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Wie der Jemen die regionale Macht neu gestaltet | Von Khalil Nasrallah

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Tagesdosis 17122024
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Jemens kühner Präventivschlag gegen die US-Marine geschah mit ausgeklügelten Geheimdienstmethoden und demonstriert seine neu entdeckte Bedeutung in der Achse des Widerstands. Der Jemen demonstrierte die einzigartige Fähigkeit, einen Abschreckungsschirm für das gesamte Bündnis aufzustellen.

Ein Kommentar von Khalil Nasrallah.

Das mit Ansarallah (auch Houthis genannt, Anm. d. Red.) verbündete jemenitische Militär ist ein wichtiger Eckpfeiler in der Achse des Widerstands. Es stärkt die Position der Achse des Widerstands im fortwährenden Krieg im Nahen Osten und erreicht mit der Demonstration seiner Macht ganz neue Ebenen. Eine beeindruckende Kraft.

Einst als praktischer saudischer Prügelknabe angesehen, verändern heute Sanaas wachsender Einfluss und ihre operativen Fähigkeiten die Dynamik in der Region und schaffen neue Herausforderungen für regionale und internationale Akteure [1].

Die Jemeniten haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, unaufhörlich Militäroperationen auf See gegen Schiffe zu starten, die mit Israel, den USA und Großbritannien in Verbindung stehen. Raketen- und Drohnenoperationen nehmen die israelische Tiefe und sogar US-Flugzeugträger und Zerstörer, die im Roten Meer, im Arabischen Meer und im nördlichen Indischen Ozean stationiert sind, ins Visier [2].

Diese US-Marine-Kräfte führen regelmäßig Luftoperationen gegen den kriegsgebeutelten Golfstaat durch und versuchen Ansarallahs Raketen abzufangen und ihre strategische Entscheidung, Palästina und Libanon zu unterstützen, zu beeinflussen. Die Kühnheit dieser Operationen zeigt Jemens unnachgiebige Entschlossenheit, die Achse des Widerstands zu unterstützen und das erste Mitglied der Achse zu werden, das sich den Weltmächten direkt stellt.

US-Angriffe auf Jemen vereiteln

Sanaa hat sowohl Verbündete als auch Gegner gleichermaßen überrascht. Das jüngste Beispiel ist die Enthüllung der Pläne Washingtons für einen größeren Luftangriff auf jemenitische Ziele, der vereitelt werden konnte. Diese Pläne wurden am 14. November von Ansarallah Führer Abdul-Malik al-Houthi ausdrücklich angesprochen, als er den Beschuss der USS Abraham Lincoln im Arabischen Meer und zweier US-Zerstörer im Roten Meer beschrieb [3].

„Die jemenitischen Streitkräfte haben ihre Verteidigungsposition erfolgreich verteidigt und den amerikanischen Feind daran gehindert, eine groß angelegte Aggression gegen das Land zu starten“,

erklärte er. Diese Operation war nicht nur eine Demonstration militärischer Stärke, sondern auch eine Botschaft der Abschreckung, die deutlich macht, dass jede Aggression gegen den Jemen eine Reaktion zur Folge hat.

Nach Angaben des jemenitischen Militärsprechers, Brigadegeneral Yahya Saree, der am 12. November ein Statement abgab, führten die jemenitischen Streitkräfte über einen Zeitraum von acht Stunden Raketenangriffe durch. Dabei kamen neben verschiedenen Drohnen auch ballistische Raketen und Lenkflugkörper zum Einsatz [4]:

„Wir haben den US-Flugzeugträger Lincoln, der sich im Arabischen Meer befand, mit mehreren Marschflugkörpern und Drohnen angegriffen, während er sich auf den Einsatz gegen unser Land vorbereitete. Die Operation hat ihre Ziele erreicht.“

Die Angriffe waren präventiv und vereitelten den bevorstehenden Beginn einer groß angelegten US-Luftoperation, die sich gegen lebenswichtige Gebiete im Jemen gerichtet hätte. Saree machte diese Absicht in seiner Rede am Donnerstag deutlich, auf die am nächsten Tag öffentliche Massendemonstrationen folgten.

