Eine Rezension von Eugen Zentner.
Ulrike Guérot seziert den geistigen und gesellschaftlichen Zerfall der Gegenwart
Im Februar 2022 sprach der damalige Bundekanzler Olaf Scholz in einer Regierungserklärung von einer „Zeitenwende“. Angesichts des Angriffs Russlands auf die Ukraine werde die Welt danach nicht mehr dieselbe wie die Welt davor sein, lauteten seine Worte. Viele Bürger dürften ebenfalls eine Zeitenwende festgestellt haben. Allerdings drückt sie sich in viel mehr Phänomenen aus als nur in der neuen Kriegsdynamik. Das neue Buch der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot insinuiert dies im Titel, indem sie bewusst den Plural verwendet.
Seine Doppeldeutigkeit erschließt sich allerdings erst am Ende des Buches. Die Zeitenwende im Singular hingegen wird unter anderem in der Zerbröckelung der Demokratie und des Rechtsstaats sichtbar, in der Eindämmung der Freiheit und in der Entkernung der Werte. Guérot selbst bezeichnet sie als einen „Moment, in denen sich Grenzen verschieben und Atlanten neu gedruckt werden“, in dem
„eine Gesellschaft von technologischem Fortschritt überrannt wird, der zu schnell geht bzw. das gesellschaftliche Gefüge zu sehr aus den Angeln hebt“.
Inwiefern das in den letzten Jahren geschehen ist, breitet die Politikwissenschaftlerin auf 200 Seiten aus, in einem essayistischen Stil, der dennoch einer gewissen Struktur folgt. Zunächst schildert sie in einem „Spaziergang durch die Republik“, welche Erfahrungen sie nach dem Rauswurf aus der Universität gemacht hat. Sie sei aus dem Akademiker-Milieu herausgekommen, schreibt sie, und wisse nun mehr über die Leute, vor allem über deren Gedanken und Sorgen.
Die dadurch gewonnene Bodenständigkeit drückt sich unter anderem in ihrer Sprache aus, die ganz unakademisch daherkommt und die gesellschaftlichen Brüche leicht verständlich auf den Punkt bringt. Dass deren Zahl nicht gerade gering ausfällt, beweist der erste Teil, in dem sich die Autorin ausgiebig mit dem Begriff „Zeitenwende“ auseinandersetzt und dabei die interessante These aufstellt, dass es die Bundesrepublik in ihrer derzeitigen Form nicht mehr lange geben wird. Alles, was sie mal ausgemacht habe – Rechtsstaat, Vertrauen, sichere Grenzen, sozialer Zusammenhalt – sei schon jetzt verlustig gegangen.
Als Ausgangspunkt dieser Zeitenwende bezeichnet Guérot die Corona-Politik. Sie spricht von einer „(Vor-)Übung auf den geplanten Krieg“, einer „bewussten Irreführung und Verwirrung der Gesellschaft“, von einer „Umdrehung von Sprache“ und einer „Verballhornung der Vernunft“. Wie schlecht es um Letztere bestellt ist, wird im zweiten Teil veranschaulicht. Im Mittelpunkt stehen die Folgen der Digitalisierung, insbesondere der Künstlichen Intelligenz. Diese führe dazu, dass immer mehr Menschen verlernen, selbst zu denken. Mehrmals verwendet Guérot das Bild einer „Geist-losen“ Gesellschaft und untermauert es mit Beispielen aus dem Bereich, mit dem sie sich am besten Auskennt: der Wissenschaft. Über mehrere Seiten übt sie Kritik an dem akademischen Betrieb, der sich mehr um die Akquirierung von Drittelmitteln kümmert als um Probleme, die die Menschen eigentlich umtreiben.
„Adieu, Vernunft“, heißt dieses Kapitel. Und so manche Adieus folgen. Die Politikwissenschaftlerin sieht nicht nur einen Abschied von Demokratie und Rechtsstaat, sondern auch von Europa. Alles, was den Kontinent einst ausmachte, hat sich ins Gegenteil verkehrt. Guérot beschreibt diesen Vorgang mit spitzer Feder, ohne jedoch polemisch zu werden. Im nüchternen Duktus benennt sie das Versagen der politischen Linken, entlarvt die programmatische Umorientierung der AfD oder beklagt die Dominanz des Neoliberalismus.
