Es begann am 14. Oktober 2025, in einer Turnhalle bei Brandenburg an der Havel: Ein Wort, gesprochen in der stickigen Luft einer Provinzhalle – „im Stadtbild haben wir noch ein Problem“ – genügte, um das Land in den Zustand eines kollektiven Fiebers zu versetzen. Nicht, weil der Kanzler etwas Revolutionäres sagte, sondern weil er das Banale im falschen Tonfall sprach.
Von diesem Augenblick an entfaltet Der Zaudermerz sein Sezierbild einer politischen Klasse, die längst zum Patienten ihrer eigenen Rhetorik geworden ist. Berlin erscheint hier als Sanatorium der Macht – ein Ort, an dem Moral und Müdigkeit miteinander verkeilt sind, wo Minister therapieren statt regieren und jedes Interview zur ärztlichen Visite wird.
Der folgende Beitrag ist eine bewusste Anlehnung an Thomas Manns Zauberberg – jenen Roman über Krankheit, Zeit und Selbsttäuschung, der heute unheimlich aktuell wirkt. Wie einst Hans Castorp verliert sich auch der moderne Kanzler in der dünnen Luft seiner Bedeutung, gefangen zwischen moralischer Überhitzung und intellektueller Kälte.
Der Zaudermerz ist kein politischer Kommentar, sondern ein klinischer Bericht über ein Land, das sich selbst behandelt – und dabei vergisst, wofür es einmal gesund sein wollte.
Ein Standpunkt von Anna Zollner.
Es war der vierzehnte Oktober des Jahres zweitausendfünfundzwanzig, ein Tag von jenem bleigrauen Glanz, wie ihn nur die politische Zwischenzeit kennt, wenn die Blätter der Parteien in den Berliner Alleen zu Boden sinken und das Land, müde vom eigenen Diskurs, sich in die Chronik flüchtet. Er, der Kanzler, stand auf der improvisierten Bühne einer Turnhalle bei Brandenburg an der Havel, flankiert von zwei Bannern, die das müde Versprechen „Sicherheit und Ordnung“ in verblichenem Blau trugen, und blickte hinab auf jene Journalisten, die mit ihren Geräten auf ihn zielten, als ginge es nicht um Worte, sondern um Beweise. Er hatte gesprochen – nicht viel, nicht laut, aber doch so, dass es hallte. Von „Migration“ war die Rede gewesen, von „Fortschritten“, von „Problemen im Stadtbild“, ein Ausdruck, der ihm in der Kehle hängen geblieben war wie ein unverdauter Gedanke, halb zufällig gefallen, halb gewollt.
Kaum war der Satz gesprochen, wusste er, dass er leben würde, länger als er selbst, länger als das fragile Wohlwollen der Presse. Denn Sätze, die nichts Genaues sagen und doch alles andeuten, sind die langlebigsten Geschöpfe der Politik. Nun stand er da, aufrecht, die Hände vor dem Körper verschränkt, und hörte die unhörbare Musik der Reaktionen, die bereits anrollten, noch bevor der Beifall der Parteifreunde verebbt war. Er sah sie schon vor sich: Klingbeil, der ihn jovial abkanzeln würde – „Herr Merz, das ist Stammtisch-Rhetorik mit Regierungsbonus“ –, Weidel, die lächelnd den Satz als Kompliment an die eigene Agenda reklamieren würde, Pistorius, der mit soldatischer Geduld darauf hinweisen würde, dass „Ordnung“ kein Wort, sondern ein Auftrag sei. Er sah sie alle, wie Schattenfiguren an der Wand seines eigenen Sanatoriums, und spürte, dass er selbst längst der Patient war.
