Der US-Opioid-Skandal

Ein Kommentar von Christian Kreiß.

Mitte Mai 2022 veröffentlichte das amerikanische Gesundheitsministerium die neuesten Zahlen zu Drogentoten in den USA. Demnach starben 2021 etwa 108.000 Menschen an Drogen, ein Anstieg um 15 Prozent gegenüber 2020.1 2019 waren es noch etwa 71.000 gewesen.2

In den beiden Corona-Jahren 2020 und 2021 nahm die Zahl der Drogentoten also um über 50 Prozent zu. Seit dem Jahr 2000 starben in den USA offiziell über eine Millionen Menschen an Drogen.3 Das entspricht genau der offiziellen Zahl sämtlicher Covid-Toten bis 19.5.2022 in den USA.4 Ein anderer Vergleich: Im Vietnamkrieg starben von 1961 bis 1975 rund 68.000 US-Soldaten.5

Die Hauptdrogen, die zum Tode führen, sind so genannte Opioide, künstlich hergestellte synthetische Drogen, insbesondere Fentanyl, das angabegemäß etwa 50 Mal so stark wirkt wie Heroin.6 Als ein Grund für den dramatischen Anstieg in den Jahren 2020 und 2021 wurden von der Pharmazeutischen Zeitung im Januar 2022 die Corona-Maßnahmen genannt: „wegen der Pandemie mussten viele Institutionen zeitweise schließen. Süchtige saßen isoliert zu Hause, wenn sie denn eines hatten.“7

Die Kosten der Opioid-Abhängigkeit und -Toten wurden für das Jahr 2018 in den USA, also vor dem starken Anstieg während der Covid-Zeit, vom economist mit 696 Milliarden Dollar oder 3,4 Prozent des US-Sozialprodukts angegeben.8

Wichtige Treiber für die rasant steigenden Suchtzahlen der letzten Jahre waren die Vertriebspraktiken der Pharmakonzerne. Laut tagesschau.de waren unter anderem Johnson & Johnson sowie drei weitere Konzerne „beschuldigt worden, mit Schmerzmitteln zur grassierenden Medikamentenabhängigkeit in den USA beigetragen und Schmerzmittel unter Verschleierung der Suchtgefahren mit rücksichtslosen und aggressiven Methoden vermarktet zu haben.“9 tagesschau.de zitiert die US-Generalstaatsanwältin Letitia James: “Die zahlreichen Unternehmen, die Opioide hergestellt und in der ganzen Nation verteilt haben, taten dies ohne Rücksicht auf Leben oder sogar auf die nationale Krise, die sie mitbefeuert haben”.10 Wegen dieser Praktiken haben sich vier beschuldigte Konzerne im Juli 2021 bereit erklärt, bis zu 26 Milliarden Dollar Entschädigung zu zahlen, um weitere Klagen abzuwenden.11

Kurz darauf, im September 2021 hatte sich die US-amerikanische Familie Sackler vor Gericht bereit erklärt 4,5 Milliarden Dollar Entschädigung zu zahlen. Das Handelsblatt schreibt dazu: „Ihr Name steht wie kein anderer für die Opioid-Epidemie in den USA: die Sackler-Familie. Die Sacklers sind die Besitzer des Pharmakonzerns und Oxycontin-Herstellers Purdue, der mit der Abhängigkeit Milliarden machte. Es ist ein legales, aber extrem schnell abhängig machendes opioidhaltiges Mittel, das die Familie bewusst in den Markt drückte. Sie gilt als Hauptverantwortliche für die Opioid-Epidemie, die rund einer halben Million Amerikanern das Leben gekostet hat.“ 12

Meine Frage in diesem Zusammenhang lautet: Warum kommen Konzerne und Konzernlenker, die hunderttausende von Menschen wissentlich in Abhängigkeit und Tod treiben mit einer Geldstrafe davon, die möglicherweise nur einen kleinen Bruchteil der erwirtschafteten Gewinne ausmacht? Warum wird ein Kapitalverbrechen nicht mit Gefängnis bestraft?

Im Frühjahr 2019 war dies in den USA einmal geschehen: Damals waren fünf Manager der Firma Invys für ihre kriminellen Opioid-Vertriebspraktiken hinter Schloss und Riegel geschickt worden.13 Der Hauptverantwortliche John Kapoor wurde zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und soll im Dezember 2024 wieder entlassen werden.14 Andrew Kolodny, codirector der Opioid Policy Research at Brandeis University’s Heller School for Social Policy and Management sagte dazu seinerzeit: “Ich hoffe, dass wir mehr Kriminalverfolgungen gegen Opioid-Hersteller sehen werden. […] Eine Strafzahlung oder eine Zivilklage ist nicht angemessen wenn wir Unternehmen davon abhalten wollen, Menschen für Profitzwecke zu töten”.15

Genau das fand aber im Anschluss statt: Strafzahlung statt Kriminalverfolgung. Warum? Die Anwälte der fünf 2019 zu Haftstrafen Verurteilten meinten, Invys sei nur ein „Kleindarsteller“ (“a bit player”)16 gewesen. Das würde zu dem bekannten Spruch passen: die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Das ist meiner Meinung nach ein besonders wichtiger Teil des US-Opioid-Skandals: Die wirklich Reichen und Mächtigen kommen wieder einmal davon.

Zum Autor:
Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern: Gekaufte Wissenschaft (2020); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); BWL Blenden Wuchern Lamentieren (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Werbung nein danke (2016); Gekaufte Forschung (2015); Geplanter Verschleiß (2014); Profitwahn (2013). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD). Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Mitglied bei ver.di und Christen für gerechte Wirtschaftsordnung. Homepage www.menschengerechtewirtschaft.de

Quellen:

10 Ebd.

11 Ebd.

15 https://www.bostonglobe.com/metro/2019/05/02/jury-returns-verdict-insys-trial/KeiTKLXZnnBZnOulLED17M/story.html: „I’m hopeful that we will see more criminal prosecutions against opioid manufacturers … “Paying a fine or even civil litigation is inadequate if we want to deter corporations from killing people in their pursuit of profit.”

16 https://www.bostonglobe.com/metro/2019/05/02/jury-returns-verdict-insys-trial/KeiTKLXZnnBZnOulLED17M/story.html

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: PureRadiancePhoto / shutterstock

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Kommentare (4)

4 Kommentare zu: “Der US-Opioid-Skandal

  1. libertine999 sagt:

    Dazu vielleicht interessant: https://sailersblog.de/2021/07/21/periphere-notate-wespen-ueber-der-herde/

  2. sandra beimer sagt:

    Warum Indizien? Die Technik funktioniert. Die Akteure haben keine Strafverfolgung zu befürchten (Oh hallo Oliver North). Die Kosten/Nutzen ist Rechnung ist also (aus Sicht der Akteure) positiv, damit MUSS das gemacht werden!

  3. sandra beimer sagt:

    Das Fluten mit Drogen (Waffen, Geld) sind übliches Mittel der (Innlands)geheimdienste um Bürger, Gemeinden davon abzuhalten sich zu (gesellschaftlich, politisch) organisieren. Äusserst wirkungsvolle Zersetzungsstrategie, dem Zivilgesellschaten kaum etwas entgegenzusetzen haben.

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