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Die schöne Quälerin

Die schöne Quälerin


Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.

Vor acht Jahren veröffentlichte ich auf KenFM meinen Artikel „Von der Würde der Tiere“, der mit 651 Kommentaren so viel positive Stellungnahmen provozierte, wie keine Arbeit vor oder nach ihm - auch nicht auf dem KenFM-Nachfolger apolut. Ich erwähne das nicht aus Eitelkeit, sondern einzig aus dem Grund, weil diese gewaltige Reaktion mich in der Hoffnung bestärkte, dass wir dem unsäglichen Leid der Tiere irgendwann ein Ende setzen könnten. Ich weiß, nicht jeder von uns ist in der Position, Tieren zu helfen, aber jeder ist in der Lage, ihnen nicht zu schaden - wenn wir das endlich verinnerlichen würden, wäre Schluss mit dem Krieg gegen unsere Mitwesen. Die Lakota behaupten, dass der Mensch an dem Tag sein Mitgefühl verlor, als er die Tiere als Ressource ansah und nicht mehr als seine Verwandtschaft.

Diese Aussage hatte mich 1993 dazu inspiriert, einen literarischen Weckruf zu formulieren, den ich hier wiedergeben möchte. Es handelt sich um eine von elf „Xenia-Lessons“ aus meinem Roman „GO!-Die Ökodiktatur“. Xenia ist eine von Tiefenpsychologen entwickelte holografische Kunstfigur, die dem Volk als „Umerzieherin“ dient. Ihre virtuellen Lehrstunden sind Pflichtprogramm im Home-Computer. In ihnen rechnet die „Schöne Quälerin“, wie sie genannt wird, mit den Ökosünden der Vergangenheit ab. Dabei benutzt sie ausschließlich Filmmaterial aus der spätkapitalistischen Ära. Für viele Menschen sind ihre rhetorischen Holo-Strafaktionen der einzige Zugriff auf die Bilderwelt ihrer Väter. XENIA ist psychisch und physisch reizvoll und dominant gestaltet. Viele Bürger entwickeln ein sadomasochistisches Verhältnis zu der Pop-Ikone des Staates. Mit ihr ist die Anbindung der Diktatur ans Volk gelungen. Xenias Holo-Lessons werden von einem Team aus Wissenschaftlern und Textern verantwortet. Vor der Ausstrahlung bedarf es der Zustimmung des Informationsministers. Hier ist ihre Lesson über unseren ehemaligen Umgang mit den Tieren:

„Heute, lieber Freund, reden wir über die Würde der Tiere. Über jene Wesen also, die wir fast vollständig von diesem Planeten vertrieben haben.“ Xenia trug einen schlichten weißen Hosenanzug. Malin war nicht sicher, ob er sich das Programm heute antun sollte. Andererseits wusste er, dass es für ihre derben Demonstrationen nie so etwas wie den richtigen Zeitpunkt gab. Er befand sich in einem gekachelten Kellerraum, der von dem erbärmlichen Gewinsel eines Hundes widerhallte. Das Tier, ein etwa vier Jahre alter Rottweiler, kauerte mit eingezogenem Schwanz, aufgestellten Nackenhaaren und angelegten Ohren auf dem Steinfußboden. Aus Nase und Ohren sickerte Blut. Sein Peiniger mit dem Tirolerhut band sich eine Gummischürze um, befestigte eine Schlinge um den kräftigen Hals seines Opfers und hängte es an einen Fleischerhaken, der in der Decke installiert war. Anschließend prügelte er auf den zappelnden Körper ein, wobei er einmal die Runde machte, damit sich die Schläge schön gleichmäßig verteilten. Das sah nicht nach Bestrafung aus, sondern nach eingefleischter Routine, nach Choreographie. Nachdem die Peitschen-Partitur abgearbeitet worden war, griff der Mann zu einem Bunsenbrenner, prüfte die Schraubverschlüsse und stellte die Flamme ein. Der Hund hing wie ein Sandsack von der Decke, nur die Hinterfüße traten panisch ins Leere. Als der Feuerstoß in lang gezogenen Bahnen sein Fell versengte und sich die Haut zu schwarzen Blasen aufwarf, reichte die Kraft nicht mehr zu hektischen Reflexen. Die Augen des Tieres aber bewegten sich noch immer entlang der Decke, als suchten sie die Pforte zum Himmel.

