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Die Gesellschaft der Zukunft: Entwurf einer neuen Gesellschaftsordnung | Von Manfred Norwat

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Ein Kommentar von Manfred Norwat.

Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der die Wirtschaftsordnung auf Privateigentum aufgebaut ist. Die Menschen haben in unserer Demokratie leider kein Mitspracherecht und sollen ihre Stimme bloß abgeben. Manfred Norwart versucht sich aus den üblichen Denkmustern zu befreien und entwickelt eine grundsätzlich andere Alternative.

Die Intention des Artikels ist, eine grundsätzliche Alternative zu unserem heutigen global herrschenden Gesellschaftssystem des Kapitalismus zu entwickeln.

Was eine künftige Gesellschaftsordnung betrifft, so sollte sie einerseits allumfassend demokratisch und andrerseits sollten alle Bürger und Bürgerinnen am Ergebnis der Güterherstellung in gleicher Weise, d.h. egalitär beteiligt sein. Ich bezeichne die beiden Komponenten daher als partizipative Demokratie und als egalitäre Ökonomie.

Der gesellschaftliche Aufbau in Form des Rätesystems ist das Wesensmerkmal der partizipativen Demokratie. Im Gegensatz dazu ist die heutige repräsentative Demokratie vor allem durch ihre Schattenseiten, Stichwort: Beteiligung der Bevölkerung nur in Form von Wahlen, danach jedoch einflusslos, hingegen starker Einfluss mächtiger Interessengruppen, Manipulation durch die Medien usw. geprägt.

Die entscheidende Frage ist, wie kann die Bevölkerung am politischen Willensbildungsprozess beteiligt werden, ohne dass dieser die politischen Abläufe blockiert oder fehlleitet?

Nicht durch Massenversammlungen und -abstimmungen, wo es ebenfalls bestimmende Kräfte gibt und die meisten zur passiven Abstimmungsmasse gehören, sondern durch die aktive Beteiligung jedes Bürgers und jeder Bürgerin auf Zeit am gesellschaftlichen Willensbildungs- und vor allem Entscheidungs- und Umsetzungsprozess, eben eine partizipative Demokratie in Form von rotierenden Räten.

Alle BürgerInnen im Alter von 25-59 Jahren werden in drei Altersklassen und zwar 25-44 Jahre, 45-54 Jahre und 55-59 Jahre erfasst. Die jüngeren und älteren Gesellschaftsglieder haben ihre eigenen Partizipationsrechte, über die ich in der Folge noch näher eingehen werde. In der jeweiligen Altersstufe wird ausgelost, wer für 2 Jahre in die jeweiligen Räte delegiert wird. In der 1. Altersstufe sind es 20, in der 2. 10 und in der 3. Altersstufe sind es 5 Jahrgänge. Die Räte gliedern sich einmal vertikal entsprechend den Altersstufen und horizontal in 2 Bereiche danach, ob sie den Produktions- oder den Reproduktionsbereich vertreten.

Ein Beispiel, ausgehend von einer Einzelperson: Fritz Müller schaute mit 65 Jahren auf folgende Ratstätigkeit zurück. Mit 27 Jahren wurde er Mitglied im Hausgemeinschaftsrat, dies ist der Rat, dem alle Mitglieder der ersten Altersebene angehören. Im Alter von 49-50 Jahren war er Mitglied des Betriebsrates (d.i. die Betriebsleitung) seines Betriebes und mit 57 Jahren gehörte er dem Regionalrat der Konsumentenseite an. Ab dem nächsten Jahr ist er für eine Tätigkeit im Kontinentalrat vorgesehen. Diese Mitgliedschaft beruht auf freiwilliger Basis und hier kommen alle in Betracht, die im 3. Altersabschnitt nicht dem höchsten nationalen Gremium, dem Nationalrat, angehörten. Außerdem war Fritz Müller noch Mitglied im RentnerInnenrat, der die Interessen ihrer Mitglieder ebenfalls auf freiwilliger Basis gegenüber den Räten vertritt. Mit dem Wechsel in den Kontinentalrat scheidet er aus dem RentnerInnenrat aus.

Seine Ehefrau Edith startete mit 33 Jahren ebenfalls im Hausgemeinschaftsrat, mit 45 Jahren gehörte sie dem Kommunalrat an und mit 56 Jahren dem Nationalrat als Vertreterin der Produzentenseite an. Auf eine Beteiligung im RentnerInnenrat hat sie wegen ihrer zahlreichen Freizeitaktivitäten verzichtet.

Die Gewaltenteilung, die heute zwar nach dem Schulbuch, aber nicht in der Wirklichkeit existiert (s. Einfluss der Exekutive auf die Mehrheitsfraktionen im Parlament, Geschachere um Auswahl der Verfassungsrichter durch Bundestag und Bundesrat), ist im neuen Gesellschaftssystem aufgehoben. Die Räte haben für ihren jeweiligen Bereich sowohl die gesetzgeberische wie die ausführende Gewalt inne und bei der Umsetzung stellen sie die obere Verwaltungshierarchie dar. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben sind die Räte in verschiedene Ausschüsse und Unterausschüsse gegliedert, deren Arbeit, falls notwendig, durch Koordinierungsausschüsse organisiert werden.

