Ein Meinungsbeitrag von Rüdiger Rauls.
Mit dem Gesetz zur Förderung der Privatwirtschaft hat China das Privateigentum an Produktionsmitteln rechtlich abgesichert. Ist das nun der endgültige Beweis, dass die Volksrepublik nicht sozialistisch ist? Hat die Kommunistische Partei Chinas den Sozialismus verraten?
Neues vom Sozialismus
Für die Kritiker des Kapitalismus ist Kapital dasselbe wie Weihwasser für den Teufel. Dabei unterliegen sie einer Verwechselung. Kapital ist nicht gleich Kapitalismus. Zwar ist es das wesentliche und offensichtliche Wirtschaftsmerkmal, das der bürgerlichen Gesellschaft ihren Namen gab. Aber auch in der Feudalgesellschaft hatte es in den Städten bereits kapitalistische Produktionsweise und Kapital gegeben. Nach seinem Sieg über den Adel wurde die neue Gesellschaft des Bürgertums mit seiner Produktionsweise als Kapitalismus gleichgesetzt. Daraus entstand die Verwirrung um den Begriff Kapitalismus, der einmal für das Wirtschaftssystem steht, aber auch oft für das Gesellschaftssystem verwendet wird, das auf dieser Produktionsweise beruht.
Nun ist in China eine ähnliche Entwicklung eingetreten wie beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, eigentlich seine historische Fortsetzung. Erstmals ist das Kapital als herrschende Klasse der bürgerlichen Gesellschaft durch den Sieg des Sozialismus nachhaltig überwunden worden. Nachhaltig ist sie nicht nur deshalb, weil dem Bürgertum die politische Macht entrissen wurde. Das hatte es schon in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Staaten gegeben. Die Nachhaltigkeit besteht vielmehr in der Wirtschaftskraft, die in ihrer Produktivität die des Westens überwunden hat. Diese sorgt für die Festigkeit der sozialistischen Gesellschaft in China. Die Volksrepublik ist der größte Warenproduzent der Welt, und das macht sie unerschütterlich, vielleicht sogar unbesiegbar.
Darin besteht der entscheidende Unterschied zu anderen sozialistischen Staaten wie der Sowjetunion und des sozialistischen Lagers. Auch hier waren die alten politischen Machtverhältnisse umgestoßen worden zugunsten von Regierungen unter der Führung kommunistischer Parteien. Wie aber die Geschichte gezeigt hat, waren diese Entwicklungen nicht unumkehrbar gewesen. Es war ihnen nicht gelungen, eine leistungsfähigere Wirtschaft aufzubauen und sich damit dem Würgegriff des Westens und seines Kapitalismus zu entziehen. Die Sowjetunion zerbrach. Die kommunistischen Parteien verloren ihren bestimmenden Einfluss auf die Entwicklung ihrer Gesellschaften.
Alte Lehren
Die Menschen leben nicht von Luft und Liebe, ebenso wenig macht Idealismus sie auf Dauer satt. Begeisterung und Opferbereitschaft müssen auch irgendwann in ein Leben münden, das die Opfer gelohnt hat, sonst lässt der Einsatz selbst für das gerechteste Gesellschaftssystem nach. Irgendwann muss sich die Überlegenheit eines neuen Gesellschaftssystems auch durch ein besseres Leben unter Beweis stellen. Menschen wollen ein menschenwürdiges Leben führen. Dazu gehört auch Wohlstand. Das ist das eigentliche Ziel des Sozialismus, nicht ein Leben unter der Fuchtel der reinen Lehre. Theorie ist kein Selbstzweck, sie ist Mittel, den richtigen Weg zu finden und einzuhalten. Aber sie muss sich auch in der Wirklichkeit als richtig herausstellen.
Die Klassiker des Marxismus hatten die Bedeutung des Kapitals für die gesellschaftliche Entwicklung herausgestellt. Deshalb betonten sie die Notwendigkeit, dass das Proletariat als Träger einer neuen Gesellschaft die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel erringen muss. Darin sahen sie Grundlage und wesentliches Merkmal des Sozialismus. Denn nur diese Verfügungsgewalt konnte die Lebensgrundlagen der Gesellschaft sicherstellen, deren große Mehrheit die Klasse des Proletariats gebildete. Nur Wirtschaft schafft all das, was Mensch und Gesellschaft zum Leben brauchen.
