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Die Verarmungspolitik | Von Susan Bonath

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Explodierende Preise, überforderte Tafeln: Die Regierung treibt Millionen in finanzielle Not.

Hinweis zum Beitrag: Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Hans-Joachim Maaz aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt apolut diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!

Ein Kommentar von Susan Bonath. Gas, Strom, Essen, Gebrauchsgüter: Alles wird teurer, und immer mehr Menschen in Deutschland können die Lebenshaltungskosten nicht mehr stemmen. Die karitativen Tafeln begegnen dem wachsenden Andrang mit Aufnahmestopps und verkleinern die Rationen. Viele Menschen verzweifeln bereits jetzt an hohen Nebenkostenabrechnungen. Und die Talfahrt geht weiter — aktiv befeuert durch die Politik.

Lebenshaltungskosten explodieren

Wärme ist ein menschliches Grundbedürfnis. Doch sie wird zum Luxus werden. Die Bundesnetzagentur prognostizierte eine Verdreifachung der Heizkosten in diesem Jahr. Schon für 2021 hätten sich die Kosten etwa verdoppelt. Viele Familien werden demnächst mit hohen Nachzahlungen für Nebenkosten konfrontiert werden.

Der Präsident der Energiebehörde Klaus Müller resümierte, die Börsenpreise hätten sich aktuell bereits versiebenfacht. Die Konzerne geben das naturgemäß früher oder später an die Kunden weiter, sowohl an die Unternehmen als auch an die privaten Haushalte. Ersteres bedeutet, dass zugleich Preise für die Waren des alltäglichen Bedarfs, darunter vor allem Lebensmittel, in ähnlichem Ausmaß explodieren werden. Die Lebenshaltungskosten könnten sich in der nächsten Zeit vervielfachen — anders als die Löhne.

Lohnabhängige sollen „bluten“

Die beiden Vorschläge, die Müller dann zum Besten gab, sind tatsächlich alternativlos in einem System mit kapitalistischer Produktionsweise: „Man könnte so mit Milliardenbeträgen die Unternehmen unterstützen“, erwog der Präsident der Bundesnetzagentur. Im Gegenzug dürften sie die Preise nicht den Haushalten aufbürden. Oder aber man lasse die Konzerne die Preise nach unten durchgeben und helfe „zielgenau denen, die sie nicht mehr tragen können“.

In jedem Fall würde der Staat die Hilfe aber aus dem Steuertopf finanzieren. Es ist naheliegend, an welchen Stellen er dafür sparen wird: In allen sozialen Bereichen, wie Grundsicherung, Pflege, Gesundheitswesen, Rente und so weiter, ist perspektivisch mit einem weiteren Kahlschlag zu rechnen. Es droht sozusagen eine Hartz-IV-Reform in groß.

Als Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) jüngst mahnte, dass „am Ende alle bluten müssen“, vergaß er dabei zu differenzieren, wer diesem „alle“ angehören wird. Ziemlich sicher werden Superreiche und mit reichhaltigen Diäten verwöhnte Politiker weder hungern noch frieren müssen. Aus dieser Perspektive klingt sein Vorschlag für einen großen Teil der Bevölkerung wohl zynisch: Private Gaskunden sollen mal eben auf eine neue Heizart umstellen.

Aber wer kann sich das nach zweieinhalb Jahren zehrender Coronamaßnahmen wohl noch leisten? Zumal in Deutschland nicht einmal jeder Dritte ein Eigenheim besitzt. In der ärmeren Hälfte der Bevölkerung dürfen das noch viel weniger sein. Die meisten Menschen leben in Deutschland nach wie vor in Mietwohnungen. Die werden häufig mit Fernwärme beheizt, die vom Gas abhängig ist. Für sie wird es eng.

