Wirre Rede, kurzer Sinn

Von Dirk C. Fleck

Die einzige Möglichkeit, die Unvernunft zu überwinden, ist, alt zu werden, hat Orson Welles einmal gesagt. Ich bin alt geworden, 77 Jahre, um genau zu sein. Aber wenn ich mich, was allerdings immer seltener geschieht, auf eine Diskussion einlasse, oder auch nur auf ein Gespräch unter Bekannten, rede ich unvernünftig und wirr, wie meine Gesprächspartner nicht müde werden zu betonen. Dass erschreckt mich, denn immer wenn dieser Vorwurf erhoben wird, bin ich der Meinung, besonders überzeugend gewesen zu sein. Auf Nachfrage sagt man mir häufig, dass ich nicht bei der Sache bleibe, immer wieder abschweife, mir selbst widerspreche, um das eigentliche Thema schließlich ganz in den Hintergrund zu rücken. Wow! Das kann nicht unbeantwortet bleiben.

Wirr. Oder auch verworren, chaotisch, konfus, unübersichtlich, verwickelt, durcheinander. Das Substantiv von wirr ist übrigens Wirrnis, es ist feminin, was mich ein wenig beruhigt. Es wird mit Verworrenheit im Denken in Bezug gebracht, die wiederum nur dem Wirrkopf zu eigen ist, der seiner Wirrsal erliegt, also dem Wahnsinn schlechthin, welcher für alle Tragödien und Mythen der Weltliteratur unabdingbar war. Im Gegensatz zu meinen Mitmenschen muss ich aus diesem Napf einige Löffelchen zu viel zu mir genommen haben, anders ist das Unverständnis nicht zu erklären, auf das die meisten meiner Worte inzwischen treffen.

Momentan ist doch Corona-Zeit, richtig? Also rutschten mir vor ein paar Tagen bei einem Maskenball in der U-Bahn folgende nicht gerade leise gesprochenen Sätze gegenüber einer Freundin hinaus: Mir ist unerklärlich, mit welcher Arroganz die Spezies Mensch, die im entkleideten Zustand auf dem ästhetischen Niveau von Nacktmullen anzusiedeln ist, sich über alle anderen Lebewesen erhebt. Das kann nur mit ihrem Unverständnis gegenüber dem filigranen Netzwerk der Natur zu tun haben. Und da der Mensch die Natur nicht versteht, begreifen ihn seine Viren und Parasiten besser als er sich selbst …“

Kess und provokant, zugegeben. Ich schaute in die mühsam gezähmten Gesichter der Umstehenden und empfand so etwas wie Mitleid.

Die Unbewussten gehören immer zur Mehrheit und dieses Wissen reicht aus, damit sie ihrer Arroganz und ihrem Zynismus lustvoll freien Lauf lassen können, was sie, die Reihen fest geschlossen, nun auch reichlich tun. Corona sei Dank. Würde man sie auch nur für einen Tag aus ihrer fürchterlichen „Solidargemeinschaft“ reißen und sie unter sensible, mitfühlende Menschen stecken, sie würden vor Angst zerbröseln. Dabei ist jeder Einzelne von ihnen viel mehr, als das, was er in der Gesundheitsdiktatur darzustellen versucht. Jeder von uns hat eine Vorstellung von sich selbst. Wir definieren uns über Eigenschaften wie schüchtern, großzügig, eifersüchtig, ehrgeizig, galant, abergläubisch, tierlieb, zärtlich, treu, flatterhaft, pedantisch, vergesslich, gutgläubig, verantwortungsbewusst und was uns sonst noch alles einfallen mag. Nichts davon ist in den Laboren der Wissenschaft beweisbar. Nach den Regeln der Vernunft („Ich glaube nur, was ich sehe“) gibt es uns gar nicht. Und trotzdem haben wir eine genaue Vorstellung von unserem Wesen, obwohl es sich jedem wissenschaftlichen Beweis entzieht. Der Mensch besitzt nichts, weder seinen Körper, der ihm jederzeit genommen werden kann, noch irgendeine Wahrheit, die ihm beim nächsten genaueren Hinsehen ohnehin wieder abhandenkommt. Wir sagen, dass unser Herz blutet, wenn wir traurig sind. Und wenn wir glücklich sind, sagen wir, dass es überfließt vor Freude. Alles, was auf uns Eindruck macht, jede Idee, „die uns kommt“, gehört uns nicht, es sind flüchtige Leihgaben. Wir sind Gespenster, die sich über ihre Einbildungen definieren …