Denn in diesen Jahren war die deutsche Politik ein Berghof geworden – ein Höhenkurort der Bedeutungen, in dem jeder Erkrankte an seiner eigenen Wichtigkeit laborierte, während unten im Tal das Volk mit leichtem Fieber vor den Bildschirmen saß. Er, der Kanzler, hatte sich hinaufgeredet in diese dünne Luft, wo Worte träge kreisen wie Schneeflocken, die nie zu Boden fallen. Er wusste es. Und doch sprach er weiter, immer weiter, als könne man durch Reden den Hang zur Bedeutungslosigkeit heilen.
Später, im Auto, während die Stadt Brandenburg im Rückspiegel verschwand, kam das Zittern. Nicht in den Händen, sondern im Denken. Er erinnerte sich an das Geräusch, das durch den Raum gegangen war, als er „Stadtbild“ gesagt hatte – ein kaum hörbares Rascheln der Kameras, ein unmerkliches Nachvornbeugen der Reporter, dieses kleine Beben, wenn ein Satz riecht wie Schlagzeile. Er hätte ihn zurücknehmen können, gleich dort, im Nebensatz, in der rhetorischen Fußnote, wie man ein Streichholz im Moment des Zündens ausbläst. Doch er tat es nicht. Er ließ es brennen. Er, Friedrich Merz, der kalkulierte Redner, der sich auf Präzision berief, hatte in diesem Augenblick das Unpräzise gewählt – und nun, da die Nachrichtensender ihre Schleifen fuhren, wurde ihm klar, dass ausgerechnet die Unschärfe seine Wahrheit geworden war.
Am Abend kam der Sturm. Noch während er in der Kanzlerwohnung die Krawatte löste, meldete das Netz: #Stadtbild trendete. Vor der CDU-Zentrale sammelten sich Menschen – anfangs dutzende, bald hunderte, am Ende zählten sie über tausend. Es war kein Zorn, es war Inszenierung: Pappschilder, Stimmen, die „Wir sind die Töchter“ riefen, wie in einer modernen Moritat. Er sah es im Livestream, schweigend, und dachte an Settembrini, diesen italienischen Humanisten, der Castorp einst in die Vernunft hineinreden wollte. Vielleicht war diese Menge sein Settembrini – aufklärerisch, lärmend, überzeugt, und doch in ihrer moralischen Hitze krank an demselben Fieber, das auch ihn plagte: der unstillbaren Sucht nach Bedeutung.
Er ging ans Fenster, sah hinunter auf die stillen Straßen der Wilhelmstraße und fragte sich, ob nicht er selbst der Patient geworden war, eingesperrt in der Klinik seiner Macht, gepflegt von Beratern, überwacht von Journalisten, umgeben von politischen Mitpatienten, die sich gegenseitig Diagnosen stellten. Da war Klingbeil, der ewig gesunde Sozialdemokrat, der sich seine Vitalität wie ein Fitness-Abo leisten konnte, und da war Weidel, die fiebrige Prophetin, deren Krankheit man mit Worten wie „Klartext“ beschrieb. Und da war Pistorius – der Obergefreite der Nation, dessen ruhige Präsenz ihn zugleich beruhigte und irritierte. War Pistorius ein möglicher Partner in der Zukunft oder bereits der künftige Konkurrent? War Kriegstüchtigkeit, dieses neue Wort, vielleicht das Serum gegen seine schwindende Autorität? Ein Kanzler, der handeln wollte, brauchte einen Krieg, wie der Kranke seine Temperatur – als Beweis, dass er noch lebt.
Er schloss die Augen. In seinem Kopf begann das Rauschen, das nur die hören, die zu oft in Mikrofone gesprochen haben. Ein Rauschen aus Zitaten, Überschriften, Kommentaren. „Merz rechtfertigt sich nicht“ – „Merz liefert AfD Munition“ – „Jesuitenpater nennt Aussage gefährlich“ – „Bild findet sie ehrlich“ – „FAZ fragt nach dem Stadtbild des Kanzlers selbst“. Er wusste, dass jedes dieser Worte, ob lobend oder tadelnd, in demselben Chor sang: dem Chor seiner fortschreitenden Irrelevanz. Denn wer ständig erklärt, warum er recht hat, verliert den Glauben daran, dass er recht hat.
