Lyrische Beobachtungsstelle

Wer ist hier das Monster? | Von Paul Clemente

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Zum Kinostart von  Guillermo del Toros „Frankenstein“

“Die Lyrische Beobachtungsstelle” von Paul Clemente.

1816 fiel der Sommer aus. Weltweit. Ursache war ein Ausbruch des indonesischen Tambora-Vulkans. Der Himmel blieb grau und trübe, Kälte und Dauerregen sorgten für Depression und Missernten. Dass dieser Horror-Sommer einen festen Platz im kulturellen Gedächtnis erlangt hat, verdankt er vier englischen Dichtern. Die trafen sich am Genfer See, wollten Zeit miteinander verbringen. Ihr Domizil: Die Villa Diodati. Aber Unwetter verwandelten das Haus in ein Gefängnis. Ausreiten? Spaziergänge? Undenkbar. Stattdessen saß man am Kaminfeuer. Die Namen der Dichter: Lord Byron, englischer Skandal-Poet, und sein Leibarzt Dr. John Polidori. Außerdem: Mary Godwin mit ihrer Stiefschwester Claire Clairmont und ihrem Verlobten Percy Shelley. Man kippte Laudanum und diskutierte über die Reanimierung von Toten. Ein Thema, über das der Forscher Erasmus Darwin – Großvater von Charles – eine Abhandlung veröffentlicht hatte. Schließlich kam die zündende Idee: Alle Anwesenden sollten eine Gruselgeschichte improvisieren. Der Vorschlag fand begeisterte Aufnahme. Und das Ergebnis war eine literaturgeschichtliche Bombe. 

Byron und Polidori erfanden den Vampir Lord Ruthwen, einen  Vorläufer des Grafen Dracula. Und die 19jährige Mary Godwin fabulierte von einem Forscher, der den Tod überwinden, der künstliches Leben erzeugen wollte: Dr. Victor Frankenstein.

Zwei Jahre später würde Mary Godwin, die inzwischen den Nachnamen Shelley trug, ihre Story zu einem Roman ausbauen: „Frankenstein, oder Der moderne Prometheus“, Der Titel verweist auf einen antiken Mythos: Der Titan Prometheus entreißt den Göttern das Feuer. Ebenso entwendet Frankenstein dem Christengott das Monopol über Leben und Tod.

Es ist müßig, auf gegenwärtige Parallelen hinzuweisen: Auch Frankensteins Nachfahren in Silicon Valley versuchen, den Tod zu überlisten, das Leben auf digitaler Basis zu verewigen. KI-Guru Ray Kurzweil gesteht offen, dass Todesangst ihn zu diesem Forschungsziel drängt. Solch ein Zeitgeist schreit geradezu nach filmischer Neuadaption des „Frankenstein“-Romans. Und die wurde auch geliefert. Gleich zweifach. Vor drei Jahren inszenierte Yorgos Lanthimos den Blockbuster „Poor Things“: Der verrückte Dr. Godwin reanimiert eine schwangere Selbstmörderin, implantiert ihr das Gehirn der ungeborenen Tochter. Eine freie, parodistische Adaption von Mary Shelleys Roman. 

Jetzt läuft auch ein direktes Frankenstein-Remake in den Kinos. Regisseur ist der Mexikaner Guillermo del Toro. Der bewies in Filmen wie „Pans Labyrinth“ oder „Crimson Peak“ seine visuelle Meisterschaft. Allerdings behauptet „Frankenstein“ einen Sonderplatz in seinem Schaffen. Es ist sein Lebensprojekt. Als Kind sah del Toro die Verfilmung von 1931. Darin spielte Boris Karloff das künstliche Geschöpf. Der kleine Guillermo war tief beeindruckt. So sehr, dass er eine eigene Version plante. Jetzt, im 61. Lebensjahr, ist es soweit. Endlich hat er seinen Kindertraum realisiert. Und ja, sein Filmmonster lebt, packt und fasziniert. Und das bei einem Übermaß an Konkurrenz! Schließlich zählt „Frankenstein“ neben „Dracula“, „Die Kameliendame“ oder „Der Graf von Monte Christo“ zu den Stoffen, die zahllose Verfilmungen, Fortsetzungen und Abwandlungen erfuhren. Darunter auch unverwüstliche Klassiker. Wer sich an diese Geschichte wagt, den erwarten hohe Maßstäbe.

Del Toro zeigt Dr. Frankenstein als finsteres Charakterschwein. In Verfilmungen zuvor galten seine Experimente zwar als grenzwertig, aber die Gefahr, der Grusel-Faktor ging von seinem Geschöpf, dem „Monster“ aus. Anders bei del Toro: Hier ist der verrückte Wissenschaftler selbst das Monster. Kalt und rücksichtslos. Als Halbwaise vom Vater brutal gezüchtigt, fiel er in ein seelisches Vakuum. Das füllte er mit wütendem Ehrgeiz. Der wird ihm zum Antriebsmotor. Sein Projekt, die Reanimierung von Toten, drängt ihn ins soziale Abseits.