So manche These ist schon aus ihren Interviews oder Talkshow-Auftritten bekannt, sowie die Kritik an libertären Bewegungen: „Die Idee der Republik ist strukturell inkompatibel mit der libertären Idee freier Städte, in die man sich einkauft“, schreibt sie.
„Libertäre Bewegungen nagen an der universellen Gültigkeit der Erklärung der Menschenrechte, indem sie den allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz nicht mehr als normatives Ziel betrachten. Bürger einer freien Stadt ist nur, wer Geld hat, wie im Mittelalter.“
Solche Passagen machen das Buch zu einem Sittengemälde einer sich im Zerfall begriffenen Gesellschaft. Guérot führt die Leser um die Trümmerhaufen herum, sie analysiert die Bruchstücke von allen Seiten, versucht sie mit dem einstigen Bauwerk ins Verhältnis zu setzen. Das liest sich so süffig, dass sich die Seiten von selbst umblättern. Was die Lektüre besonders interessant macht, sind die vielen Bilder und Muster, die Guérot verwendet, um an ihnen die Fehlentwicklung nachzuzeichnen.
Dazu gehört unter anderem der Bauhaus-Leitsatz „form follows function“ – Die Form folgt der Funktion. Die heutige Gesellschaft zeichne sich durch das genaue Gegenteil aus, schreibt Guérot – und zeigt dies anhand unterschiedlicher Zeiterscheinungen. Etwa an dem immer häufigeren Griff zum Botox, hinter dem die faltige Haut versteckt wird. Wahlen hingegen verdecken die politische Korruption. Die heutige Gesellschaft sei auf Oberflächen fixiert, fasst Guérot die Denkfigur zusammen, die sie mithilfe des Bauhaus-Leitsatzes schnitzt. Das Eigentliche sei abhandengekommen:
„Das gilt nicht nur für die materiellen Dinge, sondern, fast schlimmer, für die immateriellen: für die Demokratie, die Kirchen, die Kultur, die Wissenschaft oder auch die Nation. Irgendwie ist alles entkernt worden. Nirgendwo ist noch drin, was draufsteht.“
In dieser essayistischen Darstellung von Zeitphänomenen lässt sich der Zusammenhalt der gegenwärtigen Welt erkennen. Es entsteht das Gefühl, als säße sie und ihre Vergangenheit direkt daneben. Die Autorin erzeugt diesen Eindruck so leichtfüßig wie einst Walter Benjamin, auf den sie nicht selten Bezug nimmt. Generell werden in dem Buch sehr viele Geistesgrößen herangezogen, Intellektuelle wie Giorgio Agamben, Literaten wie Peter Härtling oder der Politiker wie Yanis Varoufakis. Ihre Aussagen fließen in einen pulsierenden Gedankenstrom ein, der die Lektüre zu einem intellektuellen Vergnügen macht.
Der spannendste Teil erwartet die Leser jedoch am Schluss, wenn Guérot nach der Zukunft Europas fragt und drei Karten vorstellt, die derzeit im Internet zirkulieren. Sie bilden nicht weniger ab als eine geographische Neuordnung der Welt. Europa hätte darin jedoch keinen Platz, betont die Politikwissenschaftlerin und rügt dafür die EU. Diese befinde sich längst in „einem zwar legalen, aber nicht legitimen und undurchsichtigen, technokratischen Institutionen-Gestrüpp“. Als besonders verheerend empfindet sie aber den Verrat an der eigenen Erzählung, wonach die EU ein Friedensprojekt sei. Die derzeitige Kriegspolitik spricht jedoch eine andere Sprache.
„Wie kommen wir aber von der Diskussion über die Zeitenwende zum Zweiten Wenden“,
fragt Guérot zum Abschluss und lüftet damit das Geheimnis um die Doppeldeutigkeit des Titels. „Nun, wie immer, mit kleinen Schritten“, so die Antwort. Und die beschreibt sie in elf Punkten. „Jeder spricht mit jedem und schüttelt jedem die Hand“, lautet einer. Das wäre in der Tat ein guter Anfang.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bild: Pfeile wechseln in entgegengesetzte Richtung
Bildquelle: Olivier Le Moal / shutterstock
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