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Warnsignale überhört? Teil 2 | Von Wolfgang Effenberger

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Julikrise 1914 und Juli 2025: Wenn Geschichte plötzlich Gegenwart wird

Ein Standpunkt von Wolfgang Effenberger. 

Die Wochen nach dem Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 bis zum österreichischen Ultimatum an Serbien am 23. Juli 1914 verliefen für die breite Bevölkerung in Europa weitgehend ruhig und ohne sichtbare Anzeichen einer unmittelbar drohenden Kriegsgefahr. Das öffentliche Leben ging größtenteils seinen gewohnten Gang, viele Menschen rechneten trotz der politischen Spannungen nicht mit einem großen Krieg.

Drei Stunden vor Ablauf des österreichisch-ungarischen Ultimatums ordnete Serbien um 15 Uhr des 25. Juli 1914 die Teilmobilmachung seiner Armee an (1) – das Ultimatum Österreich-Ungarns lief um 18 Uhr ab. Mit Ablauf des abgelehnten Ultimatums ordnete Österreich-Ungarn die Teilmobilmachung im Rahmen des sogenannten „Kriegsfall Balkan“ (2) gegen Serbien an. (3)

Bereits kurz nach Mitternacht am 25. Juli 1914 hatte der russische Generalstabschef Januschkewitsch um 03:26 Uhr ein Telegramm nach Warschau (damals russisch) geschickt, das mit dem 26. Juli den Beginn der Kriegsvorbereitungen im gesamten europäischen Teil Russlands vorsah. Diese Maßnahmen wurden bereits als eine Teilmobilmachung wahrgenommen. (4)

Auch Großbritannien war am Abend des 25. Juli 1914 kriegsbereit.

Die Mobilmachung Großbritanniens wird in fast allen Chroniken mit dem 4. August, dem Tag der Kriegserklärung gegen Deutschland (23:30 Uhr) angegeben. Das trifft nicht zu! Die britische Mobilisierung verlief asynchron. Das Hauptkriegsinstrument der Briten ist die Kriegsflotte, und die befand sich bereits ab dem 25. Juli 1914 in erhöhter Alarmbereitschaft und hatte nach Abschluss des Sommermanövers ihre Kriegshäfen bezogen. Damit war die Flotte faktisch mobilgemacht, noch bevor die offizielle Kriegserklärung erfolgte.

Die britischen Landstreitkräfte (das British Expeditionary Force, BEF) wurde erst am 4. August 1914 mit dem Kriegseintritt gegen Deutschland um 23:30 Uhr nach Frankreich/Belgien in Marsch gesetzt. (5) Das Frankreich für den Krieg gegen Deutschland zugesagte Expeditionskorps wurde in dem 1904 – nur 2 Jahre nach dem desaströsen Burenkrieg – gegründete" Committee of Imperial Defence" (CID) akribisch vorbereitet. Dieses "Verteidigungskomitee" plante ab 1904 den Krieg gegen Deutschland. Neben dem BEF wurde die weltweite Blockade Deutschlands auf wissenschaftlichem Niveau mit dem Ziel geplant, Deutschland im Kriegsfall schnell die wichtigsten Ressourcen zu entziehen (sie wurde bis zum 28. Juni 1919 aufrecht erhalte). In permanenten Subkomitees, etwa dem "Colonial Defence Committee", das speziell für die Verteidigung der Überseegebiete und Dominions zuständig war, wurden bereits vor dem Krieg sogenannte „War Books“ erstellt, in denen für alle Regierungsstellen und auch für die Dominions detailliert festgelegt war, welche Maßnahmen im Kriegsfall sofort zu ergreifen seien.

Die Integration der Streitkräfte der Dominions in die "imperiale Verteidigungsstrategie" wurde durch das CID systematisch vorbereitet und regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht. Dadurch war es möglich, dass nach Kriegsausbruch die Dominions – wie Neuseeland bei der Besetzung Samoas – sofort und koordiniert im Sinne der Gesamtstrategie des Empires handeln konnten. Mit der britischen Kriegserklärung wurde somit der Weltkrieg ausgelöst. Diese Zusammenhänge hat Christopher Clark in seinem vielbeachteten Buch „Die Schlafwandler“ leider ausgeklammert.

Am 26. Juli hätte die Gefahr eines gesamteuropäischen Krieges die Bevölkerung aufrütteln müssen. Oder war sie durch die vorangegangenen Kriege und Konflikte zwischen 1910 und 1914 abgestumpft?

  • Japanische Besetzung und Annexion Koreas 1910:
    Die formelle Annexion Koreas durch Japan erfolgte bereits am 29. August 1910. Die Kolonialherrschaft begann damit offiziell und dauerte bis 1945. In dieser Zeit wurde Korea systematisch politisch, wirtschaftlich und kulturell unterdrückt und seiner Souveränität beraubt. (6)
  • Besetzung von Fès und Rabat durch Frankreich (Marokko-Krise 1911):
    Im Frühjahr 1911 besetzten französische Truppen die marokkanischen Festungen Fès und Rabat. Diese Intervention erfolgte trotz der internationalen Garantie der marokkanischen Souveränität durch die Madrider Konvention (1880) und die Algeciras-Konferenz (1906). (7) Die Besetzung führte zur Zweiten Marokkokrise und bereitete den Weg für das französische Protektorat, das mit dem Vertrag von Fès am 30. März 1912 offiziell wurde.
  • Italienisch-Türkischer Krieg (1911–1912):
    Italien kämpfte gegen das Osmanische Reich um die Kontrolle über Libyen und die Dodekanes-Inseln. (8)
  • Erster Balkankrieg (1912–1913):
    Der Balkanbund (Serbien, Bulgarien, Griechenland, Montenegro) kämpfte gegen das Osmanische Reich, um Gebiete auf dem Balkan zu erobern. (9)
  • Zweiter Balkankrieg (1913):
    Bulgarien kämpfte gegen seine ehemaligen Verbündeten Serbien, Griechenland, Montenegro und Rumänien sowie das Osmanische Reich um die Aufteilung der im Ersten Balkankrieg gewonnenen Gebiete. (10)

