Ulrike Guérots scharfsinnige Analyse der gegenwärtigen Metakrise
Eine Rezension von Eugen Zentner.
Wir leben in einer Zeit multipler Krisen. Die sozialen Systeme sind ins Wanken geraten. Weder Politik noch Justiz noch Medien üben die Funktion aus, die ihnen in Demokratien zukommt. Aber genau hier liegt das Problem. Demokratische Verhältnisse existieren mittlerweile nur in der Vorstellung, jedoch nicht in der Realität. Insofern handelt es sich um eine Metakrise, auf die alle Systemstörungen der Gegenwart zurückzuführen sind. Das polit-mediale Establishment kaschiert das eigene Versagen mit der „Gefahr von rechts“. In der Partei der AfD hat man für dieses Ablenkungsmanöver einen probaten Sündenbock gefunden. Doch die Strategie ist so billig wie durchschaubar. Gerade die Unzufriedenen fallen darauf nicht rein und wählen erst recht die AfD, weil sie in der Partei momentan die einzige Möglichkeit für Veränderung sehen. Steht ihr Erfolg also in einem Zusammenhang mit der Metakrise?
Um diese und andere um sie gruppierende Fragen geht es in dem neuen Buch «Der Ausverkauf der Republik» aus dem Phänomen Verlag. Das schmale Bändchen basiert auf einem Gespräch zwischen dem Online-Magazin Parallax-Media.com und der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Letztere hat sich seit der Corona-Krise als kritische, intellektuelle Kommentatorin einen Namen gemacht. Sie scheut nicht davor zurück, öffentlich unangenehme Wahrheiten auszusprechen, selbst wenn sie dafür im Mainstream an den Pranger gestellt wird. Ihre Argumente gehen ans Eingemachte und wirken nicht selten entwaffnend. So auch in diesem Buch, das als Interview-Transkription mit wenigen Überarbeitungen daherkommt.
Wer eine geschliffene Prosa erwartet, muss zurückstecken. Die Knapp 80 Seiten lesen sich wie ein mündlicher Vortrag, der festgehalten wurde, mit all seinen Unebenheiten. Das macht die Lektüre so authentisch. Ihr Mehrwert liegt weniger in der Darstellungsform als im Inhalt. Was Guérot hier erörtert, bewegt sich auf einem hohen intellektuellen Niveau. Wenn sie auf jenen Zusammenhang zwischen dem Erfolg der AfD und der Metakrise eingeht, sind es vor allem die Details, die den Beitrag interessant wie tiefsinnig machen. Das fängt bereits bei der Frage an, inwiefern die AfD rechts ist. Als solche wird die Partei in dem vorherrschenden Diskurs dargestellt. Aber lässt sich das so pauschal sagen? Guérot verneint und erinnert daran, dass Parteien keine monolithischen Blöcke sind. In ihnen gibt es immer Personen, die ein breites Meinungsspektrum abbilden. Guérot veranschaulicht das anhand der SPD und der CDU. Die gleichen Parteien vergessen das jedoch, wenn sie über die AfD sprechen. Dann wird pauschalisiert und dämonisiert. Selbst die Wähler werden mit der Partei gleichgesetzt.
Während Guérot sich über diesen Zusammenhang auslässt, geht sie unter anderem auf den Vergleich mit der Zeit der NSDAP ein. Auf den sogenannten Demonstrationen gegen rechts werden Parallelen gezogen mit Slogans wie „Nie wieder“. Die Politikwissenschaftlerin bezeichnet dies als „plakativ“ und als „Phantombekämpfung“. Zwar könne man Vergleiche anstellen, müsse jedoch nach strukturellen Kategorien und Dimensionen unterscheiden. Wie das geht, demonstriert sie anschließend selbst und spricht dabei einen Punkt an, der zum Wesentlichen führt: Die derzeitigen Demonstrationen gegen rechts, so die Quintessenz, sind ein Indiz dafür, dass wir mittlerweile nicht mehr in einem demokratischen, sondern in einem autoritären Staat leben. Denn es handle sich um einen „Protest für die Regierung und gegen die Opposition“, so Guérot.