Er setzte sich, griff nach dem Glas auf dem Tisch, trank, und der Wein schmeckte nach Metall. Er dachte an die CDU, diese altehrwürdige Kurgesellschaft, die einst Adenauer beherbergte und nun nur noch Patienten unterschiedlicher Befunde: Panik, Müdigkeit, moralisches Rheuma. Er selbst, der Kanzler, war ihr Chefarzt und zugleich ihr Symptom.
Er lachte leise, fast zärtlich über sich selbst. Vielleicht, dachte er, war das alles gar kein Skandal, sondern ein Selbstgespräch, öffentlich geführt. Ein Versuch, sich im Spiegel der Nation zu erkennen, und stattdessen nur die Reflexion der Reflexion zu finden. Das war sein Zauberberg: die ewige Wiederkehr des Gesagten, die Wiederholung des Gedachten, das Heilen durch Diagnostizieren.
In jener Nacht, die auf den Sturm folgte, konnte er nicht schlafen. Die Stille war zu laut. Es war die Art von Stille, in der ein Satz, einmal ausgesprochen, sich im Gehirn wie ein rostiger Nagel dreht. „Stadtbild.“ Welch harmloses, zivilisiertes Wort – und doch, wie viele Ungeheuer hatte es geweckt. Er lag auf dem Sofa, blickte an die Decke und erinnerte sich, wie alles begonnen hatte, damals, im Februar, als die Republik sich erneut in eine Wahl hineingeredet hatte, die niemand wirklich wollte.
Er hatte sie gewonnen, ja, aber nicht so, wie er es sich erträumt hatte – nicht im Glanz des ersten Durchgangs, sondern als Nachrücker im zweiten, getragen von jenen, die ihn eigentlich besiegt hatten. Eine Kanzlerschaft aus Gnaden der Verlierer, ein Sieg, der nach Demütigung schmeckte. Die Sozialdemokraten, diese alten Gesellen des Kompromisses, hatten ihm die Tür geöffnet, nicht aus Achtung, sondern aus Müdigkeit. Und er, Friedrich Merz, der sich stets als Triumphator der ökonomischen Vernunft gesehen hatte, trat ein wie ein geduldeter Gast im eigenen Haus.
Er dachte an jenen Tag der Vereidigung. Wie er, in maßgeschneidertem Schwarz, zwischen den Reihen der Fraktionen schritt, den Kopf erhoben, das Gesicht zu einer Maske der Tat geformt, als könne man Entschlossenheit durch Mimik erzwingen. Und doch war da, unter der glänzenden Stirn, dieses Flackern, das nur er kannte – die Ahnung, dass seine Macht auf einem Missverständnis beruhte: auf der Verwechslung von Berechenbarkeit mit Bedeutung.
Seitdem versuchte er, den Schein des Handelnden zu wahren. Es gab Berichte, Kalkulationen, Sitzungen – und Visagisten. Zwölftausend Euro hatte die Kanzlei der Ästhetik bereits verschlungen, die Haare sollten die Kontinuität wahren, das Gesicht die Seriosität, die Haltung den Unterschied. Doch je akribischer die Oberfläche gepflegt wurde, desto stärker bröckelte das Innere. Die Nation spürte es. Er selbst spürte es. Es war, als säße er in einem Boot aus Spiegeln – überall nur er, aber nie der, den er sein wollte.