In beiden Balkankriegen versuchte Deutschland und Österreich-Ungarn zu vermitteln

  • Xinhai-Revolution in China (1911–1912):
    Revolution und Bürgerkrieg, die zum Sturz der Qing-Dynastie und zur Gründung der Republik China führten.

Die bedeutesten Kriege von 1910 bis 1914 waren der Italienisch-Türkische Krieg, die beiden Balkankriege und die Xinhai-Revolution in China.

Am Morgen des 27. Juli traf Kaiser Wilhelm II. in Kiel ein und wurde nachmittags um 15 Uhr in Berlin von seinem Kanzler Bethmann in demütiger Haltung empfangen.

In scharfer Form stellte ein zornig erregter Kaiser die Frage, wie das alles gekommen sei? Die Erregung des Kaisers war begreiflich, denn der Kanzler hatte seiner Majestät bis zuletzt versichert,

daß dem Frieden keine Gefahr drohe und daß er insbesondere mit England in steter Fühlungnahme und in bestem Einvernehmen stünde.“

Ein sichtlich zerschmetterter Kanzler gab mit verstörtem Gesicht zu, sich in jeder Richtung getäuscht zu haben, und bat um seinen Abschied, den der Kaiser mit den Worten verwehrte:

Sie haben mir diese Suppe eingebrockt, nun sollen Sie sie auch ausfressen!“. (11)

Am folgenden Morgen legte der Kanzler seinem Souverän den Text der inzwischen zwei Tage alten serbischen Antwortnote auf den Tisch: 

Eine brillante Leistung für eine Frist von 48 Stunden“, vermerkte Wilhelm II., „das ist mehr, als man erwarten konnte! Damit fällt jeder Kriegsgrund fort, Giesl hätte ruhig in Belgrad bleiben sollen! Darauf hätte ich niemals Mobilmachung befohlen!“. (12)

Unverzüglich ließ Wilhelm II. daraufhin seinen Generaladjutanten Plessen an den Chef des Generalstabes, Moltke, telegrafieren, daß für Österreich-Ungarn jeder Anlass zum Krieg fortfalle.

Hier hat sich der Kaiser, beseelt vom Wunsch nach Frieden, vom diplomatischen Meisterstück aus Belgrad wohl einfangen lassen! Dabei scheint ihm der ambivalente Charakter mancher Teilantworten nicht aufgefallen zu sein. Er scheint auch übersehen zu haben, dass Serbien drei Stunden vorAblauf des Ultimatums – also um 15 Uhr – zur Mobilmachung schritt.

Noch während des Festbanketts auf der "France" hatte der französische Botschafter Paléologue auf der Rückseite seiner Menükarte eilig ein Pressekommuniqué entworfen: (13)

Durch den Besuch haben beide Regierungen die Gelegenheit bekommen, die perfekte Gemeinsamkeit ihrer Ansichten über die verschiedenen Probleme festzustellen, denen sich die Mächte in der Sorge um den allgemeinen Frieden und  das europäische Gleichgewicht gegenübersehen“.

Im ersten offiziellen Entwurf des Pressekommuniqués vom 24. Juli war von der Sorge um den allgemeinen Frieden keine Rede, nur von der Erhaltung des europäischen Gleichgewichts. Außerdem wurde hinzugefügt "besonders auf der Balkanhalbinsel". (14)

In der endgültigen Version wurde die ursprüngliche Formulierung wieder aufgenommen, also die Sorge um den allgemeinen Frieden wieder eingefügt. Der Zusatz "besonders auf der Balkanhalbinsel" wurde durch "besonders im Orient" (15) ersetzt.

Daraus ist zu schließen, daß es dem französischen Ministerpräsidenten Viviani nicht um das Schicksal Serbiens ging, sondern um das Kräfteverhältnis zwischen Österreich-Ungarn, Russland und der Türkei und dessen Auswirkungen auf das europäische Gleichgewicht.

Offensichtlich war der Ministerpräsident bereit, einige Konzessionen zu Lasten Serbiens zu machen.

Der deutsche Botschafter in Paris hatte am 24. Juli dem Leiter des Außenministeriums am Quai d´Orsay eine Note verlesen, mit der die deutsche Reichsleitung ihrer Forderung nach einer Lokalisierung des Konflikts zwischen der Habsburgermonarchie und Serbien Ausdruck verlieh. „Wir wünschen dringend die Lokalisierung“, hatte sich Bethmann Hollweg in dieser Adresse vernehmen lassen, „weil jedes Eingreifen einer anderen Macht infolge der verschiedenen Bündnisverpflichtungen unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen würde“. (16) Als diese Demarche des deutschen Botschafters Freiherr von Schoen dem französischen Präsidenten Poincaré am 25. Juli vorgelegt wurde, hatte er sie umgehend als eine „kaum verhüllte Drohung“ (17) bewertet.

