Wenn abgerechnet wird

Von Dirk C. Fleck.

Ich weiß, solche Daten werden nicht erfasst, aber rein theoretisch müsste sich der ökologische Fußabdruck, den wir während unserer irdischen Existenz hinterlassen, messen lassen. Wenn am Ende abgerechnet wird, steht doch zweifelsfrei fest, was jeder Einzelne von uns im Laufe der ihm zugestandenen Jahre hier veranstaltet hat. Es steht fest, wie viel Liter Benzin wir verbraucht haben, um unseren Arsch von A nach B zu bewegen. Es steht fest, wie viel Kilo Fleisch wir verspeist haben, wie viel Wasser wir verbraucht haben, wie viel Waschmittel von uns in die Flüsse geleitet wurden und was wir der Umwelt an Plastikmüll zugeführt haben, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Und wer weiß denn, ob die Daten, die über unser fahrlässiges Verhalten Aufschluss geben, nicht doch irgendwo gespeichert sind und somit entscheidenden Einfluss nehmen auf unsere zukünftig Existenz? 

Zukünftige Existenz?! Nicht gleich aufregen, Leute! Mir ist schon klar, dass die meisten Menschen mit dem Begriff Reinkarnation nichts am Hut haben, dass sie schon die Erwähnung dieses Wortes für esoterisches Geschwurbel halten, was letztlich ihre Lebensweise erklärt, die mit dem Satz Nach mir die Sintflutja trefflich beschrieben ist.

Aber man könnte zumindest einmal darüber nachdenken. Wenn die Idee von der Wiedergeburt einen Sinn ergibt, dann doch nur wegen der Vorstellung, dass sie uns nacheinander in jede denkbare materielle Form zwingt, um so zu einem übergreifenden Verständnis zu gelangen, welches uns aus dem Leid erlöst, welches unabdingbar mit jeder körperlichen Existenz verbunden ist. Wir werden also sowohl der Baum gewesen sein, den wir gefällt haben, als auch die Ameise, die wir unter unserer Füßen zertreten. Wir werden die Erfahrungen eines Silvesterkarpfens ebenso gemacht haben, wie die eines Tigers im Zoo. Wir werden den Autoreifen so wenig entkommen sein, wie die Kröten auf ihrer Wanderung zu eben jenem Ziel, das uns allen gemeinsam ist. Wir werden uns sowohl schuldig als auch unschuldig gefühlt haben. Wir werden Herrscher und Besiegte in uns vereinigen, jeder Schmerz, jede Freude, jeder Wahnsinn wird uns schließlich vertraut sein. 

Die Idee, dass uns nichts erspart bleibt, hat etwas Tröstliches. Sie besagt, dass wir uns in all unserem Tun nur an uns selbst vergreifen können. Um für diese Erkenntnis offen zu werden, gilt es, den Angstknoten in uns zu lösen, jenes Geschwür der Seele, das sich in vordergründigen Sicherheiten versteckt und dessen Eiter die Ignoranz gegenüber der Tatsache ist, dass sich nichts, aber auch gar nichts an egoistischer Attitüde dem Leben gegenüber verteidigen lässt. Früher oder später müssen wir erkennen, dass wir Teil eines einzigen und einzigartigen Körpers sind. Wie hatte Friedrich Schiller so richtig gesagt: Die Natur ist ein unendlich geteilter Gott.

Okay, ich will Sie nicht länger mit meinem Geschwurbelnerven. Eigentlich wollte ich hier nur ein kleines Gedankenspiel mit Ihnen spielen. Angenommen, nur mal angenommen, es gäbe eine Instanz, so eine Art innere Stimme, der wir total vertrauen, wenn sie sich meldet. Gesetzt den Fall, diese innere Stimme würde uns sagen, wann wir sterben werden. Nicht das Datum, das nicht. Die Stimme macht den Zeitpunkt unseres Ablebens an unserem Konsumverhalten fest. 

So erfährt der eine, dass seine Zeit gekommen ist, wenn er die letzte der ihm noch zustehenden 35 Kilo Plastikmüll  entsorgt hat. Jemand anderes erfährt, dass er noch 2289 Liter Benzin zugebilligt bekommt, und wenn die verfahren sind, ist Schluss auf Erden. Einem Dritten werden noch 64 Kilo Fleisch zugestanden, bevor er stirbt. Und der vierten Person wird ihr Ende vorausgesagt, sobald sie auch nur eine Sekunde länger im Internet surft, als 3700 Stunden. Das Internet, so erführe er bei dieser Gelegenheit, ist nämlich weltweit der drittgrößte Energiefresser, Tendenz steigend.

Wie würden diese Menschen reagieren? Wie gesagt, sie zweifeln nicht im geringsten an der Prophezeiung ihrer inneren Stimme. Ich vermute, dass jeder der vier hier Genannten extrem nachdenklich werden würde. Zumal ihnen schlagartig klar würde, dass sie einen Entzug zu durchlaufen hätten, gegen den sich das Abnabeln vom Heroin wie eine Fingerübung ausnimmt. Der Autofahrer würde beginnen, seine Fahrten langsam einzuschränken, bis er sich irgendwann selbst ein Fahrverbot erteilt.