„BlackRock in der Brandung“ – dieses Bonmot hatte ein Kolumnist geprägt, halb spöttisch, halb bewundernd. Und er, eitel genug, hatte es genossen, obwohl er wusste, wie tödlich der Satz war. Denn in Wahrheit war er kein Fels, sondern Treibgut in den Strömungen einer Welt, die längst niemand mehr steuern konnte. Globalisierung, Digitalisierung, Fragmentierung – all diese Ismen, die er einst in Talkshows wie Münzen jongliert hatte, lagen nun vor ihm wie eine Scherbenlandschaft. Er hatte geglaubt, die Finanzmärkte zu verstehen, die Welt zu ordnen, die Zahlen zu zähmen. Doch die Welt, diese launische Patientin, ließ sich nicht therapieren. Sie lachte ihn aus, leise, mit dem trockenen Humor der Geschichte.
Und nun stand er da, Kanzler eines Landes, das seine Rolle vergessen hatte, und er selbst – eine Figur, halb Staatsmann, halb Statist. Er sah sich in der Glotze neben dem Präsidenten, jenem feisten, mild vor sich hin moralpredigenden Bundesvater, dessen Auftritte stets wie eine Tasse lauwarmer Kamille schmeckten. So wollte er nie werden. Und doch war er auf bestem Weg dorthin – unspektakulär, rundlich, unsexy. Ein Mann, der Macht besitzt, aber keine Aura.
Vor wenigen Wochen hatte man ihn nach Kairo geschickt, zum Nahost-Gipfel, der eilig einberufen worden war, nachdem Gaza erneut in Flammen stand. Die Hitze des Tages war mitternächtlich in die Säle der Konferenz gedrungen; der Sand klebte an den Schuhen der Diplomaten, der Rauch an den Bildern der Fernseher. Trump, Netanjahu, Sisi, Macron – sie saßen im inneren Kreis. Er selbst war am Rand platziert, weit entfernt vom Mikrofon, zu nah am Buffet, um wichtig zu wirken. Ein Katzentisch der Geschichte.
Man hatte ihm nicht widersprochen, man hatte ihn überhört. Seine vorbereiteten Worte über „humanitäre Korridore“ verdampften in der stickigen Luft, und als die Kameras ihn streiften, stand er da – lächelnd, verkrampft, ein geohrfeigter Schuljunge im Anzug, der glaubt, zur Klasse der Weltmächtigen zu gehören. Selbst die Dolmetscher schienen gelangweilt, während neben ihm der ägyptische Protokollchef höflich gähnte.
Er spürte, wie sich das alte deutsche Trauma der Unbedeutsamkeit in ihm regte. Das Trauma, das Land der Belehrungen zu sein, nie das der Entscheidungen. Und wieder einmal war er es, der die Rolle musterte, die ihm die Geschichte zuteilte: die des Zuschauers mit Sprechzettel.
Auf dem Rückflug blickte er aus dem Fenster in die flimmernde Schwärze über dem Mittelmeer und fragte sich, ob Kriegstüchtigkeit ihn retten könnte. Würde eine neue Welle der Härte ihm jene Aura verleihen, die ihm das Bürgertum einst versprochen hatte? Würde Pistorius, dieser uniformierte Pragmatiker, sich als Bundesbruder erweisen oder als Rivale im Glanz der Uniform?
Er sah sich in künftigen Interviews, wie er, mit jener künstlich gesetzten Ruhe, von „Verantwortung“ sprach, während hinter ihm Panzerzüge rollten, als sei die Geschichte eine Fernsehkulisse. Und er spürte, wie sein eigenes Ego, dieses unruhige Tier, an der Kette zog: Es wollte relevant sein, geliebt vielleicht, aber wenigstens gefürchtet.
Er sah Weidel, diese kalte Intelligenz des kalkulierten Skandals, wie sie mit einem fast mitleidigen Lächeln seine Worte recycelte. Er sah Klingbeil, der den Sozialdemokraten im Kanzler spielte, als habe er die Rolle einstudiert. Und über all dem sah er sich selbst – Friedrich Merz, ein Mann, der sich für die Vernunft hielt und nun zur Figur geworden war im Theater ihrer Parodie.