Die Ratsmitglieder besitzen umfangreiche gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten, die jedoch stets mit der Basis rückgekoppelt werden müssen. Außerdem sind sie für deren Umsetzung gegenüber der Gesellschaft direkt verantwortlich. Ist die Basis mit Ratsentscheidungen nicht einverstanden, so können Volksabstimmungen beantragt werden, die mit einem Mehrheitsquotum die Ratsbeschlüsse wieder aufheben. Ratsmitglieder, die ihrer Rolle nicht gerecht werden oder deren Prinzipien zuwiderhandeln, können von der Allgemeinheit abberufen werden. Dies gilt für die Mitglieder aller Räte.

Nicht wie heute „Alle Macht geht vom Volke aus, aber wohin geht sie? sondern es gilt: Alle Macht gehört dem Volk, alle Macht bleibt im Volk.“ Idealerweise gehe ich in meinem Modell von einer Gesellschaft von ca. 50 Millionen Einwohnern aus. Staaten mit höherer Einwohnerzahl müssten sich daher verwaltungsmäßig in kleinere Einheiten aufgliedern.

Die BürgerInnen der partizipativen Demokratie lernen schon sehr früh von Kindesbeinen an mit den Regeln ihrer Gesellschaftsordnung umzugehen. In den Schulen, Hochschulen und Ausbildungsstätten gibt es analoge Rätesysteme wie Klassen-, Schul-, Studien- und Ausbildungsräte, die neben den Lehrern und Ausbildern umfangreiche Beteiligungsrechte haben. Ebenso ist partizipative Demokratie ein Lern- und Studienfach.

Was die ökonomische Seite betrifft, so besteht kein Privateigentum an Produktionsmitteln, am Boden, Immobilien und den Bodenschätzen sondern gesellschaftliches Eigentum.

Wie schafft man es in der Zukunft, dass einerseits die Güter effizient produziert und gerecht verteilt werden und andrerseits die Bedürfnisse jedes einzelnen befriedigt werden können? Schauen wir uns deshalb die Vorlaufzeit eines Produktionsjahres, d.h. die Planungszeit etwas genauer an. Im ersten Vierteljahr können die VerbraucherInnen Vorschläge für neue Produkte über das Netz an die einzelnen Betriebe eingeben, die bis Ende Mai von ihnen auf ihre Umsetzbarkeit überprüft werden. Im Juni und Juli werden zur allgemeinen Information ihre neuen Ideen von den Produzenten in das Netz gestellt. Im August erfolgt dann die Gesamtpräsentation mit den bisherigen und neuen Produkten und der Anmeldung des Gesamtbedarfs durch die VerbraucherInnen.

Als Orientierungshilfe haben die KonsumentInnnen am Anfang des Jahres eine Übersicht über ihren Verbrauch des letzten Jahres von der regionalen Verrechnungsstelle erhalten. Güter, die über mehrere Jahre verteilt genutzt werden, wie Kleider und Haushaltsgegenstände, werden anteilig berechnet. Ebenso können neben den EinzelkonsumentInnen auch Gemeinschaftskonsumenten wie Hausgemeinschaften, Schulen, Vereine usw. nach Zustimmung des zuständigen Rates ihren Bedarf anmelden.

Aufgrund der Bedarfsmeldungen der VerbraucherInnen sowie der ständigen internen Bestandsermittlung stellen die Produzenten der Konsumgüter selbst lang- oder kurzfristige Anforderungslisten an die Betriebe der Produktionsmittelbereiche wie Maschinen und Vorprodukte auf.

Alle ermittelten Bedarfsanmeldungen werden zum Jahresende in einem Volkswirtschaftsplan für das nächste Jahr zusammengefasst. Im neuen Produktionsjahr wird die Planerfüllung von den zuständigen Räten laufend überwacht und ggf. korrigiert.

Jedes Mitglied der Gesellschaft ist zwar aufgefordert, sich an den Bedarfsanmeldungen zu beteiligen, muss es aber nicht. Dann wird er oder sie mit den Durchschnittswerten erfasst.

Alle Produkte werden nach den in ihnen verausgabten Arbeitszeit bewertet und in Anteilen ausgedrückt. Da die Naturschätze dem ganzen Volk gehören, muss für sie nichts bezahlt werden. Erst die Arbeit ab der Förderung der Ressourcen geht in den Wert der Produkte ein. Allerdings können die Nationalräte für bestimmte Güter, da nur in begrenzter Anzahl vorhanden, gesellschaftliche Werte festsetzen.