Das Gleiche gilt vermutlich für den Internetsurfer, der die Besuche im Netz nach Nützlichkeit und Notwendigkeit abzuwägen begänne. Der Fleischesser täte sich mit dem Verzicht schon schwerer. Vermutlich würde er seinen Konsum nach der Prophezeiung rauschhaft steigern, um vor dem letzten Schnitzel eine Vollbremsung hinzulegen. Das letzte Schnitzel wäre so etwas wie die Pistole, die man in der Schublade liegen hat – für den Fall, dass man unheilbar krank wird, pleite geht oder von der Frau verlassen wird. Das nennt man dann ein selbstbestimmtes Leben

Am einfachsten scheint es die Person mit den 35 Kilo zugestandenem Plastikmüll zu haben. Aber das täuscht. Sie hat vermutlich die Arschkarte gezogen. Okay, Jute statt Plastik – null Problemo, sofort umsetzbar. Aber bereits beim Leeren der ersten Jutetasche stellte die Person fest, dass fast jedes Produkt aus dem Supermarkt eingeschweißt ist. Selbst die zwölf Himbeeren, die man im Joghurt verrühren wollte, sind in Plastikfolie gewickelt. Aber hatte unsere Person nicht neulich von einem alternativen Supermarkt gelesen, der Waren pur verkauft, ganz ohne Verpackung? Also ab ins Internet. Gott sei Dank gab es ein diesem Fall kein Stundenlimit. Und dann ab ins Auto. Zehn Kilometer hin zu der unverpackten Butter, zehn Kilometer zurück. Zum Glück sprach die innere Stimme auch nicht von einem begrenzten Benzinvorrat. Aber Vorsicht bei Möbeln und Kinderspielzeug, beim Autokauf und auch allen anderen Kaufaktionen. PLASTIK! Arschkarte, sag ich doch. Wir stecken definitiv in der Plastikfalle. Und in ihr bezahlen wir mit Plastikkarten

Während sich also drei von vier Menschen, denen ihre innere Stimme eine unumstößliche Wahrheit flüstert, durch Einsicht und Disziplin noch vor dem geweissagten Tod zu retten vermögen, scheinen wir als menschliche Gemeinschaft rettungslos verloren. Obwohl die Menetekel des Untergangs für uns alle unübersehbar geworden sind, obwohl sie an jeder Wand hängen und aus jedem Fernseher springen.

Dass der Ökozid überhaupt möglich ist, hat seine Ursache darin, dass sich das Zerstörungswerk auf unendlich viele Schultern verteilt. Jeder einzelne von uns lädt von der Gesamtlast der alles niederwalzenden Zivilisationslawine allenfalls ein Mikrogramm auf seine Schulter, welches nach seinem Verständnis in keinen katastrophalen Zusammenhang zu bringen ist. Warum also sollte jemand sein Auto verschrotten, wenn die Luft dünn wird?

Wir kennen die Ausrede, mit der wir uns Absolution erteilen: Sie sind Schuld!! Sie weigern sich, den Umweltschutz im Grundgesetz zu verankern. Sie setzen weiterhin auf Atomkraft. Neulich haben sie eine entsprechende Umfrage in Auftrag gegeben aber im Grunde sind sie nur geldgeil. Wie wollen sie die Probleme jemals in den Griff kriegen? Nächste Woche sägen sie die Kastanien in meiner Straße ab, sie brauchen Parkplätze. Irgendwann ersticken sie noch mal in ihrem eigenen Dreck, aber feiern tun sie bis zum Ende. – He, Sie da! Haben Sie sie gesehen?

Was wir dringend bräuchten hat Wolf Büntig, Psychotherapeut und Gründer des ZIST (Zentrum für Individual- und Sozialtherapie) sehr treffend auf den Punkt gebracht. Und das, Herr Nachbar, ist machbar. Bünting sagt: Das Ziel ist, wieder dort anzuknüpfen, wo wir waren, bevor wir geprägt und konditioniert wurden. Das heißt, am Wesen der Person anzuknüpfen, an ihrem Dasein, an ihrem Interesse, an ihrer Wahrnehmung, an ihrer eigenen Würde, an ihrem Mitgefühl, am Gefühl für den eigenen Wert als Geschöpf, an der Aufrichtigkeit so wie Kinder sind, bevor sie anfangen zu schauen, wem sie es recht machen können.

Denn nicht nur was wir tun, sondern auch was wir denken und fühlen steht mit allen anderen Taten, Gedanken und Gefühlen sämtlicher Mitwesen auf diesem Planeten in ständiger Verbindung und bedingt einander, so dass aus diesem Konglomerat der jeweils augenblickliche Zustand der Welt erwächst. Je mutiger unser Handeln, je klarer und gerechter unsere Gedanken und je tiefer unsere Gefühle, desto mehr tragen wir dazu bei, dass sich die Gesamtlagezum positiven verändert. Im Moment, das müssen wir wohl unumwunden zugeben, ist die Lage nicht berauschend. Ein Grund mehr, uns selbst und damit der Gemeinschaft aller Lebewesen etwas Gutes zu tun. Wer etwas Besseres vor hat, sollte sagen was es ist. Dann wird er merken, dass er ganz schön alt aussieht.

Wo materieller Fortschritt, wo Eroberungen von ganz äußerlicher Perfektion herrschen, an welcher weder unser Herz noch unser Menschenkörper teilhaben konnten, wo all das herrscht, was sich auf Bequemlichkeiten stützt und sich unter Ausschluss jedes inneren Fortschritts auf dieser Grundlage verfeinert, da hat sich echte Kultur nicht mehr entwickelt. Im Maße, wie wir Fortschritte machen und unser Einfluss auf die äußere Natur uns Wüsten beschert, die messbar sind, entgeht uns gleichsam der Himmel, und bei dieser Ausdrucksweise handelt es sich um ein Bild, das für die Realität nicht ohne Folgen ist.”

ANTONIN ARTAUD (1896 1948), französischer Schauspieler, Dramatiker, Regisseur, Zeichner und Theater-Theoretiker.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Rich Carey / shutterstock

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