Er legte sich zurück, hörte das Brummen des Motors unter dem Flugzeugboden und dachte, dass vielleicht der Sinn seines Amtes nicht im Regieren lag, sondern im Ertragen – im Ertragen der eigenen Austauschbarkeit, im geduldigen Ausharren zwischen den Schlagzeilen. Ein Kuraufenthalt in der Klinik der Geschichte.
Es war weit nach Mitternacht, als er ins Kanzleramt zurückkehrte, erschöpft vom Flug, von den Bildern aus Kairo, von sich selbst. Die Fenster spiegelten Berlin, diese Stadt, die so tut, als schlafe sie, während sie sich in ihrer eigenen Nervosität wiegt. Über dem Tiergarten glomm der Himmel kupferfarben, als wäre dort ein Brand, den niemand löschen will. Er trat ans Glas, sah die Lichter der Ministerien, die wie kleine Glutnester glommen, und dachte, dass Politik vielleicht nichts anderes sei als das kontrollierte Abbrennen von Möglichkeiten.
Er zog das Jackett aus, legte es sorgfältig über die Lehne, als könne Ordnung im Stoff die Unordnung des Denkens besänftigen. Dann ließ er sich in den Sessel fallen, dieser Thron des Müdigkeitsstaates, und wartete auf die Stille. Aber sie kam nicht. Stattdessen kamen Stimmen. Nicht von draußen – aus ihm selbst.
Weidel zuerst, ihre kühle Stimme, präzise, stählern, die ihn anlächelte wie ein Skalpell: „Sie sehen, Herr Kanzler, selbst Ihr Stadtbild hat keine Mitte mehr.“
Dann Klingbeil, jovial und giftig zugleich: „Wir haben Sie groß gemacht, damit Sie uns nicht gefährlich werden.“
Und schließlich Pistorius, in seiner preußischen Gelassenheit: „Herr Bundeskanzler, Kriegstüchtigkeit ist kein Wort, es ist ein Zustand. Sind Sie bereit?“
Er wollte antworten, aber seine Stimme versagte, blieb im Hals wie eine schlecht gespielte Trompete stecken. Er hörte nur das eigene Atmen, dieses flatternde, unregelmäßige Geräusch eines Mannes, der merkt, dass er längst nicht mehr redet, sondern nur noch zitiert wird. Er war, das wusste er jetzt, zum Echo seiner eigenen Pressekonferenz geworden.
Auf dem Schreibtisch lag der Ausdruck seines Terminkalenders – Sitzungen, Kommissionen, ein Interview mit einem Nachrichtenmagazin, das ihn „der Mann der Tat“ nennen wollte. Er starrte auf diese drei Worte und lächelte. „Mann der Tat.“ Wie lächerlich das klang, wenn man die Taten zählte. Keine Reform, kein Aufbruch, kein Satz, der wirklich Bestand gehabt hätte. Nur die Verwaltung des Unausweichlichen, das schrittweise Hinübergleiten der eigenen Bedeutung in die Fußnoten der Geschichte.
Er ging zum Fenster zurück. Unten fuhr ein einsamer Streifenwagen vorbei, und im Licht der Laterne sah er den Schatten seiner Hand, der über die Scheibe glitt wie ein letzter Versuch, Halt zu finden.
Was war von ihm geblieben? Ein Finanzmann, der sich in der Moral erschöpft hatte. Ein Rhetoriker, der seine Stimme an das Schweigen verkauft hatte. Ein Kanzler, der gewählt worden war, um niemanden zu stören.
Er dachte an die Demo vor der CDU-Zentrale, an die tausend Stimmen, die seinen Namen aussprachen, nicht aus Hass, sondern aus Erschöpfung. Menschen, die etwas suchten, das er nicht mehr bieten konnte: Richtung. Vielleicht hatte er sie früher gehabt, eine Richtung – damals, als er noch glaubte, dass Ordnung eine Tugend sei und nicht eine Tarnung. Heute wusste er: Politik war kein Kompass, sondern eine Drehbühne.