Am Morgen des 27. Juli erreichte Poincaré auf der Rückfahrt von Petersburg nun an Bord der "France" ein Telegramm des Inhalts, daß sich der britische Außenminister Sir Grey, dem Bethmann Hollwegs Note am 25. Juli zur Kenntnis gebracht worden war, von dieser "Drohung" nicht sonderlich beeindruckt gezeigt, sondern dem deutschen Botschafter zu verstehen gegeben hatte, dass

wenn der Krieg auszubrechen drohe, keine Macht in Europa davon unberührt bleiben könne“;

er habe gegenüber dem russischen Botschafter bekräftigt „dass er keinen Zweifel an der wahrscheinlichen [Kriegs- W.E.]Teilnahme Englands gelassen“ habe. (18)

Dieses erste Anzeichen für eine militärische Interventionsbereitschaft Großbritanniens hielt Poincaré nun umgehend seinem Außenminister als lehrreiches Beispiel vor: „Ich gebe Viviani diese Entschlossenheit als Beispiel, und er ist in wachsender Besorgnis und Unruhe und entwickelt die widersprüchlichsten Ideen.“ (19)

Wie aus den Aufzeichnungen Poincarés hervorgeht, muss es sich bei diesen "widersprüchlichsten Ideen" auch um Einwände gegen die Paléologue zugedachten Instruktionen gehandelt haben – vielleicht wurde deshalb auch so intensiv um die Formulierung des Kommuniqués gerungen, das Paléologue mit Viviani und Poincaré abstimmen musste.

Deutschland lehnt Schiedsgerichtsverfahren ab

In ihrer Antwort unterbreiteten die Serben den Vorschlag, das internationale Gericht in Den Haag oder die Großmächte –  die an der Ausarbeitung der von der serbischen Regierung am 31. März 1909 abgegebenen Erklärung mitgewirkt haben – mit einem Schiedsverfahren zu betrauen. Als der Zar das serbische Ansinnen bekräftigte, instruierte der Reichskanzler den deutschen Botschafter in St. Petersburg, daß ein Schiedsverfahren natürlich in diesem Fall ausgeschlossen sei. Das brachte der deutschen Regierung den Vorwurf ein, ausschließlich in Machtbegriffen zu denken. Dagegen verwahrte sich der Reichstagsausschuss und verwies auf die Erfahrung Deutschlands, dass es in zwei wichtigen Fällen mit England und den USA die Erfahrung gemacht habe, „daß diese beiden Schlüsselstaaten die Schiedsverträge nicht nach Treu und Glauben einhielten, sondern sich dem Schiedsverfahren durch Hinweise auf nationale Rechtsvorgänge und Verfassungsschwierigkeiten entzögen“ (20). Ähnlich trübe Erfahrungen hatten Chile und Italien mit Amerika gemacht. Auch konnte ein schweizerisch-italienischer Zwischenfall nicht schiedsgerichtlich gelöst werden. (21)

Noch negativer waren jedoch Deutschlands Erfahrungen mit einer Seekriegsrechts-Konferenz in London. Sie war als Gegenstück zur vierten Haager Konvention (1908/09) über das Kriegsrecht gedacht. Hier wurde einstimmig eine Seekriegsrechts-Erklärung angenommen, welche in der Tat die Handlungsfreiheit des "Beherrschers der See" stark beeinträchtigte – ebenso wie die Macht des deutschen Heeres durch die vorangegangene Konvention über den Landkrieg geschmälert wurde. Während Deutschland den Vertrag ratifizierte, zog England die Verhandlungen in die Länge und unterließ es, bis zum Kriegsbeginn die Vereinbarungen zu ratifizieren. Daher kommt der Weigerung Englands, den Seekrieg völkerrechtlich zu regeln, erhebliche Bedeutung zu. (22)

Nicht zuletzt war mit Unruhe die britische Annäherung an Russland wahrgenommenen worden. Ende Mai 1914 waren der Reichsleitung die britisch-russischen Flottengespräche durch eine Indiskretion der russischen Botschaft in London bekannt geworden. Großbritannien war dabei, sich militärisch an das Zarenreich zu binden, und arbeitete sogar Planungen für eine Landungsoperation in Pommern aus.

Frankreich und Russland würden in Zukunft durch England nicht mehr zurückzuhalten sein. Das Menetekel eines Zweifrontenkriegs stand an der Wand und bei manchen Politikern und Militärs machte sich Fatalismus breit, der noch dadurch verstärkt wurde, dass im Juni 1914 die russische Wehrvorlage die Duma passiert hatte.

„Die Zukunft gehört Rußland, das wächst und wächst und sich als immer schwererer Alp auf uns legt“ (23),

äußerte Bethmann Hollweg am Abend des 7. Juli 1914. So ist das Misstrauen der deutschen Regierung durchaus nachvollziehbar, zumal es sich im Sommer 1914 um Leben und Tod handelte. Zudem hatte der Haager Schiedshof keine Kompetenz! Es wäre nur ein Spiel um Zeit gewesen, die Deutschland angesichts der geographischen Lage nicht hatte. Ein ähnliches Spiel um Zeit versuchen heute USA in der Ukraine und in Nah-Ost.

