Der gute Ton ist nicht von dieser Welt

Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.

„Der Ton ist nicht von dieser Welt.“

Manche Sätze schwingen nach, einige sogar jahrelang. Dieser zum Beispiel. Er fiel in einem Gespräch, das ich Ende der Neunziger mit Daniel Barenboim geführt hatte, dem damaligen Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper Unter den Linden. „Wir Musiker ziehen dem Ton nur ein Gewand an,“ erklärte der Maestro dem verdutzten Interviewer,

„aber danach verschwindet er wieder dorthin, wo er heimisch ist. Es ist wie mit dem Schmerz. Wenn wir nicht schreien, heißt das ja nicht, dass er nicht existiert.“

Ich kriege Gänsehaut, jetzt, da mir die Worte wieder in den Sinn kommen. Die Schreie in Gaza, die zur Zeit als akustische Qualschicht durch den Äther wabern – Barenboim hört sie vermutlich ständig. Der Mann besitzt als einziger Mensch auf der Welt sowohl die israelische als auch die palästinensische Staatsbürgerschaft. Bereits 1999 gründete er das West-Eastern Divan Orchestra, das sich für friedliche Lösungen im Nahostkonflikt einsetzt. Ich mag mir nicht vorstellen, welcher Zerreißprobe dieser inzwischen 81-Jährige angesichts des Genozids in Gaza ausgesetzt ist.

Und weil das so ist, und weil auch ich es kaum aushalten kann, wechsele ich jetzt das Thema. Nicht ganz, denn es geht erneut um das Unhörbare, dem jemand ein Leben lang auf die Spur zu kommen versuchte. Sein Name ist Amar G. Bose, US-amerikanischer Elektroingenieur und Gründer der weltberühmten Klangschmiede Bose Corporation. Ich begegnete ihm noch im selben Jahr, in dem ich Daniel Barenboim begegnet war. In Framingham, Massachusetts, dreißig Meilen westlich von Boston. Dort residiert seine Firma auf einem Berg, der auch so heißt: „The Mountain“. Sound-Freaks in aller Welt geraten bei Erwähnung dieses Namens in Verzückung, ihnen gilt „The Mountain“ als Ohr zur Welt. Das Motto des 2013 verstorbenen Amar G. Bose lautete nämlich schlicht:

„Ich mache die Melodie des Lebens hörbar.“

Ich erinnere mich, dass wir nach der Begrüßung eine Weile stumm an der Fensterfront seines Büros standen und auf das Firmengelände blickten. Der Sound-Guru und ich, im Schweigen vereint. Bevor die Situation zur Andacht eskalieren konnte, brach mein Gastgeber in kindliches Gelächter aus. Der Sohn indischer Einwanderer war bereits über siebzig, so what. Wir alle werden durch die Zeit gereicht. Aber Jugendlichkeit und Kreativität unterliegen keinem Verfallsdatum. „Ich wusste schon mit neunzehn, dass ich irgendwann eine eigene Firma haben würde,“ bemerkte er schmunzelnd,

„aber erst mit zweiunddreißig sagte ich mir: ‘Mein Gott, Du weißt, dass du eine Firma haben wirst, aber du hast bis jetzt nichts dazu getan!’“

Er wurde förmlich in das Business geschubst – von sich selbst. Das Leben des Amar G. Bose hatte noch genügend Platz für den Aufbau eines Imperiums, das mit fünftausend Angestellten zu den weltweit feinsten Adressen der Hi-Fi-Branche zählt.