Tafeln vom Ansturm überfordert

Beim Anwachsen der Verarmung in Deutschland kann man aktuell geradezu zusehen, und zwar nicht nur auf den Straßen der Obdachlosen-Hochburgen, wie etwa Berlin und Hamburg. Schon für das vergangene Jahr hat der Paritätische Wohlfahrtsverband einen Höchststand der Armut in Deutschland ermittelt. Fast 17 Prozent, etwa 14 Millionen Menschen, lebten demnach im zweiten Coronajahr hierzulande unterhalb der Armutsgrenze — Tendenz steigend.

So werden auch die Schlangen an den Essensausgabestellen der Tafeln im Eiltempo länger. Ihr Dachverband sah die Armut in Deutschland jüngst auf einem „dramatischen Höchststand“. Binnen kurzer Zeit habe sich die Zahl derer, die bei diesen karitativen Einrichtungen um Essen bitten, insgesamt um 50 Prozent erhöht. Einige Tafeln verzeichnen demnach sogar doppelt so viele Bedürftige wie noch vor einem halben Jahr. Vor Beginn der Coronamaßnahmen im März 2020 hätten etwa 1,5 Millionen Menschen regelmäßig eine Tafel aufgesucht. Aktuell seien es „deutlich über zwei Millionen“.

Der Vorsitzende des Dachverbandes Jochen Brühl mahnte, dass es zugleich an Spenden mangele. Anders ausgedrückt: Die ausrangierten Lebensmittel, die Supermärkte andernfalls in den Müll geworfen hätten, reichen nicht mehr für alle Hungrigen. Zwei Drittel der Einrichtungen hätten deshalb die für zwei oder drei Euro ausgegebenen Rationen verkleinert, ein Drittel habe bereits einen Aufnahmestopp verhängt.

Das heißt: Wem jetzt die Nahrungsmittelpreise über das Haushaltsbudget wachsen, wird von der Tafel abgewiesen, auch wenn der Hunger noch so groß ist. Das scheinen nicht so wenige zu sein. Brühl sagte:

„Tafeln sind am Limit und berichten uns, dass viele Menschen zu ihnen kommen, die bisher gerade so über die Runden gekommen sind und zum ersten Mal Hilfe in Anspruch nehmen müssen.“

Behörden helfen nicht

Brühl machte auf ein weiteres Problem aufmerksam: Vielerorts verweigern die Sozialämter und Jobcenter Bedürftigen in Not die schnelle Hilfe. Stattdessen schicken sie sie zu einer Tafel, und zwar ohne die Einrichtung zu fragen, ob diese überhaupt in der Lage ist, zu helfen. Aber die Tafeln sind kein staatliches Angebot, wie er betonte. Sie sind vielmehr ein karitatives Privatunternehmen, das keineswegs verpflichtet ist, jedem zu helfen. Brühl stellte klar:

„Dass alle Menschen in Deutschland genug zu essen und zu trinken haben, muss der Staat gewährleisten, nicht das Ehrenamt.“

Tafeln, so Brühl, seien ein privates „Zusatzangebot“.

Schon seit vielen Jahren beklagen Sozialverbände und Hilfevereine, dass etwa Jobcenter ihre zuvor sanktionierten oder aus anderen Gründen bedürftigen Klienten zur Tafel schicken, wenn sie in Not geraten sind. Und dort steht so mancher nicht selten vor einem neuen Problem. Denn auch Tafeln fordern aktuelle Nachweise über das gesamte Einkommen der Hilfesuchenden. Wer dies nicht hat, muss draußen bleiben. Probleme mit dem Amt bringen nicht selten Probleme mit der Tafel mit sich.

Millionen Arme

Derzeit leben etwa 5,5 Millionen Menschen in sogenannten Hartz-IV-„Bedarfsgemeinschaften“, wie die Bundesagentur für Arbeit (BA) mitteilt. Darunter sind fast zwei Millionen Kinder. Etwa jeder fünfte Leistungsbezieher arbeitet dabei für einen Niedriglohn und stockt auf. Diese Zahlen haben sich seit Jahren kaum verändert.