„Nicht nur in Korea wusste man diese Gaumenfreuden zu schätzen,“ sagte Xenia, „auch in der Schweiz waren die Gourmets ganz verrückt danach. Die Tatsache, dass es sich dabei um eine verbotene Delikatesse handelte, steigerte die Nachfrage um so mehr. Weltweit landeten jedes Jahr über zwei Millionen Hunde in den Kochtöpfen der Feinschmecker. Die eben gezeigte koreanische Art der Zubereitung galt als unübertroffen. Man war sich einig, dass erst das Stresshormon Adrenalin dem Fleisch seine besondere Würze verlieh“.

 Malin verkraftete diese Scheiße nicht länger. Warum gab es keine Vorinformationen zu den Lessons? Dann hätte man sich jedenfalls mental darauf einstellen können. Xenia schaute ihn nachdenklich an. Wenn sie doch nur mal lächeln würde, war das denn zu viel verlangt? Schließlich hatte nicht er die Viecher umgebracht, oder?

„Wir sind es den Tieren schuldig“, mahnte sie, als könne sie Gedanken lesen. Arbeiter in verschmierten Gummischürzen schmissen zappelnde Rinderföten in eine Betonwanne, wo ihnen mit Kanülen bestückte Plastikschläuche in die Leiber gerammt wurden. Die kleinen Wesen mit den großen Köpfen und den geschlossenen, kaum ausgeprägten Augen rotierten auf dem Boden, während ihr rasendes Herz das eigene Blut durch die Schläuche aus dem Körper pumpte.

„Dies ist der erste und der letzte Eindruck, den sich diese Geschöpfe von unserer Welt machen durften", sagte Xenia. „Zwei Millionen Föten wurden auf diese Weise jährlich allein in Deutschland ausgesaugt. Endverbraucher waren die Pharmakonzerne, die mit dem Blut ihre Bioreaktoren auffüllten“.

Malin war nahe daran, sich zu übergeben. Vor ihm wand sich ein weißes Kaninchen im Käfig, immer wieder wischte es mit den Vorderpfoten über die aufgequollenen, blutenden Augen. „Noch vor fünfzig Jahren stritten Wissenschaftler um die Frage, ob Tiere Schmerz empfinden. Dreihundert Millionen Kreaturen wurden Jahr für Jahr im Namen dieser Wissenschaft ans Messer geliefert. Hat man sie gesehen, die Affen, deren Köpfe in den Schraubstöcken festgeklemmt waren, während ihre Schädeldecken längst im Abfall gelandet waren? Kennt man sie, die Hunde, deren Augen bei lebendigem Leibe heraus geschnitten wurden? Fühlt man den Schrei der Katzen, die mit dosierten Hammerschlägen auf den Kopf zu zerstückelten, zuckenden Reflexgebern degradiert wurden? Überall auf der Welt rasten die offenen Herzen der in Reih und Glied auf den Rücken genagelten Mäuse auf und ab wie die Tasten einer Blutorgel. In den Versuchslaboren hatten die Menschen endgültig das Recht verwirkt, als Teil der Natur betrachtet zu werden.“

Malin stand unter einem Baum, über den sich ein feines Netz spannte, in dem sich hunderte von Vögeln verheddert hatten. Etwas abseits lag ein ebensolches Netz am Boden. Es bewegte sich, als dümpelte es auf offener See. Vor ihm hockten eine Schar lachender Kinder. Sie zerrten die piepsenden Tiere heraus und brachen ihnen die Flügel, ganz so, als würden sie Bohnen brechen. Anschließend warfen sie die verletzten Tiere in ein verrostetes Ölfass, wo diese zuckend auf die Hände ihrer Schlächter warteten, die ihnen mit einem kleinen Messer die Kehle durchschnitten, nicht immer professionell, wie man den nach Luft japsenden Vögelchen im rot gefärbten Sand ansehen konnte.