Er setzte sich wieder, öffnete den Laptop, sah die Schlagzeilen. „Merz verteidigt Stadtbild-Aussage“, „Kanzler bleibt bei seiner Wortwahl“, „Merz liefert AfD Munition“. Er las sich selbst, wie man eine fremde Figur liest, die einem peinlich ist. Zwischen den Zeilen sah er die Müdigkeit eines ganzen Systems.
Er stellte sich vor, er würde jetzt einfach aufstehen, die Tür öffnen, in die Nacht gehen. Kein Rücktritt, keine Erklärung, nur das Verschwinden eines Mannes, der zu viel Bedeutung gesucht hatte. Aber wohin? Wohin gehen, wenn die Öffentlichkeit das Einzige ist, was einen noch am Leben hält.
Im nächsten Zimmer hing ein Porträt Adenauers. Er trat davor, betrachtete das alte Gesicht, das selbst in Öl noch ironisch schien. „Auch Sie, alter Herr“, murmelte er, „wurden unterschätzt. Aber Sie hatten einen Feind, und ich habe nur mich.“
Er lachte kurz, dieses leise, heisere Lachen, das klingt, als wolle man sich entschuldigen.
Draußen begann es zu dämmern. Berlin zog den grauen Mantel des Morgens über. Er spürte die Erleichterung des Unvermeidlichen: den Übergang von der Nacht der Gedanken in den Tag der Routine.
In ein paar Stunden würde er wieder vor Kameras treten, über Ordnung sprechen, über Zusammenhalt, über Deutschland. Er würde die Stimme senken, wie immer, wenn er Nachdruck vortäuschte, und die Menschen würden nicken, aus Gewohnheit, nicht aus Überzeugung.
Er wusste, dass sie ihn längst durchschaut hatten, so wie er sich selbst. Ein Kanzler der Zwischenzeit. Ein Arzt ohne Heilung, ein Patient ohne Krankheit. Und doch, während er das Jackett wieder anzog, kam ihm der Gedanke, dass gerade darin vielleicht eine Form von Größe lag – in der kunstvollen Verwaltung der Bedeutungslosigkeit.
Er trat hinaus in den Flur, vorbei an den Porträts seiner Vorgänger. Die Schritte hallten, dumpf, wie das Echo eines letzten Gedankens. Er blieb kurz stehen, sah auf die Doppeltür zum Presseraum und flüsterte: „Vielleicht bin ich gar kein Mann der Tat. Vielleicht bin ich nur ihr Gedanke.“
Dann öffnete er die Tür, und das Licht verschluckte ihn.
Der Morgen roch nach Teppichkleber und frischer Eitelkeit. Das Kanzleramt, dieses Betonmonument demokratischer Hybris, lag vor ihm wie ein zu groß geratenes Denkmal der Selbstversicherung. Er kannte jeden Gang, jede Rampe, jedes Fenster, das den Bürger draußen zu einem Betrachter in der Ferne degradierte. Und jetzt, nach dem Ausbau auf XXL-Größe, nach Jahren des Bauens, war das Haus endgültig das geworden, was er nie hatte sein wollen: eine Bastion ohne Volk, eine Zitadelle der Verwaltungsseele.
Draußen schwirrten noch die Drohnen der Baustellenkameras, drinnen hallte sein Schritt. Es gab jetzt einen Burggraben, tatsächlich – eine architektonische Pointe, wie von der Geschichte persönlich geschrieben. Ein Kanzler, der von „Stadtbild“ gesprochen hatte, war nun vom eigenen Wassergraben umgeben.
Germania lächelte im Beton.