Strategische Fähigkeiten der jemenitischen Streitkräfte

Die Komplexität und Koordination dieser Raketen- und Drohnenangriffe zeugen von den strategischen Planungsfähigkeiten der jemenitischen Streitkräfte. Die Durchführung einer achtstündigen Operation gegen derart anspruchsvolle Ziele erforderte umfangreiche nachrichtendienstliche Erkenntnisse, eine sorgfältige Koordination und fortschrittliche Technologie – ein Beleg für die wachsenden Fähigkeiten der jemenitischen Streitkräfte sowohl in der konventionellen als auch in der asymmetrischen Kriegsführung.

Sanaas Haltung zur Militarisierung der Seewege unterstreicht Jemens strategischen Einfluss durch die Kontrolle einiger der verkehrsreichsten und wichtigsten Seewege der Welt. Indem sich der Jemen als Beschützer dieser Seewege positioniert, dreht er den Spieß gegen seine Gegner um, stellt ihre Präsenz in Frage und zweifelt ihr Recht an, sich in diesen Gewässern frei zu bewegen.

Wenige Stunden nachdem die jemenitischen Streitkräfte die Operation und ihre Einzelheiten bekannt gaben, bestätigte das Pentagon den Angriff teilweise. US-Pressesprecher Pat Ryder sagte [5]:

„Am 11. November wehrten die Streitkräfte des US-Central Commands, während einer Fahrt durch die Bab al-Mandab-Straße, erfolgreich mehrere Angriffe der vom Iran unterstützten Houthi ab. Während der Durchfahrt wurden die Lenkwaffenzerstörer der Arleigh-Burke-Klasse, USS Stockdale und USS Spruance, von mindestens acht unbemannten Einweg-Luft-Angriffs-Systemen, fünf ballistischen Anti-Schiffs-Raketen und drei Anti-Schiffs-Marschflugkörpern angegriffen, die erfolgreich bekämpft und besiegt wurden.“

Ryder fügte jedoch den Vorbehalt hinzu:

„Mir sind keine Angriffe auf die [USS] Abraham Lincoln bekannt.“

Als Reaktion darauf gaben die jemenitischen Streitkräfte an, der Flugzeugträger wäre nach dem Angriff hunderte Meilen weit abgerückt. Sie führten die vorherigen Routen im Detail auf, um der Darstellung des Pentagons entgegenzuwirken und zu demonstrieren, wie eng Ansarallah die US-Marineschiffe überwacht.

Die jemenitischen Streitkräfte führten zuvor bereits gezielte Schläge gegen US-Zerstörer und den US-Flugzeugträger Eisenhower durch, der im nördlichen Roten Meer zweimal angegriffen wurde [6].

Diese Diskrepanz in den Berichten deutet auf den anhaltenden Informationskrieg zwischen den beiden Kontrahenten hin, bei dem jeder versucht, die Berichterstattung zu kontrollieren und die Moral aufrechtzuerhalten. Sanaas Selbstbewusstsein, die US-amerikanische Version der Ereignisse offen in Frage zu stellen, unterstreicht Jemens neu gewonnene Wirkung in der regionalen Kommunikation und die Absicht, die internationale Wahrnehmung des Konflikts zu beeinflussen.

Botschaften hinter dem Präventivschlag

Der präventive Charakter dieser Operation vermittelt wichtige Botschaften. Erstens zeigt es, dass der jemenitische Geheimdienst in der Lage ist, feindliche Militärpläne der USA und Großbritanniens aufzudecken. Dieses Ausmaß an Informationsbeschaffung deutet darauf hin, dass Sanaa Quellen eingeschleust hat, die Echtzeit-Updates über feindliche Bewegungen und Absichten liefern.

Zweitens bedeutet die Durchführung eines Präventivschlags, dass der Jemen militärische Strategien und Manöver antizipieren und Angriffe abwehren kann, bevor sie stattfinden. Diese Fähigkeit versetzt Sanaa in eine proaktive statt reaktive Position und verschafft dem Jemen einen strategischen Vorteil.