Hinzu kommen mehr als eine Million Menschen, die Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung benötigen, weil ihre Rente zu gering ist, sowie rund 400.000 Bezieher von Asylbewerberleistungen. Letztere erhalten sogar noch fast 20 Prozent geringere Leistungen als Hartz-IV-Bezieher. Außerdem arbeiten fast acht Millionen Beschäftigte in Deutschland im Niedriglohnsektor für weniger als 12,27 Euro in der Stunde.

Jobcenter setzen Sparkurs um

Gern wird behauptet, dass sich insbesondere Hartz-IV-Bezieher keinen Kopf um die Preissteigerungen machen müssten, da ihnen „alles bezahlt“ werde. Pustekuchen: Den Strom müssen sie, wie fast alles andere, aus ihrem Regelsatz bezahlen. Für Alleinstehende beträgt dieser 449 Euro. Hinzu kommt nur die Warmmiete, und auch hier knausern die Jobcenter. Übersteigt sie die sogenannte Angemessenheitsgrenze, welche die Kommunen festlegen, müssen Betroffene auch diese Differenz noch draufzahlen.

So musste im vergangenen Jahr fast jeder sechste Haushalt im Hartz-IV-Bezug einen Teil der Miete aus eigener Tasche stemmen. Insgesamt hatten die Jobcenter fast eine halbe Milliarde Euro auf diese Weise eingespart, wie aus einer Antwort der Bundesregierung an die Linksfraktion hervorgeht. Im Durchschnitt mussten die Betroffenen 93 Euro monatlich aus ihrem mageren Budget abknapsen. Viele finden einfach keine Bleibe, die den amtlichen Kriterien entspricht.

Das liegt an den vielerorts realitätsfern niedrigen Mietobergrenzen. So darf etwa ein alleinstehender Hartz-IV-Bezieher in Leipzig monatlich nicht mehr als 365 Euro für die Warmmiete ausgeben, davon maximal rund 51 Euro für die Heizkosten. Sollen Betroffene, deren Miete vorher schon am Limit lag, nun Hunderte Euro für Nebenkosten nachzahlen, wird das Jobcenter eine Erstattung aller Erfahrung nach ablehnen. Dann beginnt sich die Schuldenspirale zu drehen. Oder die Menschen landen in der Obdachlosigkeit.

Wie die Behörden knausern, verdeutlicht ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom vergangenen Jahr. Eine alleinerziehende Mutter dreier Kinder musste sich demnach jahrelang durch die Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit kämpfen, weil ihr das Jobcenter im Jahr 2011 eine Heizkosten-Nachforderung von 690 Euro nicht erstatten wollte. 2021 verpflichtete das BSG das Jobcenter zur Erstattung — zehn Jahre später.

Regierung gefährdet Existenzen

Diese Klägerin ist beileibe kein Einzelfall. Steigende Heizkosten und drohende Obdachlosigkeit hin oder her: Schwammige Begriffe im Sozialrecht unter Schlagworten wie „Ermessensentscheidung“ ermöglichen es den Jobcentern auch heute, die Erstattung von Nachzahlungen zu verweigern. Von wegen, alles wird bezahlt.

Fest steht schon jetzt: Sollte die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP ihre gegenwärtige Sanktionspolitik gegen Russland fortsetzen, anstatt wegen der Fortsetzung der Gaslieferungen zu verhandeln, und sollte sie darüber hinaus am autoritären Auf und Ab der Coronamaßnahmen festhalten, gefährdet sie bewusst die Existenz vieler Millionen Menschen in Deutschland.

Dies alleine straft ihre Erzählung Lügen, sie setze zum Schutz der „Vulnerablen“ vor einem Virus auf rigide Coronamaßnahmen. Der Schutz der vulnerablen Armen — oder Armgewordenen — ist ihr offenbar in Wahrheit völlig gleichgültig. Und diesmal dürfte die Armutsspirale vor vielen, die sich bis vor kurzem noch zur Mittelschicht zählten, nicht halt machen.

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Bildquelle: shutterstock / addkm


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