Wir verließen den gläsernen Verwaltungspalast und wechselten in den flachen Pavillonbereich, in dem umgesetzt wird, was Bose von Anfang an zu seinem Credo erhoben hatte: BETTER SOUND THROUGH RESEARCH! Die Losung fand sich überall auf dem Firmengelände. „Leben ist Energie,“ hörte ich ihn sagen, „und Energie ist Schwingung, also Klang.“ Er geleitete mich in einen kleinen Vorführraum und schaltete einen Computer ein, auf dessen Bildschirm die architektonische Skizze eines Kirchenschiffs erschien. Ich lauschte einem Orgelkonzert von Bach und sah, wie Bose die Maus von einem Winkel des Gebäudes in den anderen verschob, was das Hörerlebnis jedes Mal entscheidend veränderte. Es kam mir vor, als wäre ich in Bewegung, als würde ich in den Raum gebeamt.

Als nächstes führte er mich in ein Zimmer, das mich nicht minder verblüffte – weil man in ihm nicht auf dem Teppich bleiben konnte. Der nämlich hing an der Wand und mit ihm die ganze Einrichtung samt Couch und Tisch. Ich fühlte mich wie ein Gecko auf Wanderschaft. In dieser verdrehten Welt wurden Messungen vorgenommen, um sicher zu stellen, dass der Raumklang auch dort perfekt funktioniert, wo man seine Ohren in der Regel nicht aufstellt.

Bose hatte längst gemerkt, wie sehr mich die wundersame Welt der Akustik in ihren Bann zog. Es würde zu weit führen, alle Stationen unseres Rundgangs durch Amars Sound-Labor zu beschreiben, aber den „Bunker“ möchte ich unbedingt noch erwähnen. „The Bunker“ ist die Hölle. Hinter zwei dicken Stahltüren wartet das akustische Inferno. Ohne die zuvor verabreichten Ohrstöpsel aus Wachs und ohne fest anliegende Kopfhörer, wäre ich in diesem dröhnenden Soundgewitter zerplatzt. Wer seinen Kopf in das Triebwerk eines Jumbo-Jets stecken würde, käme gnädiger davon als derjenige, der sich hier der Kopfhörer entledigte. Im Bunker werden Dutzende von Lautsprechern auf Volllast gefahren, um ihre Lebensdauer am Limit zu testen. Manche schrien bereits zwölf Jahre vor sich hin. Bose legte meine Hand an solch ein Monstrum, dessen Brüllen die Luft erschütterte. Es fühlte sich an, als versuchte man einem Orkan das Maul zu stopfen.

„Wissen Sie eigentlich, dass wir gerade einen Vertrag mit Mekka unterschrieben haben?“, fragte mein Gastgeber, als wir an die frische Luft traten. „In Zukunft werden die islamischen Pilger mit glasklaren Gesängen und Informationen bedient. Im Grunde ist es ganz einfach: man muss die Töne nur gut verstehen können. Einen für alle perfekten Sound gibt es nicht. Akustik hat mehr Dimensionen, als es die Wissenschaftsparameter vermuten lassen.“

Ich fragte ihn, ob er die Voyager-Tapes der NASA kennt, auf denen die elektromagnetischen Felder einiger Planeten unseres Sonnensystems in Töne umgewandelt wurden, die sich wie kosmische Gesänge anhören. Zu meiner Überraschung hatte er keine Ahnung von ihnen. „Von der Erde gibt es zwei Gesänge,“ klärte ich ihn auf,

„sie wurden im Abstand von zwanzig Jahren aufgenommen. Im Vergleich zum ersten klingt der zweite Gesang, als ob unser Planet weint …“

Er stand auf und sah mich still an. Der Mann hatte viel zu sagen, wenn er schwieg.

Hoffentlich reißt er sich zusammen, dachte ich, hoffentlich erfindet er in seinem jugendlichen Elan auf seine alten Tage nicht noch ein System, das unsere Gedanken hörbar macht …

Amar Gopal Bose (* 2. November 1929 in Philadelphia, Pennsylvania; † 12. Juli 2013 in Wayland, Massachusetts) war ein US-amerikanischer Elektroingenieur und Gründer der Bose Corporation.