Aus heutiger Sicht mag es nicht sonderlich klug gewesen sein, angesichts der Gefahr des Mehrfrontenkrieges auf die schiedsgerichtlichen Möglichkeiten verzichtet zu haben. Zumal laut dem Historiker Christopher Clark damals in Europa sowohl Institutionen als auch akzeptierte Rechtsnormen für eine internationale Behandlung von Konflikten fehlten. Besonders auffällig schien Clark auch die Tendenz der Entente-Mächte, Österreich-Ungarn abzuschreiben. (24) Damit trifft Clark ins Schwarze. Bereits im Sommer 1917 etablierten die Briten mit der Deklaration von Korfu ein neues und probritisches Staatsgebilde der südslawischen Völker, – um vor allem die im Habsburgerreich (Kroaten und Bosnier) und die im Königreiche Serbien lebenden südslawischen Völker unter einer Krone – der Dynastie Karađorđević – zu vereinen. Die Deklaration gilt als das Geburtsdokument des ersten jugoslawischen Staates, der am 1. Dezember 1918 als Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen ausgerufen wurde.

Diesen britischen Zielen stand der ermordete Thronfolger entgegen. Er war die Schlüsselfigur für die Erhaltung des Friedens in Österreich-Ungarn gewesen. Während er Balkankriege war er zur Erkenntnis gelangt, dass ein Krieg "Wahnsinn" sei, und kämpfte fortan mit aller Kraft für den Frieden und für eine Gleichstellung der slawischen Völker in Österreich-Ungarn.

Auch die Angst deutscher und österreichisch-ungarischer Politiker, durch eine Verzögerung ins Hintertreffen zu geraten und dadurch die einzige Trumpfkarte – die militärische Schnelligkeit – zu verlieren, mag angesichts der gegnerischen Überlegenheit ausschlaggebend gewesen sein.

Zurück zum späten Nachmittag des 27. Juli. Gegen 17 Uhr fand sich der bulgarische Gesandte Tschapratschikoff beim serbischen Premier Pasic ein, der ihm eröffnete, dass die Lage gefährlich sei, er aber aus Petersburg die Nachricht habe,

dass Russland entschlossen unseren Schutz übernommen hat“.

Frankreich sei mit Russland solidarisch und

England wünscht sehr, daß der Krieg vermieden werde. Wenn er erklärt wird, wird es nicht neutral bleiben, es wird sich einmischen. (25)

Im weiteren Gespräch stellte Pasic für Bulgarien für den Bündnisfall "gute Folgen" in Aussicht und unterstrich die günstige Lage Serbiens unter den europäischen Mächten. Bei dieser machtvollen Unterstützung hätte er sich nicht einmal auf die bereits gemachten Zugeständnisse eingelassen(!).

Gegen Mitternacht des 28. Juli 1914 schrieb der 39-jährige Marineminister Winston Churchill aus der Admiralty noch ein paar Zeilen an seine Frau Clementine, die gerade mit den beiden Kindern Diana und Randolph ein Feriendomizil an der See in Nordfolk bezogen hatte:

„28 July Midnight / My darling One & beautiful - Alles treibt auf Katastrophe und Zusammenbruch zu. Ich bin interessiert, in vollem Gang und glücklich. Ist es nicht schrecklich, so gebaut zu sein? Die Vorbereitungen üben auf mich eine widerliche Faszination aus. Ich bete zu Gott, dass er mir solche furchtbaren Anwandlungen der Leichtigkeit verzeiht“. (26)

Glücklich im Angesicht der Katastrophe? Als Korrespondent im Burenkrieg (1899-1902) hatte Churchill den modernen Krieg und dessen Vernichtungskraft bereits mit eigenen Augen erleben können. Auch musste ihm nach dieser Erfahrung bewusst sein, dass im neuzeitlichen Krieg Zivilpersonen dem Krieg nicht mehr entfliehen konnten. In der Nacht auf den 29. Juli 1914 versuchte der deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg Englands Absicht für den Fall auszuloten, dass sich der Balkankonflikt auf Frankreich und Deutschland ausweiten sollte. Dem englischen Botschafter in Berlin, Sir Goschen, erklärte Bethmann Hollweg, dass Deutschland mit England Frieden halten wolle und im Falle einer Ausweitung des Krieges auf Frankreich keine Gebietserwerbungen auf Kosten Frankreichs beabsichtige.

Wie konnten dem deutschen Kaiser, Sohn der Royal Highness Victoria Adelaide und Lieblingsenkel der Queen Victoria, befördert zum Field Marshall der British Army und Admiral der Britisch Navy, die Vorgänge in England bis dahin verborgen geblieben sein?

Hatte er die englische Politik der "Balance of Power", die auf dem Kontinent keine Freunde, sondern jeweils wechselnde Partner als Festlandsdegen suchte, nicht rechtzeitig durchschaut? Hatte er vergessen, dass England seit Elisabeth I. jede europäische Großmacht erfolgreich vernichtet hatte, so Spanien 1588, Holland 1654 und Frankreich 1763?

Wie konnte sich der deutsche Kaiser derart von der englischen Regierungsbürokratie einwickeln lassen? In dieser Beziehung muss das Verhalten des deutschen Kaisers wohl als ziemlich naiv und wenig verantwortungsvoll bezeichnet werden. Man kann nur vermuten, dass ihn die positive familiäre Bindung an das englische Königshaus für die raffinierte geostrategische Politik der englischen Administration blind gemacht hatte - er konnte es sich schlichtweg nicht vorstellen.

Am Abend des 30. Juli 1914 war die österreichisch-ungarische Regierung bereit, den deutschen Vorschlägen zur De-Eskalierung weitgehend entgegenzukommen. Doch die russische Gesamtmobilmachung machte jede weitere deutsche Vermittlungstätigkeit obsolet. (27) Inzwischen hatte Frankreich die Mobilmachung des Grenzschutzes befohlen und Deutschland die "Sicherung" für die Flotte angeordnet.

