Was steckt hinter dem aktuellen Börsen-Wahn?- Tagesdosis 29.6.2020

Ein Kommentar von Ernst Wolff.

Die Aktienmärkte scheinen zurzeit weltweit völlig außer Kontrolle. Nach dem gewaltigen Einbruch im März und der anschließenden Aufholjagd im April kennen sie seit zwei Monaten offensichtlich nur noch eine Richtung – nach oben.

Die Rallye wirkt wie ein Stück aus dem Tollhaus, denn die Weltwirtschaft hat durch die Kombination aus Rezession und globalem Lockdown irreparablen Schaden genommen und wird sich mit Sicherheit auch so bald nicht erholen. Das Jahr 2020 wird ohne jeden Zweifel als eines der schlimmsten in die Wirtschaftsgeschichte eingehen.

Selbst erfahrene Analysten sind angesichts der aktuellen Entwicklung an den Aktienbörsen vielfach sprachlos. Ein extremes Beispiel für die Absurdität der Ereignisse hat in den vergangenen Wochen der Trend der Hertz-Aktie geliefert. Nachdem das US-Mietwagen-Unternehmen am 24. Mai Insolvenz angemeldet hatte, war sein Aktienkurs zunächst erwartungsgemäß von 3 Dollar auf 56 Cent gefallen. Am Ende der Woche jedoch stieg der Kurs auf 5,53 Dollar, eine Wertsteigerung um 900 Prozent. Anschließend schaffte die Aktie noch den Sprung auf das Sechzehnfache ihres Tiefstwertes.

Etwas Ähnliches hat es in der gesamten Geschichte der Aktienmärkte noch nicht gegeben. Es zeigt zum einen, dass der Finanzsektor sich inzwischen vollständig von der Realwirtschaft gelöst hat und ein komplettes Eigenleben führt, zum anderen aber auch, dass offensichtlich neue Kräfte am Werk sind, die selbst Insider in Erstaunen versetzen.

Was also ist da los?

Des Rätsels Lösung sind Trading-Plattformen vor allem für Börsenneueinsteiger, die zurzeit wie Pilze aus der Erde schießen. Einige von ihnen haben bereits eine breite Anhängerschaft unter unerfahrenen jungen Leuten gefunden, die dem schnellen Geld hinterher jagen und dabei wegen ihres begrenzten Erfahrungshorizonts einer gewaltigen Illusion erliegen.

Sie alle haben seit dem Beinahe-Crash von 2007/08 einen 12jährigen künstlichen Boom an den Aktienmärkten erlebt und nach dem Einbruch im März 2020 eine sofortige Gegenbewegung gesehen, die sich jetzt offenbar endlos fortzusetzen scheint. Ihre ganz konkrete Erfahrung sagt ihnen also, dass Aktienmärkte im Grunde nur steigen können.

YouTube-Stars wie Dave Portnoy, die das Geldsystem nicht einmal in Ansätzen verstehen, nutzen diese Situation zum eigenen Vorteil aus und geben den Ahnungslosen zurzeit Ratschläge wie „Folgt der FED!“ und „Kauft dann, wenn die Kurse am tiefsten sind!“ 

Erleichtert wird den Interessenten der Einstieg in die Trading-Welt durch Gratis-Online-Broker wie das US-Start-Up-Unternehmen Robinhood, das eine leicht zu bedienende App fürs Handy liefert, kostenlose Trades und günstige Kredite anbietet und den Usern sofort das Gefühl gibt, Teil einer „Community“ zu sein.

Robinhood fördert dieses Gemeinschaftsgefühl durch eine Plattform namens Robintrack, die anzeigt, in welchem Bereich und in welchem Ausmaß die Community ihre Bestände zuletzt erhöht hat und die viele dazu verleitet, sich ohne jegliches Marktverständnis und ohne einen Hauch von Risikobewusstsein dem Trend anzuschließen und die eigenen Einsätze dabei auch noch durch Kreditaufnahme zu hebeln.

Seit etwa zwei Monaten erlebt Robinhood einen rasanten Zustrom von Einsteigern. Und tatsächlich – wenn die sogenannten  Robinhooder massenweise auf Aktien wie die des Autoherstellers Ford setzen, dann geht der Kurs selbst dann durch die Decke, wenn weltweit der Absatz an Autos dramatisch sinkt, die wirtschaftlichen Fundamentaldaten also in genau die entgegengesetzte Richtung zeigen.

Doch kann so etwas auf Dauer gutgehen? Die Antwort lautet: Nein. Was wir hier erleben, ist ein Rausch, der ohne reale Wertschöpfung keinen Boden hat und irgendwann in sich zusammenbrechen muss. Wann, das entscheidet mit großer Wahrscheinlichkeit niemand anderes als die Gemeinschaft der Wall-Street-Profis.

Die institutionellen Investoren halten sich zurzeit nämlich weitgehend zurück und haben sich vereinzelt sogar ganz aus den Märkten zurückgezogen, um diese den Robinhoodern zu überlassen. Zu erkennen ist das an den relativ geringen Umsätzen an den Börsen, die es den Anfängern möglich machen, die Kurse auch mit weniger Geld zu bewegen. 

Zu diesen Profis im Hintergrund zählen zum Beispiel die Fondsmanager von BlackRock, dem mit Abstand größten Vermögensverwalter der Welt, der mit dem Computersystem „Aladdin“ über ein in 32 Jahren gewachsenes Datenreservoir verfügt, das ihm mehr Einblick in die Märkte verschafft als irgendeinem Konkurrenten.

Niemand sollte glauben, dass BlackRock und Co. diesem Treiben hilflos ausgeliefert sind oder ihm auf Dauer tatenlos zusehen werden, ohne daraus Profit zu schlagen. Vermutlich werden sie noch eine Weile warten, bis noch mehr junge Menschen sich im Geldrausch noch höher verschulden und die Kurse noch extremer in die Höhe treiben, um das Kartenhaus dann eiskalt mit der eigenen Marktmacht zum Einsturz zu bringen – natürlich nicht, ohne vorher milliardenschwere Wetten auf fallende Kurse abzuschließen und am Ende als Sieger dazustehen.

Was wir zurzeit im Bereich der Trading-Plattformen wie Robinhood erleben, ist nichts als das Endspiel des gegenwärtigen Systems, in dem ahnungslose Opfer in Massen in einen Raubtierkäfig gelockt werden, über dem bereits die Geier kreisen.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung

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Bildquelle: Shutterstock / jo.pix

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