Ich bin der Tage überdrüssig, ich ertrage sie nicht mehr, diese ewig gleichen Impressionen, aus denen sich die sogenannte Realität zusammensetzt. Ich ertrage die Abstand haltenden maskierten Figuren in den Läden der Stadt nicht mehr und auch nicht die „Ereignisse“, die das Straßenbild prägen: Ein Mann schlägt den Kofferraumdeckel zu, ein Hund pinkelt dahin und dorthin, ein Flugzeug, nein zwei am Himmel, „und ich sag noch zu Erwin, nee, sag ich …“, ein Bus hält, ein Kind tritt gegen die Litfaßsäule und andere kauen lustlos auf dem Stück Zeit herum, das ihnen zugeworfen wurde. Ich möchte mir die Tage ausziehen wie ein schmutziges Hemd, ich möchte der Mann sein, der seinen Kopf durch das Himmelszelt steckt und verzückt ins Nichts starrt …

Wir gehen hindurch, wir nehmen es an, das große Stirb und Werde, schrieb Max Frisch in seinem zwischen 1941 und 1943 entstandenem Roman „Die Schwierigen“, es fallen die schillernden Schleier der Wehmut; es kommt eine kühle, klare Härte in alles, hinter alles. Man spielt nicht mehr mit dem Schrecken, mit dem Grauen vor dem Tod. Es öffnet sich über allem ein ganz anderer Raum. Was hilft uns der Rausch? Er hat keine Flügel, er trägt nicht in Gottes kühler Geräumigkeit. Es tut nichts, ob einer schwärmt, ob einer stehen bleibt wie ein störrischer Esel und ohne ein Wort nicht weiter will. Es trägt nicht, sowenig wie der Schrei der Verzweiflung, wie das Grinsen des Spötters. Man tritt in den Dienst von Leben und Tod; gemeint ist ein Leben, das über uns ist, das auch in Herbsten nicht trauert, ein außerpersönliches.”

Eben rief ein Freund an und teilte mir mit, dass er etwas später als verabredet kommen würde. Im Haus gegenüber löscht jemand die Kerze auf dem Klavier und schaltet den Fernseher ein. Ein Kind tobt um den Tisch. Warum habe ich plötzlich das Bedürfnis, die Menschen in Schutz zu nehmen? Und gegen wen? Angesichts der Tatsache, dass wir in jeder Sekunde gemeinsam von diesem Planeten gefegt werden können, heben sich die Feindbilder auf, sind wir allesamt Staub vor dem Wind. Der kollektive Tod, das Aus für alle, für Opfer UND Peiniger, für Gerechte UND Ungerechte, für Reiche UND Arme – das ist der Orgasmus, auf den die Geschichte hinausläuft. Warum mache ich mich plötzlich zum Anwalt der Banalität, der Dummheit, des unnützen Zeitvertreibs, des kleinen Alltags? Ganz einfach: weil es ihn noch gibt, den kleinen Alltag. Er ist meine Heimat, mein Leben. Zwar ist bereits die Lunte an ihn gelegt worden und nichts von ihm wird übrig bleiben, aber er atmet noch. Noch sind in ihm alle Missverständnisse geborgen, noch wird in ihm gelogen und betrogen, gehasst und manchmal sogar geliebt. An Tagen wie diesen reicht das aus, um mit ihm Frieden zu schließen. Um die Wunden zu kühlen, die ich mir im Umgang mit ihm bisher zugezogen habe. An Tagen wie diesen liebe ich unser aller Entsetzen in meiner kleinen Straße, in der sich jeden Abend zur Tagesschau der Widerschein aus den Fernsehapparaten in den Zweigen der kranken Kastanien bricht.

Ich rede wirr, nicht wahr? Ist nicht schlimm, ich bin in guter Gesellschaft. Der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung (1875 -1961) sprach aus, was auch für mich zutrifft: Ich bin über mich erstaunt, enttäuscht, erfreut. Ich bin betrübt, niedergeschlagen, enthusiastisch. Ich bin das alles auch und kann die Summe nicht ziehen. Ich bin außerstande, einen definitiven Wert oder Unwert festzustellen, ich habe kein Urteil über mich und mein Leben. In nichts bin ich ganz sicher. Ich habe keine definitive Überzeugung – eigentlich von nichts. Ich weiß nur, dass ich geboren wurde und existiere, und es ist mir, als ob ich getragen würde. Ich existiere auf der Grundlage von etwas, das ich nicht kenne. Trotz all der Unsicherheit fühle ich eine Solidität des Bestehenden und eine Kontinuität meines Soseins.