Doch er findet einen Mäzen: Einen reichen Syphilitiker. Der spekuliert auf eigene Rettung durch Frankensteins Forschung, spendiert ihm einen abgelegenen Turm. Darin kann der verrückte Forscher sich austoben.

Ebenso der Regisseur: Del Toro ließ riesige Hochbauten erstellen. Manches erinnert an Steam-Punk. An der Laborwand prangt ein Porträt der Medusa: Laut Legende lässt ihr Blick jeden zu Stein erstarren. Ein überdimensionales Symbol des Todes, gegen den Frankenstein ankämpft.

Der Leichnam auf dem OP-Tisch liegt mit ausgestreckten Armen. Wie ein Gekreuzigter. Man ahnt: Seine Wiederbelebung wird zum Martyrium. Als die gelingt, ist Frankenstein vom Resultat bitter enttäuscht. Die Kreatur erfüllt nicht seine Erwartung, spricht immer nur ein Wort: Den Vornamen ihres Schöpfers, Victor.

Optimierung? Nicht mit dem. Also beschließt Frankenstein die Vernichtung des „missglückten“ Geschöpfes. Mehr noch: Sein Labor, seine Aufzeichnungen – alles muss alles weg. Frankenstein steckt den Turm in Brand.

Sein Ungeheuer allerdings überlebt. Es flüchtet in die Einsamkeit der Wälder. Dort begreift es die Schrecken der Existenz: Der Wolf reißt das Schaf nicht aus Hass. Ebenso wenig erschießt der Jäger den Wolf aus Antipathie. Nein, nicht Zorn, sondern Überlebenstrieb zwingt zur gegenseitigen Tötung. Die Natur: Das ist ein Kreislauf des Todes.

Bald findet das Monster Unterschlupf bei einem blinden Eremiten. Der kann das hässliche Anlitz nicht sehen. Irgendwann zeigt er seinem Gast ein Exemplar von „Paradise lost“: Ein Versepos über Adam und Evas Verbannung aus dem Garten Eden. In Mary Shelleys Romanvorlage liest das Monster auch Goethes „Leiden des jungen Werthers“, einen Briefroman über unerwiderte Liebe. Aber im Gegensatz zu Werther kann der Riese sich nicht töten. Er kann weder leben noch sterben.

Soweit, so bekannt. Aber die Originalität von del Toros Version liegt in der Gestaltung einer Nebenrolle: Der von Elisabeth Lavenza. Frühere Filmadaptionen zeigten sie als Dr. Frankensteins frustrierte Verlobte. Die muss feststellen, dass ihr Bräutigam lieber im Labor Leben zeugt, anstatt im Bett mit ihr. In der neuen Version hingegen ist Elisabeth nicht Victor Frankensteins Braut, sondern die seines jüngeren Bruders. Ihr erster Auftritt hat in sich: Im blauen Rüschenkleid und aufwändig frisiert, hält sie einen Totenschädel in der Hand. Betrachtet ihn hingebungsvoll, streichelt ihn sogar. Anders als ihr künftiger Schwager findet sie einen Weg, mit dem Monster zu kommunizieren. Das treibt Frankenstein in rasende Eifersucht. Ihm wird klar: Er beherrscht zwar die physische Seite des Lebens. Aber auf seelischer Ebene ist er völlig unfähig. Auch darin ähnelt er zeitgenössischen Forschern in Silikon-Valley: Deren Visionen vom digitalen Menschen klammert die Psyche, das Wohlbefinden der künftigen Geschöpfe völlig aus. Nicht einmal als Frage taucht sie auf.

Kehren wir noch einmal zurück zum Anfang: Mary Shelley kam die Idee zum „Frankenstein“-Roman während ihres Besuchs bei Lord Byron. Der hatte eine uneheliche Tochter namens Ada. Aus ihr wurde eine Mathematikerin, und das Monster, das sie erschuf, war keineswegs fiktiv, sondern real. Vielen gilt sie als frühe Programmiererin, als Verfasserin des ersten Maschinenalgorithmus. Die 1980 von Jean Ichbiah entwickelte Programmiersprache „Ada“ wurde nach ihr benannt. Durch Ada Byrons Pionierarbeit entstand ein Monster, dessen Macht erst im 21. Jahrhundert erkennbar wurde: Die Digitalisierung.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bild: Frankenstein-Monster in einem Burgdungeon - NECA Ultimative schwarz-weiße Figur

Bildquelle: Willrow Hood/ shutterstock  


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