Zar Nikolaus II befahl am 30.Juli 1914 die Gesamtmobilmachung. Kaiser Wilhelm versuchte noch, zwischen Wien und Petersburg zu vermitteln. So schrieb „Willy“ dem russischen Kaiser, seinem lieben Vetter „Nicki“, der Zar solle unter allen Umständen militärische Maßnahmen vermeiden, sie würden das Unglück nur beschleunigen. Daraufhin wurde der Zar von seinem Kriegsminister Suchomlinow dahingehend aufgeklärt, dass eine Rücknahme der Mobilmachung technisch unmöglich sei und Frankreich noch am gleichen Tage Waffenhilfe für Russland zugesichert habe.

Die Stimmung Wilhelms II. lässt sich aus seiner längeren Randbemerkung zu einer Depesche des deutschen Botschafters zu Petersburg vom 30. Juli 1914 ablesen. Diese Randbemerkung schließt mit den folgenden Sätzen:

Also die berühmte ‚Einkreisung‘ Deutschlands ist nun doch endlich zur vollsten Thatsache geworden, trotz aller Versuche unserer Politiker und Diplomaten sie zu hindern. Das Netz ist uns plötzlich über dem Kopf zugezogen und hohnlächelnd hat England den glänzendsten Erfolg seiner beharrlich durchgeführten puren antideutschen Weltpolitik - gegen die wir uns machtlos erwiesen haben -‚ indem es uns, isoliert im Netze zappelnd aus unserer Bundestreue zu Österreich den Strick zu unserer politischen und ökonomischen Vernichtung dreht. Eine großartige Leistung, die Bewunderung erweckt selbst bei dem, der durch sie zugrunde geht [...]“

Am frühen Morgen des 31. Juli 1914 prangten an allen Straßenecken in Petersburg die Mobilmachungsanschläge. Nun war jeder Zweifel ausgeschlossen. Der deutsche Botschafter Pourtales meldete diesen Schritt nach Berlin und bemühte sich nach Kräften um die Rücknahme des Mobilmachungsbefehls. Doch ohne Erfolg. Vielmehr versuchte die russische Regierung, diesen Schritt vor dem Ausland zu verschleiern. So erklärte der britische Premier Asquith am 31. Juli 1914 im Unterhaus:

„Wir haben soeben, nicht aus Petersburg, sondern aus Deutschland erfahren, dass Russland eine allgemeine Mobilmachung seines Heeres und seiner Flotte verkündet hat.“ (28)

Mit der Bitte, die von ihm aufgenommenen Vermittlungsaktivitäten zwischen Russland und Österreich-Ungarn nicht durch weitere Kriegsvorbereitungen an der östlichen Grenze zu gefährden, wandte sich Wilhelm II. an Nikolaus II. Er wäre sonst zu defensiven Gegenmaßnahmen gezwungen. Diese Bitte endete mit einem letzten Appell, alle Deutschland bedrohenden Militärmaßnahmen einzustellen. (29)

Österreich-Ungarn hatte in den Morgenstunden des 31. Juli 1914 den Grenzschutz gegen Russland und um 12.23 Uhr die Gesamtmobilmachung befohlen. Da Petersburg auf die deutschen diplomatischen Bemühungen nicht mehr reagierte, forderte Berlin in einem auf zwölf Stunden befristeten Ultimatum Russland auf, seine Kriegsmaßnahmen einzustellen. (31) Gleichzeitig wurde für das Deutsche Reich die "Drohende Kriegsgefahr" verkündet. Diese Maßnahme löste schon fieberhafte Aktivitäten aus. Am 31. Juli 1914, schloss die Londoner Börse zum ersten Mal in ihrer 117-jährigen Geschichte für fünf Monate ihre Pforten. Es wurde befürchtet, dass ein Ansturm auf die Banken beginnt, der den Zahlungsverkehr und die Kreditmechanismen des Landes bedroht - und dies alles, während Großbritannien am Rande eines Krieges schwankt und dann in das Armageddon stürzt. Vertriebene Makler und Jobber tummelten sich in der Throgmorton Street wie Ameisenschwärme um den Schutthaufen, so Richard Roberts.Während Europa sich aufmachte, in den Krieg zu ziehen, befand sich die "City of London" im Krieg mit sich selbst. (32)

Am 1. August 1914 verkündet das Deutsche Reich die Generalmobilmachung und erklärt Russland den Krieg. Frankreich macht um 15:55 Uhr und Deutschland um 17:00 Uhr mobil. Am 3. August 1914 befinden sich beide Länder im Krieg. Am 4. August folgte um 23:30 Uhr Großbritannien.

Der deutsche Einmarsch in Belgien diente London vor allem als politisch und moralisch nachvollziehbarer Kriegsgrund, entsprach aber nicht allein den militärischen und strategischen Überlegungen Großbritanniens. (33)

England machte das Expeditionsheer mobil und setzte seine Flotte in Marsch. In vier Wochen hektischer diplomatischer Aktivität seit dem Attentat von Sarajewo hatten weder die Mittelmächte noch die Entente-Partner ernsthaft versucht, den Frieden zu retten. .