Nach diesen Grundsätzen und Lehren des Marxismus hatte auch China bis weit in die 1970er Jahre gehandelt. Da die internationalen Finanzmärkte den sozialistischen Staaten weitgehend verschlossen waren, blieben ihnen auch kaum andere Möglichkeiten, als die wirtschaftliche Entwicklung aus den eigenen Quellen zu schaffen. Das änderte sich mit der Annäherung zwischen den USA und China. Die Entspannung zwischen beiden führte zu einer wirtschaftlichen Öffnung, die internationales Kapital in die Volksrepublik brachte.
Doch der Zustrom an Kapital setzte einen anderen Umgang mit den Produktionsmitteln voraus, sonst hätte kein westliches Unternehmen in China investiert. Es wurden Lockerungen geschaffen, die die Investitionen der Geldgeber schützten und zudem die Rückführung ihrer in China erwirtschafteten Gewinne zuließen. Denn den kapitalistischen Unternehmen ging es um die Erwirtschaftung von Gewinnen, nicht um Beihilfe zur Entwicklung Chinas oder gar das politische Ziel der Vernichtung des Sozialismus.
Ausländische Direktinvestitionen wurden im Rahmen von Unternehmen mit chinesischer Mehrheitsbeteiligung, sogenannten Joint Ventures, zugelassen. Der Umgang mit dem Privatbesitz an Produktionsmitteln, wie er in der marxistischen Literatur als notwendig erachtet worden war, war erstmals in größeren Umfang den Notwendigkeiten der Entwicklung des Landes und seiner Gesellschaft angepasst worden. Für diesen Wandel prägte der damalige Führer Chinas, Deng Xiaoping, den Satz, ihm sei es egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, wenn sie nur Mäuse fängt.
Neue Politik
Es hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine gesellschaftlichen Ordnung Berechtigung und Unterstützung nur daraus erfährt, in wieweit sie den Menschen ein menschenwürdiges Leben bieten kann, egal ob Sozialismus oder bürgerlicher Kapitalismus. In der Folgezeit wurden die Bedingungen für Investitionen in der Volksrepublik immer weiter gelockert, wobei aber immer die Vorteile für die chinesische Gesellschaft im Vordergrund standen. So kam die Entwicklung des Landes mit Riesenschritten voran. Heute ist China die zweitgrößte Volkswirtschaft und der größte Warenproduzent der Welt.
2018 war in Shanghai mit Elon Musks Tesla-Gigafactory erstmals auch ein Unternehmen ohne chinesische Mehrheitsbeteiligung zugelassen worden. Es befand sich von seinem Start an als Aktiengesellschaft zu hundert Prozent in privater Hand. Damit erlebt der Privatbesitz an Produktionsmitteln, der von der marxistischen Literatur als die Grundlage des kapitalistischen Wirtschaftssystems herausgearbeitet worden war, seine Wiedergeburt in einem Land, das sich als sozialistisch bezeichnet.
Im Mai dieses Jahres wurde dann das Gesetz zur Förderung der Privatwirtschaft verabschiedet, das ausdrücklich das Privateigentum an Produktionsmitteln zulässt. Dieses war bisher stillschweigend geduldet worden, nun wurde es gesetzlich geregelt und festgeschrieben. Dazu gehört auch, dass private Unternehmen gegenüber staatlichen gleichgestellt und „Maßnahmen zum Abbau von Marktzugangsbarrieren“(1) ergriffen werden. Die chinesische Führung spricht dem privaten Sektor darüber hinaus ausdrücklich eine große Bedeutung für die Entwicklung des Landes zu.
Immerhin umfasst dieser Teil der Wirtschaft mittlerweile „mehr als 57 Millionen Privatunternehmen und über 100 Millionen Selbstständige“(2). Sie stellen „laut offiziellen Statistiken über 50 Prozent der Steuereinnahmen, mehr als 60 Prozent des BIP, rund 70 Prozent der inländischen Innovationsleistungen, 80 Prozent der städtischen Arbeitsplätze und über 90 Prozent aller Unternehmen im ganzen Land“. (3)
Die Volksrepublik betrachtet diese Entscheidung an als eine Modernisierung, „eine neue Etappe in Chinas Wirtschaftspolitik“(4) und sieht sich in einem Übergang zu einer neuen Phase wirtschaftlicher Entwicklung. Man fühlt sich nun im Stande, selbst „Durchbrüche in Kerntechnologien voranzutreiben und neue Branchen anzuführen“(5). Man versteht sich nicht länger als Werkbank für billige Massenprodukte. Unter der Losung „qualitativ hochwertige Entwicklung“ arbeitet China an seinem technologischen Führungsanspruch.
