Das Leid der Moorsoldaten und die Vergnügungssucht ihrer prügelnden Peiniger

Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.

Vor kurzem war ich zu Besuch in Ostfriesland und nahm die Gelegenheit wahr, die Gedenkstätte Esterwegen zu besuchen. Das KZ Esterwegen diente ab 1933 als Strafgefangenenlager. Bis zum Kriegsende mussten die Häftlinge schwere Zwangsarbeit in der Moorkultivierung, in der Torf- und Rüstungsindustrie und auch in Bomben-Räumungskommandos leisten. Hier waren über die Jahre über 70 000 Strafgefangene interniert. Mehr als 20 000 Menschen verhungerten oder starben an Erschöpfung. Einer der politischen Häftlinge von Esterwegen war der Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky.

Carl von Ossietzky war Herausgeber der Zeitschrift DIE WELTBÜHNE. Neben den Herausgebern Siegfried Jacobsohn, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky schrieben mehr als 2000 Autoren von 1905 bis 1933 für die Zeitschrift. Darunter so prominente Schriftsteller wie Lion Feuchtwanger, Erich Mühsam, Else Lasker-Schüler, Erich Kästner, Alfred Polgar, Robert Walser, Carl Zuckmayer und Arnold Zweig. Ossietzky musste sich für die in seinem Blatt veröffentlichten Artikel mehrmals vor Gericht verantworten. Im international aufsehenerregenden Weltbühne-Prozess wurde er 1931 wegen Spionage verurteilt, weil seine Zeitschrift auf die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufmerksam gemacht hatte. Kurz nach seiner Entlassung kamen die Nazis an die Macht. Ossietzky wurde am 28. Februar 1933 in die sogenannte Schutzhaft genommen. Als einer der prominentesten politischen Häftlinge wurde er unter anderem im KZ Esterwegen besonderes Opfer nationalsozialistischer Willkür. Er wurde misshandelt und gefoltert. 1936 erhielt Ossietzky in einer internationalen Hilfskampagne den Friedensnobelpreis. Im gleichen Jahr wurde er, durch die Torturen schwer erkrankt, unter Polizeiüberwachung in ein Berliner Krankenhaus verlegt. Dort starb er unter Bewachung zwei Jahre später.

Im Herbst 1935 besuchte der Schweizer Diplomat Carl Jacob Burckhardt als Mitglied des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz das KZ Esterwegen. Dabei gelang es ihm, Ossietzky zu treffen, den er anschließend als ein zitterndes, totenblasses Etwas, ein Wesen, das gefühllos zu sein schien, ein Auge stark geschwollen, die Zähne anscheinend eingeschlagen“ beschrieb. Ossietzky bat Burckhardt um folgendes: Sagen Sie den Freunden, ich sei am Ende, es ist bald vorüber, bald aus, das ist gut.

Als ein Freund von meinem Besuch erfuhr, schrieb er mir diese Zeilen: Das war bestimmt sehr bedrückend, lieber Dirk, oder? Mit 15 Jahren haben wir uns in der Schule den Film “BEI NACHT UND NEBEL” anschauen müssen. Mich hat dieser Film so sehr verstört, dass ich danach wochenlang Albträume hatte, die mich selbst heute noch gelegentlich heimsuchen. Deswegen habe ich persönlich noch nie ein KZ besucht, weil ich es wahrscheinlich nicht ertragen könnte…“

Ich verstehe ihn sehr gut, habe ihm aber folgendes geantwortet: Bedrückend? Ja und nein. Es fühlte sich gut an, diesen Seelen nahe zu kommen und mit ihnen zu weinen.

Die Gedenkstätte Esterwegen ist kein KZ-Museum wie Dachau oder Auschwitz. Die Greueltaten, die dort stattfanden, sind in einer Halle neben dem ehemaligen Lager umfassend dokumentiert. Das Gelände selbst ist auf fantastische Weise „bereinigt“ worden. So befinden sich dort, wo einst die Baracken der „Moorsoldaten“ standen, junge Buchenhaine in exakt der Größe der kargen Häftlingsunterkünfte. Stelltafeln erzählen auf Schritt und Tritt die Leidensgeschichte der Gefangenen. Und zu dem Gelände, wo einst die Wachmannschaften untergebracht waren, führt nur noch eine dreistufige Treppe ins Nirgendwo. Wo heute nur Wiese ist, mussten die Häftlinge für die SS-Mörder ein Schwimmbad mit Sprungturm anlegen. Dennoch hatten sich die Peiniger mehrmals über ihr Leben „abseits der Zivilisation“ beschwert, sie forderten ein Unterhaltungsprogramm zu ihrer Belustigung, Varietevorführungen zum Beispiel oder Kabarett-Vorstellungen – sozusagen als Ausglich für die harte Prügelarbeit, die sie jeden Tag zu verrichten hatten.