Er blieb stehen, sah hinüber zu dem neuen Trakt, in dem die Sicherheitszentrale entstehen sollte, und dachte: So also sieht die Angst aus, wenn sie gebaut wird. Er stellte sich vor, wie man eines Tages diese Mauern vermessen würde – nicht nach Quadratmetern, sondern nach Symbolik. Vielleicht würden Historiker sagen, dieses Haus sei kein Kanzleramt gewesen, sondern eine bauliche Ausrede. Ein Schutzraum für einen Mann, der von Abschiebungen sprach und sich selbst schon abgeschoben fühlte.
Er zog an seinem Jackett, das in der Morgensonne matt glänzte, ein Stoff aus dem mittleren Segment, diskret wie alles an ihm. Manchmal dachte er, sein ganzes Dasein sei eine Art C&A-Kollektion: solide, bürgerlich, unauffällig – Qualität ohne Aura. Ein Mann, der Kanzler geworden war, weil die Nation in ihm ihren Durchschnitt erkannt hatte. Er sah aus wie jemand, der Entscheidungen trifft, und sprach wie jemand, der sie meidet.
Auf seinem Weg zum Sitzungssaal blieb er vor dem Wandbild stehen, das die Architekten „Europa im Morgenlicht“ genannt hatten. Er sah darin eher einen Abspann. Er fragte sich, ob Markus Lanz ihn wohl endlich anrufen würde. Die Einladung blieb aus, Woche um Woche. Kein Gespräch, keine Bühne, keine Möglichkeit, die Lüge seiner Tatkraft noch einmal als Pose zu verkaufen. Lanz – seine ungeschriebene Leni Riefenstahl. Er hatte sie gebraucht, um sein Narrativ zu verfilmen: der Mann, der durch Klarheit führt.
Stattdessen blieb Stille.
Kein Kamerablick, kein Licht, kein Mythos. Nur die nüchterne Beleuchtung der Flure und der Kaffee, der nach Behörde schmeckte.
Er trat an das Fenster. Unten, auf dem Vorplatz, standen noch die Zäune, die Baucontainer, die Symbole der ewigen Unfertigkeit. Er dachte an seine Rede vom „Abschieben“, und plötzlich lachte er – ein leises, trockenes Lachen, das aus Müdigkeit kam. Wie sollte man andere abschieben, wenn man selbst längst am Rand stand? Vielleicht war das ganze Projekt „Rückführung“ bloß ein Gleichnis. Vielleicht meinte er sich selbst – den zurückzuführenden Kanzler, den die Geschichte nicht mehr aufnimmt, weil sie voll ist.
Er erinnerte sich an Kairo, an die Fotografen, an den Blick der anderen Staatschefs: freundlich, mitleidig, uninteressiert. Und jetzt stand er hier, in seinem Palast, zwischen Aktenordnern und Architektur, und wusste: Dieses Amt, das größer war als jede Kirche, war seine Kathedrale der Leere.
Er setzte sich auf eine der neuen Ledergarnituren, die nach Staatsausgabe rochen. Ein junger Mitarbeiter reichte ihm den Tagesplan. „Interviewanfrage Lanz, weiterhin offen“, sagte der Mann. Merz nickte, langsam, als würde er ein Gebet beenden.
Er griff nach dem Stift, kritzelte auf das Papier: „Vielleicht bin ich schon abgeschoben – aus der Bedeutung, nicht aus dem Land.“ Dann legte er den Stift hin, stand auf, sah sich noch einmal um.
Würde er, fragte er sich, enden wie Sarkozy – auf neun Quadratmetern seines eigenen Horizonts, umgeben von den Restbeständen der eigenen Wichtigkeit?
Er konnte es sich vorstellen.
Er lächelte müde.
Dann ging er weiter – hinein in den nächsten Tag seiner eigenen Legende, die niemand mehr erzählen wollte.
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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bild: Berlin, 28. Januar 2025. Friedrich Merz (CDU) vor Journalisten zum Thema Migration.
Bildquelle:blue spruce media /shutterstock
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