Der amerikanische Diplomat und Historiker George Kennan hat den gefährlichen Automatismus der russisch-französischen Militärkonvention beleuchtet: Sobald eine der Dreibundmächte ihre Streitkräfte mobilisieren würde, sollten Frankreich und Russland zur Gesamtmobilmachung übergehen; Mobilmachung und Eröffnung der Kriegshandlungen aber sollten faktisch identisch sein. Die in der Militärkonvention vorgesehene Verklammerung von Mobilmachung und Kriegsbeginn verschaffte, so Kennan, den russischen Militärs die Möglichkeit,

„…einen großen europäischen Krieg zu entfesseln, wann immer es ihnen in den Kram passte“. (34)

Doch für die damaligen Zeitgenossen bedeutete eine Gesamtmobilmachung Krieg. Bei den französisch-russischen Verhandlungen über die Militärkonvention mit Zar Alexander III. hatte der französische General Boisdeffre am 18. August 1892 erklärt, dass die Mobilmachung einer Kriegserklärung gleichkomme. Mobilisieren heiße, seinen Gegner zwingen, das Gleiche zu tun. Mit der Mobilmachung wird ein gigantisches Räderwerk in Gang gesetzt. Strategische Transporte rollen an und Truppen werden zusammengezogen - an der ostpreußischen Grenze damals zwei russische Armeen - also etwa eine halbe Million Mann (22 Infanterie- und 8 Kavalleriedivisionen und 1.400 Geschütze). Den russischen Angriffsarmeen standen ca. 200.000 deutsche Soldaten (8. Armee) gegenüber.
Am 4. August 1914 standen sich dann die gewaltigen Armeen und Seestreitkräfte der beiden Lager gegenüber, ausgerüstet mit neuesten und kostspieligsten Waffen der modernen Technologie. Sie marschierten in den blutigsten und teuersten Krieg, den die Menschheitsgeschichte bis dahin gesehen hatte.Und diese modernen Streitkräfte kosteten unermesslich viel Geld. Wie sollte es aufgebracht werden?

Mit Kriegsbeginn hob jedes Land den Goldstandard auf und machte den Weg frei für die Versorgung mit Papiergeld. Es  folgte die Aufnahme von Kriegskrediten (heute Sondervermögen) Die Banken machten das Geld, das sie anschließend ausliehen, indem sie der Regierung ein Konto in beliebiger Höhe einräumten, auf das die Regierung Schecks ziehen konnte. Nicht nur Regierungen borgten für ihren Bedarf Geld, auch die Privatunternehmungen, um die Regierungsaufträge ausführen zu können. Das Gold, das nun nicht mehr verlangt werden konnte, ruhte in den Tresoren.

In einem Interview vom 29. September 2013 antwortete der amerikanische Neuzeithistoriker William Leonard Langer (1896-1977) auf den Verweis des F.A.Z. Journalisten Andreas Kilb zur Logik des deutschen Generalstabs:

Wir müssen jetzt die Russen schlagen, damit wir nicht in drei Jahren von ihnen geschlagen werden. In Deutschland gibt es seit dem Dreißigjährigen Krieg ein spezielles Trauma, das sich in jeder Generation erneuert: das Gefühl, durch die Lage in der Mitte Europas fremden Invasoren gegenüber verletzlich zu sein. Der Rest ist schiere Mathematik. Die franko-russische Allianz ist das aggressivste Bündnis auf dem europäischen Kontinent. Es existiert nur, um gemeinsam Krieg gegen eine dritte Macht zu führen: das Deutsche Reich. Wenn die Deutschen sich ausrechnen, wie viele Soldaten dieses Bündnis gegen sie aufbieten kann, wächst der Abstand mit jedem Jahr.“ (35)

Vergleich Juli 1914 – Juli 2025

Es gibt Parallelen zwischen 1914 und der Situation 2025, insbesondere im Hinblick auf die Wahrnehmung und das Bewusstsein einer akuten Kriegsgefahr:

  • 1914 wurde das Attentat von Sarajevo von vielen politischen Akteuren und der Öffentlichkeit zunächst nicht als unmittelbare Bedrohung für einen gesamteuropäischen Krieg erkannt. Die Eskalation zum Ersten Weltkrieg erfolgte überraschend schnell, weil Warnzeichen missachtet und politische sowie militärische Bündnismechanismen unterschätzt wurden.
  • 2025  Wie 1914 besteht auch 2025 die Gefahr, dass Warnungen vor einer dramatischen Zuspitzung der Sicherheitslage nicht ausreichend ernst genommen werden. Die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen warnt jedoch in einem Strategiepapier sehr deutlich vor der realen Möglichkeit eines großangelegten Krieges mit Russland und ruft öffentlich zur Vorsorge auf. Ein Mangel an entschlossenem Handeln und der Vorbereitung auf eine mögliche Eskalation könnte schwerwiegende Folgen haben – ähnlich wie das politische Versagen vor dem 1. Weltkrieg. Ein Vergleich der Situation 1914 mit der Gegenwart 2025 ist in dem Sinne möglich, dass auch heute in vielen Gesellschaften trotz internationaler Krisenherde und Spannungen das Alltagsleben oft ungestört weiterläuft und die Gefahr eines großen Krieges von vielen Menschen als unwahrscheinlich empfunden wird.

