für Sie machbar ist?“ Mit dem zweiten Satz wird anerkannt, dass auch für die andere Seite Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sie den Weg der Lösungssuche mitgehen kann. Gleichzeitig wird durch den zweiten Satz die Tür zu Verhandlungen geöffnet.

Der wichtige Weg der Lösungssuche

Das Argument „Mit Aggressoren verhandeln wir nicht“ ist dabei fehl am Platz, denn letztlich geht es im konkreten Fall um das Wohlergehen von Menschen, ja sogar um Menschenleben. Natürlich müssen beide Seiten bereit sein, sich auf den Weg der Lösungssuche einzulassen. Dem anderen diese Bereitschaft von vornherein abzusprechen, ohne es nicht geduldig versucht zu haben, zeugt allerdings von Überheblichkeit und politischem Unvermögen. Wer konstruktive Lösungen für die Menschen anstrebt, der darf auf keinen Fall müde werden, die andere Seite immer wieder für den Prozess des aufeinander Zugehens zu gewinnen.

Das wird doch eh nichts, „höre“ ich die Skeptiker sagen. Ja, die Gefahr des Scheiterns besteht natürlich. Zeichnet sich das Scheitern ab, gilt es immer wieder neue konstruktive Wege zu finden. Dazu kann gehören, dass die Menschen immer deutlicher und nachdrücklicher das zum Ausdruck bringen, was sie brauchen, um menschenwürdig leben zu können.

Natürlich kann die Situation noch viel komplizierter sein, als es auf den ersten Blick scheint, vor allem dann, wenn hinter den Akteuren mächtige Kräfte stehen, die im Dunkeln bleiben, destruktive Ziele verfolgen und sich nicht scheuen, andere destruktive Kräfte für ihre Interessen zu missbrauchen.

Der Weg zum Erfolg mag ein mühsamer sein. Doch das, was im Ergebnis winkt, ist das Wohlergehen von Menschen, ein wahrhaft lohnendes Ziel.

Die Methode der Gewaltfreien Kommunikation kann auf diesem Weg ein Erfolgsfaktor sein. Sie ist eine hochwirksame Methode des menschenwürdigen Miteinanders und der Konfliktlösung. In unzähligen Konflikten unserer Welt, selbst in sehr verhärteten, konnten GFK-Trainer bereits dazu beitragen, die Konflikte zu entschärfen und zu konstruktivem Miteinander zu finden. Mögen sich die Verantwortungsträger solcher Werkzeuge bedienen, indem sie lernen, die Methode des gewaltfreien, wertschätzenden und respektvollen Miteinanders anzuwenden beziehungsweise jene hinzuzuziehen, die die Methodik der GFK beherrschen.

Die Gewaltfreie Kommunikation ist leicht zu erlernen, zumindest wenn ein GFK-Trainer beim Erlernen hilft. Die Zahl jener, die die GFK erlernen und auch vermitteln, wächst stetig. Schade, dass es nur wenige Schulen gibt, in denen schon die Kinder die GFK vermittelt bekommen.

Verhandeln, verhandeln, verhandeln, und das respektvoll – wichtige Schritte auf dem Weg in eine menschenwürdige Zukunft.

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Dank an den Autor und den Rubikon für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Dieser Beitrag erschien zuerst am 10. November 2022 im Rubikon - Magazin für die kritische Masse.

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Bildquelle: SmartPhotoLab/ shutterstock


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