Bei dem Gedanken, dass die meisten von ihnen nach dem Krieg ungestraft unter uns weiterleben durften, befällt mich eine ungeheure Wut, die sich nach dem Besuch in der Gedenkstätte Esterwegen allerdings in eine tiefsitzende Traurigkeit gewickelt hat. Damit bleibe ich in unserer vom Ampel-Wahnsinn befallenen Republik, in der die Diffamierung Andersdenkender inzwischen wieder an der Tagesordnung ist, ziemlich allein.

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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman “Go! Die Ökodiktatur” ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle:  Predrag Jankovic / Shutterstock.com

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Kommentare (3)

3 Kommentare zu: “Das Leid der Moorsoldaten und die Vergnügungssucht ihrer prügelnden Peiniger

  1. OliverX sagt:

    Es ist wirklich erschreckend, welchen Gräul heute alternative Journalisten in Deutschland ausgesetzt sind. Sie müssen härteste Zwangsarbeit in diversen KZ in Deutschland leisten und laufen immer Gefahr, im Lager erschossen oder zu Tode gefoltert zu werden.
    Ich würde Herrn Fleck ja gerne aus diesem KZ befreien, aber allein mir fehlt der Mut. Denn für einen solchen Befreiungsversuch könnte ich nur ich selbt in einem KZ landen, sondern auch meine Familie und meine Freunde. Aber dieses Dilema ist natürlich auch Herrn Fleck bekannt!

    Halten Sie durch, Herr Fleck! Die Rettung ist nah! Die großartige rote Arme ist auf dem Weg zu Ihrem KZ um Sie aus den Fängen der rot-grün-versifften Nazis aus dem KZ zu befreien!

  2. Die beiden wesentlichen Unterschiede zwischen damals und heute, so mein Eindruck, ist zum einen, dass im heutigen Deutschland das Recht auf körperliche Unversehrtheit konsequent respektiert wird. Die Methoden der Unterdrückung sind entsprechend subtiler, die Unterdrückung findet nicht mehr körperlich, sondern nur noch geistig und materiell statt. Zweitens wird nicht mehr Großdeutschland über alles gestellt, sondern die "Werte von Freiheit und Demokratie", wie sie von USA hierher importiert wurden – und freilich wird unser Staat heute wesentlich von dort gelenkt.

    Der Geist ist heute bei uns derselbe wie damals, weil er nicht nur von unserer, sondern auch von der US-Machtelite entsprechend gepflegt wurde.

    Ihr Gefühl des Alleinseins kenne ich in diesem Zusammenhang nur zu gut, Herr Fleck. Da stehen wir halt vor der Entscheidung, entweder den Ausweg aktiv zu beschreiten und unsere Aufmerksamkeit auf schönere Dinge zu lenken, oder uns in der Einsamkeit und Trauer gemütlich einzurichten.
    Ich gestehe, dass ich zu letzterem neige…

  3. Ich war Anfang der 80iger an der Stelle eines der Lager. Ich weiß nicht genau, ob es Börgermoor, oder Esterwegen war. Es war fast gar nichts dort, was auf das Lager hinwies, außer einem Schild und einer Tafel. Das hatte mich damals sehr erschüttert. Heute tut man so, als ob unsere Gesellschaft schon immer antifaschistisch gewesen sei, doch damals wurden alle, die darauf drängten, Gedenkstätten wie in Buchenwald und Sachsenhausen einzurichten, verfolgt. Ich finde, das Gedenken an die Opfer des Naziregimes, das heute von unseren Herrschenden missbraucht wird, tötet die damaligen Opfer noch einmal, und das dann endgültig. Ich hoffe, dass in unserer Gesellschaft nicht am Ende die Kräfte siegen werden, die für das alles stehen, wogegen die damaligen Opfer gekämpft hatten. Doch leider scheint das Gegenteil zu passieren. Ich habe selber Überlebende der Moorlager kennenlernen dürfen. Nicht wenige der damaligen Opfer waren in der BRD lange Zeit vom Verfassungsschutz observiert worden und waren lange Zeit wieder im Widerstand, gegen die "entnazifizierten" Nazis, wie Filbinger, Kiesinger und Konsorten. Und gegen die unrühmlichen Traditionen der Bundeswehr, die ich selber 1985 in der Kaserne in Flensburg habe sehen können, wo die heroische Arbeit der Fernmelder im 2. Weltkrieg bildlich dargestellt wurde udn gleichzeitig der angeblich so glorreiche Widerstand der Generäle gegen Hitler gefeiert wurde. Mir ist heute noch übel, wenn ich daran denke.

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