Wissen Sie, wie man die Aufgeregtheit einer gesellschaftspolitischen Debatte entschärfen kann? Man betrachte alles, was wir Menschen darzustellen versuchen, denken oder tun vor der Folie der Vergänglichkeit. Dann wird mit einem Schlag unbedeutend, wenn nicht lächerlich, worüber wir uns die Köpfe eingeschlagen haben. Wir sind nicht mehr. Garantiert. Unsere Spuren werden ausgelöscht wie Fußabdrücke am Strand, wenn die Flut kommt.

Stellt man sich alle Ereignisse, die auf der Erde stattfinden, als einen lebendigen „Ereigniskörper“ vor, käme man zu der Erkenntnis, dass die Struktur dieses Körpers in jedem Augenblick aus dem Fundus sich endlos wiederholender Handlungen erwächst. Die Messer, die in diesem Augenblick in Hälse gerammt werden, sind immer in Aktion, wenn auch nicht ganz so häufig wie die Nationalhymnen, die in diesem Augenblick gesungen werden oder die Masken, die sich Menschen aller Glaubensgemeinschaften jetzt rund um den Globus aufsetzen.  Jedes Ereignis hat ein ganz bestimmtes Volumen, ein bemessenes Potential, mit dem es zu jeder Zeit zum allumfassenden Leben beiträgt. Dieses allumfassende Leben bleibt in seiner wahren Dimension unerkannt, was natürlich nichts an seiner Vollkommenheit ändert. Wir Menschen gewinnen lediglich einen extrem beschränkten Eindruck von der Wirklichkeit. Das fatale daran ist, dass wir diesen Eindruck für die Realität halten. Aber unsere sogenannte Realität hat den Tiefgang einer Badeente.

Wir leben in einer Zeit, in der die Mediengesellschaft das Wort Krieg prüfend in ihren Händen wiegt wie einen Kohlrabi auf dem Gemüsemarkt, in der man das Denunziantentum hoffähig macht und den Maulkorb zum Accessoire erhebt. Deshalb halte ich es für dringend notwendig, uns gegenseitig wieder mehr Geschichten zu erzählen. Schließlich gibt es noch ein Leben außerhalb des politischen Ränkespiels, dem die alternativen Medien so gerne analytisch auf den Grund gehen, obwohl es unsere Seelen immer mehr zu vergiften droht. Dabei braucht es über den riesigen Misthaufen, den das von Gier gesteuerte System permanent produziert, weder weitere Informationen noch Aufklärung – wir wissen doch seit Jahrhunderten, nach welchen Gesetzen das menschen- und naturverachtende System funktioniert.

Die Kraftspeicher für die Wachgebliebenen in unserer narkotisierten Zivilgesellschaft sind fast leer. Jetzt gilt es, angesichts des globalen Treibens einer durchgeknallten Finanz- und Politelite nicht den Verstand zu verlieren. Vergessen wir ihr dämliches Spiel, bleiben wir bei uns selbst, das lohnt sich. Es ist das einzige, was sich noch lohnt. Vor allem dann, wenn wir füreinander in Liebe da sind. Davon haben die seelenlosen Killer und Psychopathen aus Wirtschaft und Politik nämlich nicht die geringste Ahnung.

Ich hoffe, dass Ihnen der kleine, etwas wirr geratene Ausflug in meine Gedankenwelt gefallen hat. Schließen möchte ich mit einem Zitat von Emile Cioran (1911 – 1995), dem radikalsten Kulturkritiker der Nachkriegszeit. Derjenige, der weiß, hat sich von allen Fabeln getrennt, die die Begierde und das Denken schaffen, er hat sich aus dem Stromkreis ausgeschaltet, er willigt nicht mehr in den Trug ein.

PS: Nach der Sprache kommt das Schweigen. Ich versuche mich sprachlich schon seit längerem zu reduzieren, fast in die Poesie hinein. Über die Dichtung, oder besser Verdichtung, in das Schweigen. Das mühsam erkämpfte Schweigen soll uns eine Erquickung sein und kein Schrecken.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Uhryn Larysa / Shutterstock

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