Nicht mehr die Erzielung von Gewinn ist der Zweck der Betriebe sondern die Bedürfnisbefriedigung jedes/r einzelnen mit qualitativ hochwertigen, langlebigen und ggf. recyclebaren Gütern. Da im Einklang mit der Natur nur notwendige Güter hergestellt werden, kann die Arbeitszeit geschätzt auf die Hälfte der heutigen Arbeitszeit verkürzt werden.

Jeder und jede hat die gleiche Anspruchssumme an Anteilen für die zu erwerbenden Konsumgüter zur Verfügung. Die Gesamtsumme ist in verschiedene Bereiche unterteilt wie Lebensmittel, Kleidung, Kultur usw. Die Anteilsumme kann nach Belieben bis zur Höchstgrenze ausgeschöpft werden oder nicht. Jedoch kann er oder sie nicht einen Bereich gegenüber dem anderen bevorzugen, d.h. man kann z.B. nicht auf Bildung verzichten und dafür mehr Kleidung beziehen. Zum Menschsein gehören neben der Befriedigung der Grundbedürfnisse auch die der kulturellen Bedürfnisse. Die Anteile gelten nur für ein Jahr, bei Nichtgebrauch verfallen sie. Sie können daher nicht über Jahre angespart werden.

Die scheinbar aufwändige Anmeldung der Bedarfe von Konsumenten und Produzenten und deren Zusammenfassung in einem Volkswirtschaftsplan hört sich sehr bürokratisch an und erinnert an unselige realsozialistische Zeiten. Der wesentliche Unterschied besteht jedoch darin, dass nicht irgendeine Parteibürokratie sondern die Gesellschaft und ihre Räte den Produktionsumfang und -ablauf bestimmen. Und in einem Volk von ca. 50 Millionen müssen die Einzelinteressen und die der Gesamtheit sowie die Produktionsbedingungen und die Ökologie in einem feingliedrigen Abstimmungsprozess zum Ausgleich gebracht werden. Der bürokratische Aufwand kann mit der Zeit immer mehr zurückgefahren werden, denn für die Planvorgaben verfügt man von Jahr zu Jahr über mehr Erfahrung und Planungssicherheit. Außerdem gilt, je höher die Verantwortungsbereitschaft der einzelnen Mitglieder für das Ganze ist, um so weniger Regeln werden benötigt.

Dass eine weiterentwickelte Digitalisierung ihren hohen Anteil an der Datenverarbeitung hat, liegt auf der Hand. Diese kann jedoch nicht den gesellschaftlichen Diskussions- und Entscheidungsprozess ersetzen, den müssen die Menschen selber gestalten.

Auf einen wichtigen Bestandteil der partizipativen Demokratie soll noch hingewiesen werden, und zwar auf den wissenschaftlichen Beirat. Der wissenschaftliche Beirat hat die Aufgabe, die nicht vertretbare Natur auf allen gesellschaftlichen Ebenen, u.a. auf jeder Ratsebene zu vertreten. Er hat das Recht, Ratsentscheidungen mit seinem Veto zu blockieren. Die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirates sind nicht in das Rätesystem miteinbezogen, sie sind daher völlig unabhängig und nur der Umwelt verpflichtet.

Die zwei wesentlichen Bestandteile der künftigen Gesellschaft wirken sich auf das Zusammenleben ihrer Menschen aus. Zunächst ist für alle die gleiche Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen gewährleistet. Dies und die Basisdemokratie tragen zur Kooperation im Arbeitsleben, zum sozialen Miteinander im allgemeinen und zur Solidarität im besonderen bei. Und doch hat jede und jeder aufgrund ihrer/seiner materiellen Sicherheit die Möglichkeit sich selbst zu verwirklichen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Gesellschaftsglieder sich ihrer Verantwortung gegenüber den Nächsten, der Gesellschaft und der Umwelt bewusst sind und danach handeln.

Mit meinen Ausführungen will ich verdeutlichen, dass das TINA-Prinzip (There is no alternative) überholt ist. Es gibt zu unseren heutigen kapitalistischen Gesellschaftsordnungen zumindest Gegenentwürfe. Bereits heute können wir uns überlegen, welche Ansätze in unsere Gegenwart und naher Zukunft übertragbar sind. Es sollen sozusagen künftige Modelle auf das Hier und Jetzt heruntergebrochen werden. Dies wurde bereits und wird immer wieder u.a. in selbstverwalteten Betrieben und Lebensgemeinschaften, allerdings unter kapitalistischen Gesamtbedingungen, in sog. Nischen umgesetzt. Ebenfalls ein beeindruckendes Beispiel ist die Berliner Enteignungskampagne. Aber auch gesellschaftliche Umwälzungen müssen in Betracht gezogen, diskutiert und in die Klassenauseinandersetzungen miteinbezogen werden. Auch hier gilt: je hegemonialer die Ideen über eine zukunftsfähige Gesellschaft verbreitet sind, um so mehr tragen sie zum Gelingen der Gesellschaftsveränderung bei.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Dieser Beitrag erschien zuerst am 17. Januar 2023 bei free21.org

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Bildquelle: Rawpixel.com/ shutterstock


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