Vor dem Ultimatum Ende Juli 1914 herrschte in der Bevölkerung trotz der vorangegangenen Kriege überwiegend Friedensstimmung und wenig Kriegsangst. Die eigentliche Kriegsgefahr wurde erst mit den sichtbaren politischen und militärischen Maßnahmen offensichtlich.  (36)

Ähnlich wie 1914 werden die vielen weiteren Kriege (neben Ukraine und Nah-Ost) und Konflikte zwischen 2021 und 2025 ausgeblendet:

  • Bürgerkrieg in Äthiopien (Tigray-Konflikt) (seit 2020, mit wechselnder Intensität, auch nach 2021 anhaltende Gewalt)
  • Bürgerkrieg in Myanmar (anhaltende Kämpfe zwischen Militärjunta und Widerstandsgruppen)
  • Bürgerkrieg in Syrien (seit 2011, weiterhin hohe Gewalt und Instabilität)
  • Konflikt im Sudan (seit April 2023, Machtkampf zwischen Militär und Rapid Support Forces)
  • Konflikte in der Sahelzone (Mali, Burkina Faso, Niger, Tschad) (dschihadistische Gewalt, Militärputsche, Bürgerkriege)
  • Bürgerkrieg in Somalia (anhaltene Angriffe von Al-Shabaab und Clan-Konflikte)
  • Konflikte in Jemen (seit 2014, weiterhin schwere Kämpfe und humanitäre Katastrophe)
  • Konflikt in Kolumbien und Mexiko (Drogenkrieg, Gewalt durch Kartelle)
  • Konflikt in Palästina/Westjordanland (anhaltende Gewalt, Eskalationen 2023/2024)
  • Konflikte in Afghanistan (nach dem Abzug der NATO 2021 erneute Gewalt und Machtkämpfe)
  • Konflikt in Armenien/Aserbaidschan um Bergkarabach (Waffenstillstand, aber erneute Gewalt 2023)
  • Konflikte in der Demokratischen Republik Kongo (Kämpfe zwischen Regierung, Rebellengruppen und ethnischen Milizen)

Viele dieser Konflikte sind komplex und überschneiden sich mit anderen Krisen wie Hungersnöten, Vertreibungen und humanitären Katastrophen und scheinen bewusst herbeigeführt zu sein. (37)

Der gravierende Unterschied zu 2025 ist in der Möglichkeit zu sehen, dass sich eine Bevölkerung mit weitaus höherer Schulbildung und dem Wissen über die Kriege des 20. Jahrhunderts über die Vorgänge weltweit und umfassend informieren könnte. Auch besteht 2025 die Gefahr eines drohenden Atomkriegs. Deshalb ist die These, die Situation 2025 sei

„unvergleichlich verantwortungsloser als 1914“,

nicht vom Tisch zu wischen. Heute gibt es zwar viel mehr öffentliche Debatten, doch dort wirkt die Kriegspropaganda hinein. Die demokratische Kontrolle versagt in vielen Fällen – siehe die Einberufung des abgewählten Bundestags. Nur er verfügte noch über die Mehrheit, Kriegskredite in Höhe von 500 Milliarden freizugeben. Die heutigen Krisenmechanismen scheinen auch nicht besser zu sein als 1914. Gleichzeitig ist die Gefahr einer Eskalation real, und manche warnen vor einer „Schlafwandel“-Mentalität, ähnlich wie vor dem Ersten Weltkrieg.

Der Weg in den ersten Weltkrieg wurde ab 1904 präzise geplant (CID). (38) Das ist heute nicht anders – siehe das US-Langzeitstrategiepapier vom September 2014 „Win in a Complex World 2020-2040“. Es soll genau das umgesetzt werden, was US-Präsident George H. W. Bush am 11. September 1990 vor der Welt formulierte: „Toward a New World Order“.

In der Folge hörten die zahlreichen völkerrechtswidrigen Kriege (häufig ummantelt als Interventionen) bis heute nicht auf. Die USA unterhalten als nichteurasische Macht weltweit ein Netz von über 700 Militärbasen um Eurasien herum. Das ist Ausdruck einer globalen Strategie, die von Geopolitikern wie Halford Mackinder („Heartland-Theorie“) schon 1904 beschrieben wurde. Die Kontrolle über das „Herzland“ (Eurasien) galt und gilt in Großbritannien und verstärkt in den USA als Schlüssel zur Weltmacht. Die USA haben ihr zentrales Militärkommando (CENTCOM) unterhalb des Herzlandes platziert und dazu die Insel Diego Garcia in den 1960er/70er Jahren für US-Militärzwecke ausgebaut, die einheimische Bevölkerung wurde zwangsumgesiedelt. Heute ist Diego Garcia ein zentraler Stützpunkt für US-Operationen im Indischen Ozean und im Nahen Osten – inklusive nuklearer Infrastruktur.

Es geht für jeden sichtbar um die Umsetzung einer US-dominierten Weltordnung. So wundert es nicht, dass die US-amerikanische Außenpolitik von vielen als hegemonial und auf Machterhalt und -erweiterung ausgerichtet kritisiert wird. Zahlreiche unabhängige Historiker, Politologen und Aktivisten – nicht nur in Russland oder China, sondern auch im Westen – warnen seit Jahrzehnten vor den Risiken eines solchen globalen Machtanspruchs, vor allem, wenn er auf militärischer Überlegenheit und Interventionen basiert.

Auch wenn sich viele Parallelen aufdrängen, gibt es in den Zielsetzungen von 1914 und heute einen gewaltigen Unterschied: Der Erzbischof von Newy York, Kardinal Murphy Farley, beschrieb wenige Tage vor Kriegsausbruch die Ziele:

„Der Krieg, der in Vorbereitung ist, wird ein Kampf zwischen dem internationalen Kapital und den regierenden Dynastien sein.
Das Kapital wünscht niemanden über sich zu haben, kennt keinen Gott oder Herrn und möchte alle Staaten als großes Bankgeschäft regieren lassen.
Ihr Gewinn soll zur alleinigen Richtschnur der Regierenden werden.
 „Business einzig und allein.“ (39)

Heute befindet sich die Welt im Kampf:

Unipolare Welt versus Multipolare Welt.