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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman “Go! Die Ökodiktatur” ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision. 2023 erschien sein aktuelles Buch „HEROES. Mut, Rückgrat, Visionen“.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Jonathan Weiss / Shutterstock.com

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Kommentare (8)

8 Kommentare zu: “Der gute Ton ist nicht von dieser Welt

  1. hulli3 sagt:

    Keine Firma dieser Welt besteht so ausschließlich aus PR wie Bose. Nicht mal Dolby.

  2. EsReicht sagt:

    Lieber Dirk,

    ich danke dir auch für diesen Beitrag von ganzem Herzen. Auch dieser landet runter geladen wieder in einem Fleck-Ordner. Wertvoll ist gar kein Ausdruck für deine Gedanken, die mich jedes Mal tief berühren.

    Gott schütze dich!

    André

  3. freakframe sagt:

    Interessante Ausführungen, allerdings würde sich der gute Mann möglicherweise im Grab umdrehen…
    Meine vor ca. 8 Jahren für schlappe 450 Teuros erstandene BOSE Solo 15 Soundbar mag nicht mehr anspringen. Wie man ausrecheriert, kein unbekanntes Problem. Der einzige in WIEN vorhandene BOSE Reparaturservice meint dazu nur: "Es gibt keine Ersatzteile mehr. Und auch nicht für das Nachfolgemodell!"
    Schon klar, niemand will sich die darin enthaltene "Riesenprintplatte" jahrzehntelang auf Lager legen. Aber Hand auf's Herz, diese ist wohl sicherlich nicht ausschliesslich mit speziell für BOSE hergestellten Bauteilen bestückt.
    Ich bin mir sicher: wenn man nur wollte, könnte man auch!!!
    Die Moral von dieser Geschichte: Wegwerfen und was Neues kaufen.
    Wäre schön, wenn sich diverse KLIMA-KLEBER-SCHWACHKÖPFE mal für solch einen Unfug stark machen würden. Für mich jedenfalls ist BOSE gestorben. Mit traurigen Grüßen FREAKFRAME

  4. Nevyn sagt:

    „Der Ton ist nicht von dieser Welt.“

    Ja.
    Letztlich ist die ganze materielle Welt nichts anderes als die Einkleidung von Geist und wo sie das nicht ist, sehen wir leere Hüllen. Den meisten Menschen gelingt es allerdings nicht mehr, von der Erscheinung zum Wesen vorzudringen.
    Nur noch bling bling.
    Der Mensch als Appendix seines Endgerätes ist längst selbst zum End-Gerät mit MAC-Adresse im gewaltigen Bot-Netz geworden und hat damit den Platz gefunden, der Hüllen zusteht.

    Es gab eine Zeit, da ich mich recht intensiv mit HiFi und Akustik beschäftigt habe. Die Hälfte des Klangerlebnisses macht der Hörraum aus. Bose fiel nie in die engere Wahl. Zu viel Bling Bling und mehr teuer als gut.
    In meinem Wohnzimmer stehen seit vielen Jahren zwei Boxen von Nubert, nuline 264. https://www.hifitest.de/test/lautsprecher-stereo/nubert-nuline-264-7992
    Der hat schon als Jugendlicher Boxen gebaut. Reich werden wollte er offenbar nie damit, aber gut wollte in dem sein, was er tat. Für den mache ich gern Werbung.
    Bose ist eine Firma, Nubert eine Boxenschmiede. Finde den Unterschied.

  5. coronistan.blogspot.com sagt:

    Und jetzt bitte das Dolby-Geheimnis.

    • Fritz B sagt:

      Das Dolby-Geheimnis im Prinzip: Man hebt die Höhen (Rauschen) bei der Aufnahme ordentlich an und senkt sie beim abspielen wieder ab. Schon ist das Rauschen gedämpft.

  6. jsm36 sagt:

    Wirklich interessant, aber ist das nicht einfach nur reine Werbung? Für einen Unterhaltungselektronik-Konzern?

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