Drittens verbessern die jemenitischen Streitkräfte stetig ihre militärischen [7] und nachrichtendienstlichen [8] Fähigkeiten und stellen damit die Vorherrschaft der USA in der Region in Frage. Diese konsequente Verbesserung der ballistischen Raketentechnologie, der Drohnenfähigkeiten und die Echtzeitüberwachung verändert das militärische Gleichgewicht in der Region weiter.

Viertens dient die Operation als deutliche Warnung an alle, die in der Region aggressive Absichten verfolgen, insbesondere da der von den USA unterstützte Krieg gegen den Jemen unter der Führung von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten nach wie vor ungelöst ist. Der Präventivschlag zeigt, dass Sanaa nicht zögern wird, Gewalt anzuwenden, um seine Souveränität und strategischen Interessen zu schützen.

Sanaas Strategie der schrittweisen Eskalation

Im Gespräch mit The Cradle betont der jemenitische Militärexperte Brigadegeneral Mujib Shamsan, dass der unerwartete Angriff mehrere Botschaften an Washington sendet. Eine wichtige Botschaft war, dass die Ära der US-Versuche, ihren Einfluss geltend zu machen, ohne Konsequenzen zu fürchten, vorbei ist:

„Sanaas Fähigkeiten beschränken sich nicht mehr nur auf die Verteidigung, sondern erstrecken sich auch darauf, den Kampf zum Feind zu tragen – insbesondere auf See.“

Shamsan beschränkt die Ergebnisse der Operation und ihre Auswirkungen nicht nur auf die USA, sondern ist der Ansicht, dass „einige ihrer Auswirkungen Washingtons Instrumente in der Region beeinträchtigen, insbesondere diejenigen, die sie zur Erreichung ihrer Ziele eingesetzt haben. Sei es auf der Ebene der Aggression gegen den Jemen oder für andere Ziele. Das ist ein Resultat der Destabilisierung des Vertrauens“.

„Wer eine achtstündige Militäroperation auf See durchführen kann, ist auch in der Lage, umfassendere Offensiven durchzuführen“,

sagte Shamsan und warnt vor einem neuen amerikanischen „Abenteuer“ gegen die jemenitischen Streitkräfte. Er merkt an, dass Sanaa nicht alle seine Ressourcen auf einmal einsetzt, sondern seine Taktik schrittweise verschärft.

Er deutet an, dass bei künftigen Operationen Hyperschallraketen eingesetzt werden könnten, um schwere Schäden anzurichten – wie sie es bereits gegen Tel Aviv getan haben [9] – anstatt nur Warnungen auszusprechen.

Diese schrittweise Eskalation signalisiert eine sorgfältig durchdachte Strategie, die den Feind im Unklaren lässt und ein Element der Unvorhersehbarkeit beinhaltet:

„Sanaa deckt die Karten nicht auf einen Schlag auf, sondern schrittweise. Und was Drohnen und Lenkflugkörper erreicht haben, können Hyperschallraketen mit anderer Wirkung, die über die Warnung und den Abbruch feindlicher Operationen hinausgeht, erreichen. Sie können einen Flugzeugträger direkt schwer beschädigen. Die USA haben diese Botschaft gut verstanden und dementsprechend daran gearbeitet, ihren Flugzeugträger meilenweit abzuziehen.“

Aufklärung ist das Wichtigste

Shamsan sagt, dass Ansarallahs Fähigkeiten im Bereich Aufklärung und Überwachung die Grundlage für den militärischen Erfolg sind.

„Informationen sind die Grundlage für den Kampf, und Sanaa hat ein fortgeschrittenes Niveau in der Informationsbeschaffung erreicht. Das hat die Amerikaner verblüfft, die Mühe hatten, den Standort des Flugzeugträgers zu verbergen“, fügt er hinzu.

Diese Erfolge beschränken sich nicht nur auf die Verfolgung feindlicher Bewegungen, sondern erstrecken sich auch auf die Entschlüsselung ihrer Strategien. Das ermöglicht vorbeugende Maßnahmen, um Bedrohungen zu beseitigen, bevor sie vollständig verwirklicht werden.