Neue Verhältnisse
Haben die Kritiker Chinas nun doch recht gehabt, dass es sich bei Chinas Sozialismus nur um verschleierten Kapitalismus handelt, in dem die Eliten der Partei den Menschen ein X für ein U vormachen? Auf den ersten Blick sieht es so aus. Denn die chinesischen Kommunisten haben einen der wichtigsten Grund- und Lehrsätze der marxistischen Klassiker über Bord geworfen: Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Aber galten die Theorien der Klassiker für die Ewigkeit oder für den Zeitraum, der damals überschaubar war, gegründet auf damaligem Wissen?
Es waren die Erkenntnisse über das Wesen des Kapitalismus, über seine Überwindung und die ersten notwendigen Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels, aber alles aus dem Kapitalismus heraus, auf dem damaligen Wissen. Über den Sozialismus selbst lagen noch gar keine Erkenntnisse vor, geschweige denn praktische Erfahrungen. Insofern betreten die Chinesen heute Neuland. Sie schaffen eine sozialistische Gesellschaft und müssen sich den Problemen des Alltags und der Bewältigung von Regierungsaufgaben stellen, vor denen die Klassiker des Marxismus nie standen.
Anders als diese es voraussehen und darstellen konnten, hat sich China an die Weltspitze der Produktion und vor allem der Produktivität gearbeitet. Das Land ist als größter Warenproduzent selbst für die kapitalistischen Staaten unverzichtbar und aufgrund seiner Produktivität der westlichen Wirtschaft überlegen. Nicht Sanktionen, auch nicht Trumps neuerliche Zölle oder sonstige Behinderungen können den Aufstieg der Volksrepublik aufhalten. Der Sozialismus der Sowjetunion konnte noch wirtschaftlich niedergerungen werden, der chinesische nicht mehr.
Die Legitimierung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln ist nicht Ausdruck von Schwäche, keine Unterwerfung unter das Kapital, sondern Ausdruck von Stärke. Die Volksrepublik kann das private Kapital wieder zulassen, denn es ist keine Klasse mehr, die sich politisch organisieren kann. Sie hat keine politische Macht mehr, ist nur noch Geldgeber. In China bestimmen die kommunistische Partei und die Organe der sozialistischen Gesellschaft darüber, unter welchen Bedingungen privates Kapital sich im Land betätigen und wie es verwendet werden darf. Der chinesische Sozialismus kann das Privateigentum wieder zulassen, denn entscheidend ist, wer darüber bestimmt, nicht wer es besitzt.
Als der Adel seine politische Macht verloren hatte, durfte er trotzdem große Teile seines Grundbesitzes behalten, der eigentlich die wirtschaftliche Grundlage seiner Macht gewesen war. Aber als Klasse hatte er seine Macht verloren. Das siegreiche Bürgertum wachte fortan darüber, dass der Adel seinen Grundbesitz nicht benutzen konnte, um wieder politische Macht zu erringen. In China wachen die Kommunistische Partei und die Organe der sozialistischen Gesellschaft darüber, dass die Kapitalbesitzer sich nicht wieder zur herrschenden Klasse aufschwingen können.
China ist in seiner Praxis über den Erkenntnisstand der marxistischen Theorie hinaus. Deren Väter widmeten sich in erster Linie zwei Aufgaben, die für die damalige Zeit bedeutend waren. Sie untersuchten die Funktionsweise des Kapitalismus und stellten die Welt vom Kopf auf die Füße. Sie deuteten die Vorgänge in der Welt aus der Sicht des materialistischen Weltbildes neu und die bisherige Geschichte als eine Geschichte von Klassenkämpfen, nicht der Heldensagen. Die Geschichte des Sozialismus hatten sie damals noch nicht schreiben können. Diese schreibt heute China.
Quellen und Anmerkungen
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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(1) Global Times vom 20.5.2025 Chinas Gesetz zur Förderung des Privatsektors tritt in Kraft und stärkt Wachstum und Vertrauen trotz externem Druck
(2) ebenda
(3) Chinadaily vom 30.5.2025 Neues Gesetz sorgt für Stabilitätsschub in Chinas Privatwirtschaft
(4) Global Times vom 20.5.2025 Chinas Gesetz zur Förderung des Privatsektors tritt in Kraft und stärkt Wachstum und Vertrauen trotz externem Druck
(5) ebenda
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bild: Box auf Produktionsband, Made in China
Bildquelle: Es sarawuth / shutterstock
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