„In Demokratien geht normalerweise eine Opposition gegen die Regierung auf die Straße und man mobilisiert keine Mehrheiten, um die Regierung zu stützen. Es ist ja umgekehrt ein Phänomen von autoritären Gesellschaften, dass die Regierung Claqueure auf die Straße ruft und die Bürger um Gefolgschaft bittet oder sie eben zwingt.“
Wer sich an die staatlich verordneten Demonstrationen in der DDR erinnert, dürfte erkennen, wie zielsicher die Politikwissenschaftlerin ins Schwarze trifft. Es ist nicht das einzige Mal, dass sie derart leichtfüßig Esprit zeigt. Während der Lektüre fällt es einem oftmals wie Schuppen von den Augen, zum Beispiel dann, wenn Guérot weitere historische Parallelen zieht und gewisse Gesetzmäßigkeiten formuliert. Dass sich der rechte Rand und der linke Rand heute genauso im Protest gegen die Regierung berühren wie in den 1930er Jahren, erklärt sie so:
„Wenn man die Arbeiter oder die unteren Klassen, die Kleinbourgeoisie, an die Faschisten oder Populisten verliert, dann ist natürlich die politische Linke dafür verantwortlich, denn eigentlich wäre das ja linkes Protestpotenzial. Leute, die sich gegen eine soziale Krise wehren, würden normalerweise links wählen, also für mehr soziale Gerechtigkeit. Aber es ist immer wieder im historischen Prozess vorgekommen, dass die Straße eben nach rechts kippt, weil die Linke sich politisch nicht durchsetzen konnte.“
Solche geistvollen Passagen finden sich in dem Buch immer wieder, weshalb es bisweilen wie ein Seminar in der Politik- und Geschichtswissenschaft anmutet, aus dem sich viel lernen lässt. Zumal Guérot sich gelegentlich von der AfD ab- und anderen Themen zuwendet, um sie nicht weniger scharfsinnig zu durchleuchten. Besonders interessant lesen sich ihre Ausführungen zum Faschismus-Begriff, den sie über den Rückgriff auf dessen etymologische Bedeutung auf die gegenwärtige Situation anwendet. Sie erklärt mit Roland Barthes’ Unterscheidung zwischen Boxen und Catchen den politischen Stil des früheren und vielleicht nächsten US-Präsidenten Donald Trump und benennt neue Phänomene, die sich beispielsweise darin zeigen, dass die Konservativen heute anders als früher nicht mehr einen moralischen Herrschaftszugriff per Gesetz anstreben, sondern stark libertäre Züge aufweisen, also die Herrschaft ablehnen:
„Weg mit dem Staat, keine Übergriffigkeit des Staates, Dezentralisierung, libertäre Selbstverwaltung, freie Städte, Selbstregierung, Volksentscheide.“
Diese Verschiebung ist so gut beobachtet wie treffend wiedergegeben. Guérot warnt jedoch zugleich vor den Konsequenzen dieser Forderungen: Wenn die Staatlichkeit erst einmal abgeräumt sei, lautet ihr Argument, verliere man die Republik als politische Organisationsform. Diese beruht laut Guérot auf dem „Streben nach einem gemeinsamen, öffentlichen Wohl oder Guten“. In dem Moment, wo man die Republik abräume, so die Politikwissenschaftlerin weiter, „nicht den Staat, sondern die Republik, (…) die ja eigentlich ein rechtlicher und sozialer Schutzraum für Bürger ist, lässt man das Kapital durchmarschieren“. Guérot befürchtet eine „Vermittelalterlichung unserer gesellschaftlichen Prozesse“ und eine „Refeudalisierung“. Das Pendel könnte aufgrund des Ressentiments gegen die staatliche Gängelung in die andere Richtung ausschlagen, gibt sie zu bedenken. Zu Reflexionen und Überlegungen verleiten ihre Ausführungen tatsächlich. Sie sind inspirierend, voller Überraschungen und zeugen von einer Klarsicht, die geradezu verblüfft.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: apolut
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