Seit der Operation Al-Aqsa-Flut im vergangenen Jahr (Im Westen als Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 bezeichnet. Anm. d. Red.) hat sich im Nahen Osten ein Wandel vollzogen. Die Aktionen des Jemens rücken immer mehr in den Mittelpunkt des regionalen Widerstands [10]. Von den ersten Raketenangriffen Sanaas am 18. Oktober 2023 bis zur jüngsten Operation am 11. November 2024 wurde die aktive militärische Rolle Jemens zu einem Game Changer.

Die Sicherheit in der Region ist nun eng mit der Sicherheit Jemens verbunden. Das zwingt Washington und seine Verbündeten dazu, ihre Strategien zu überdenken. Sanaa hat die Vorstellung, man könne den Jemen ausgrenzen, mit der Revolution vom 21. September 2014 begraben, womit die ausländische – insbesondere die saudische – Einflussnahme auf jemenitische Entscheidungen unterbunden werden konnte [11].

Die Rolle des Jemens bei der Unterstützung der palästinensischen und libanesischen Sache bedeutet auch, dass Israel und seine Verbündeten die verheerenden Trümmer dieser Kriege nicht durch „Waffenstillstände“ beiseiteschieben können, denn das wird ihr „Jemen-Problem“ nicht lösen. Ungeachtet dessen, was in der Levante geschieht, hält der strategische – und jetzt schlagkräftige – Anführer der Achse, der Jemen, die Schlüssel zu vielen Entscheidungen auf regionaler Ebene und im Widerstand in der Hand.

Quellen und Anmerkungen

(1) The Cradle, Saqr Abo Hasan, „Yemen’s answer to Israeli aggression: Military strikes and strategic Red Sea control“, am 12.10.2024, <https://thecradle.co/articles-id/27248>

(2) The Cradle, „US warships pull back from Yemeni waters after ’shocking‘ Ansarallah attacks”, am 15.11.2024, <https://thecradle.co/articles-id/27724>

(3) Yemen Press Agency, „Sayyed Abdul-Malik Al-Houthi threatens to target US aircraft carriers approaching Red Sea“, am 14.11.2024, <https://en.ypagency.net/340889>

(4) The Cradle, Saqr Abo Hasan, „Ansarallah missiles, drones swarm US warships ‚preparing attacks‘ against Yemen“, am 12.11.2024, <https://thecradle.co/articles-id/27672>

(5) US-Verteidigungsministerium, „Pentagon Press Secretary Maj. Gen. Pat Ryder Holds a Press Briefing”, am 12.11.2024, <https://www.defense.gov/News/Transcripts/Transcript/Article/3962926/pentagon-press-secretary-maj-gen-pat-ryder-holds-a-press-briefing/>

(6) The Cradle, Khalil Nasrallah, „Yemen strikes back, targeting the USS Eisenhower”, am 03.06.2024, <https://thecradle.co/articles-id/25228>

(7)The Cradle, Khalil Nasrallah, „Yemen’s hypersonic missiles: A West Asian military revolution”, am 03.07.2024, <https://thecradle.co/articles-id/25749>

(8) The Cradle, „Yemen dismantles extensive US, Israeli spy network”, am 11.06.2024, <https://thecradle.co/articles-id/25382>

(9) The Cradle, Khalil Nasrallah, „Yemen’s hypersonic ballistic missile rocks Israel’s defenses”, am 16.09.2024, <https://thecradle.co/articles-id/26872>

(10) The Cradle, Khalil Nasrallah, „Yemen’s strategic escalation into the Mediterranean”, am 08.05.2024, <https://thecradle.co/articles-id/24772>

(11) The Cradle, „Ansarallah holds massive military parade in Yemeni capital”, am 21.09.2023, <https://thecradle.co/articles/ansarallah-holds-massive-military-parade-in-yemeni-capital>

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Dieser Text wurde zuerst am 18.11.2024 auf www.thecradle.co unter der URL <https://thecradle.co/articles/how-yemen-is-redefining-regional-power> veröffentlicht. Lizenz: Khalil Nasrallah, The Cradle, CC BY-NC-ND 4.0

und am 17. Dezember 2024 in dem Magazin free21.org:

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Bildquelle: Stephen Finn / shutterstock


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