„Fünfhunderttausend pro Jahr allein in Ägypten“, sagte Xenia. Sie schenkte ihm Tee nach, sie schien allmählich Mitleid mit ihm zu bekommen. Es folgte ein Potpourri aberwitziger Bilder: Elefanten flogen an Hubschraubern hängend durch die Savanne, Menschenhände rissen Affenbabys aus den Armen der Muttertiere, Kängurus hüpften im Scheinwerferlicht vor Stoßstangen herum, Papageien wiegten sich an Ketten gefesselt auf einer Holzschaukel im Foyer eines Hotels, Adler schlurften mit hängenden Schwingen durch Drahtkäfige, Schildkröten hingen wie Wäschestücke an Bambusrohren, Bären tanzten vor johlenden Touristen auf glühenden Kohlen, Fische trieben Wasser kauend auf der Seite in Plastikschüsseln, ein Panda wurde unter Blitzlichtgewitter auf einer Trage davon geschleppt, Seehunde mit Sonnenbrillen wagten den Drahtseilakt, Hühner stolperten über Fließbänder und verhedderten sich kopfüber in Halterungen, in denen sie sich wie Bierflaschen bei der Abfüllung im Kreis drehten, nur das hier keine Kronkorken aufgesetzt, sondern Köpfe abgeschnitten wurden. Während sich die Demütigungen der Tiere in immer schnelleren Einstellungen ins Unerträgliche steigerte, zitierte Xenia aus einem Urteil des Hamburger Verwaltungsgerichts von 1988:

„Natürliche Personen sind nach geltendem Recht die Menschen. Tragender Grund dafür, dass die Rechtsordnung die Befähigung, Träger von Rechten zu sein, nur dem Menschen zuordnet, liegt in der Erkenntnis, dass nur ihm die besondere Personenwürde zu eigen ist, kraft seines Geistes, die ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewusst zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten, die ihn von allen anderen Lebewesen der Natur abhebt. Tiere werden als Sache behandelt“. Die schöne Quälerin legte das Urteilsschreiben beiseite: „Tierbefreier wurden damals als Terroristen gejagt“, sagte sie.

Es folgten Fotos ehemaliger Werbeplakate: Tiger an Tankstelle, Elefant am Kopierer, Greifvogel mit Schnapsflasche, Affe mit Telefon, Puma im Hochhaus, Kamel an der Bar. „Kein Tier hat jemals gemordet, gequält oder ein anderes Tier als Geisel genommen. Solche Perversionen waren allein dem Menschen vorbehalten. Verstehst du jetzt, warum wir euch fern halten müssen?“, fragte sie.

Ein Adler kreiste über schneebedeckte Berge. Malin selbst wurde dieser Adler, er glitt über üppige Ebenen, über Flüsse und Wälder, über Steppen und Seenplatten. Unter ihm grasten Büffelherden, rosa Flamingos staksten durch flirrendes Wasser, Springböcke hüpften durchs Gras, ein Steinbock hob den Kopf, Löwen dösten im Schatten eines Baumes. Die Eindrücke waren überwältigend. Dies war der eigentliche Reiz der Holo-Lessons. Nur in den Holo-Lessons arbeitete der Staat mit authentischem Filmmaterial aus der Vergangenheit, ansonsten beschränkten sie sich auf Computeranimationen und Standbilder. Ein Rudel Wildpferde galoppierte durch das von feuerroten Felsen umstandene Tal. Über die leiser werdende Musik legte sich das unverwechselbare Geräusch rotierender Rotorblätter. Jetzt saß er in der gläsernen Kanzel eines Helikopters. In der Verlängerung eines Maschinengewehrs die fliehenden Tiere. War er es, der geschossen hatte? Ganz Salven ergossen sich aus den stählernen Läufen, die Pferde wurden regelrecht umgemäht. „NEIN!“, schrie er. Es war das erste Mal, dass er während einer Lesson eine solche Reaktion zeigte.

Xenia sah ihn liebevoll an, dann löste sie sich auf, das tat sie gern. Malin blieb noch eine Weile unterm Helm sitzen, er musste die Lesson erst einmal verdauen.

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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman “Go! Die Ökodiktatur” ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision. 2023 erschien sein aktuelles Buch „HEROES. Mut, Rückgrat, Visionen“.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Bearok / Shutterstock.com


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