Warum wird über den US-Exzeptionalismus und die damit zusammenhängende US-Machtpolitik so wenig gesprochen?

Die Ursachen sind sicherlich vielfältig:

  • Mediale Dominanz: Westliche Medienlandschaften stellen die US-Strategie als „Verteidigung der Freiheit“ oder „Schutz der internationalen Ordnung“ dar.
  • Politische Bündnisse: Viele europäische Staaten sind wirtschaftlich und militärisch eng mit den USA verflochten. Die Eliten sind häufig überzeugte Transatlantiker
  • Tabuisierung: Kritik an der US-Politik wird häufig als „antiwestlich“ oder „Verschwörungstheorie“ diffamiert.

Wege aus der Gefahr

Das amerikanische Imperium ist nicht nur eine Kriegsmaschine. Es ist eine Fabrik von Mythen. Mythen, die so verführerisch, so fesselnd sind, dass sie die Komplizenschaft mit Mord in Identität verwandeln. Das von den USA erzeugte Narrativ wirkt wie eine Art psychische Eroberung, die Realität durch Ritual, Gewissen durch Kostüm ersetzt. Ein Imperium, dessen Macht nicht nur auf militärischer Vorherrschaft, sondern auch auf narrativer Vorherrschaft beruht: die Fähigkeit, Ungerechtigkeit als Ordnung, Ausbeutung als Großzügigkeit und Krieg als Sicherheit darzustellen. Slogans über Freiheit zu rezitieren und gleichzeitig den Hungertod ganzer Nationen durch Wirtschaftskriege zu begrüßen. Dies ist nicht einfach Propaganda - es ist die Konstruktion einer moralischen Architektur, in der eine Gräueltat akzeptabel ist und dann zur Komplizenschaft führt. Diese Architektur wurde erst durch den Exzeptionalismus möglich, dessen Logik

immer zum Mord führt und eine moralische Hierarchie schafft, in der das Leben anderer - diejenigen, die nicht zur "außergewöhnlichen" Gruppe gehören - weniger oder gar nicht wert sind. Der Andere wird entbehrlich. Bombardierte Dörfer werden zu "Kollateralschäden". Sanktionshungernde Kinder werden zu "strategischen Kosten". Jedes Verbrechen wird zu einem Akt der Gerechtigkeit, wenn es von den "Außergewöhnlichen" begangen wird“. (40)

Auf diese Weise erhält sich das Empire nicht durch die eiserne Faust, sondern durch den Samthandschuh der Mythen. Mythen, die stark genug sind, um ein System der globalen Grausamkeit aufrechtzuerhalten, ohne es jemals benennen oder verstehen zu müssen.

Damit werden die Bürger in Betreuer des Imperiums verwandelt – auch wenn es alles zerstört, was ihr Leben einst lebenswert gemacht hat: ihre Liebe, ihr Einfühlungsvermögen, ihre Neugier und ihre Verbindung zur Menschheit.

„Die Brillanz des Imperiums liegt darin, die Menschen glauben zu lassen, dass sie frei sind, auch wenn sie an eine Weltanschauung gebunden bleiben, die den ständigen Tod anderer erfordert, um sich selbst zu erhalten.“ (41)

Um diesen Zusammenhang zu erkennen, muss bewusst werden, dass Geschichte kein Naturgesetz ist – sie wird von Menschen gemacht.

Frieden in Freiheit durch Wahrheit muss das Leitmotiv werden.

Dazu brauchen wir:

  • Kritische Öffentlichkeit: Menschen müssen sich informieren, kritisch nachfragen und friedenspolitische Alternativen fordern
  • Internationale Bewegungen:  Friedensinitiativen, Wissenschaftler, Künstler und Aktivisten, die sich für Abrüstung, Diplomatie und eine multipolare Weltordnung einsetzen.
  • Demokratie und Dialog: Die Möglichkeit, offen zu diskutieren und unterschiedliche Perspektiven einzubringen.
„Was vor uns liegt, ist nicht nur politische Umwälzung, sondern eine existenzielle Abrechnung mit den Verbrechen des Imperiums und der Kultur, die sie ermöglichte. Die Gefahr lag nie nur in Drohnen oder Dollars, sondern in der tiefen psychischen Investition in eine Erzählung von falschem Wohlwollen. Wenn diese Geschichte bricht, bricht auch der Schleier, der das Imperium vor der Rechenschaftspflicht schützte.“ (42)

Der bevorstehende Fall eines Imperiums, dass auf Lüge aufgebaut ist und seine Gewalt als Tugend tarnte, wird die Welt erschüttern und den Boden für etwas Ehrliches und Schönes räumen. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten wird die Menschheit vielleicht die Chance bekommen, nicht auf den Ruinen einer Traumvorstellung zu bauen, sondern auf dem soliden Fundament der Wahrheit.

Noch setzt Trump auf Militarisierung und Konfrontation: Seine Administration verfolgt laut „Project 2025“ eine Politik der militärischen Überlegenheit, forciert nukleare Aufrüstung und stellt Rüstungskontrollverträge in Frage. Europäische Staaten sollen mehr Verantwortung übernehmen, während die USA sich auf eigene Interessen konzentrieren und an der Strategie von 2014 „Win in a Complex World 2020-2040" festhalten. (43)

Bei Trumps Amtsantritt hatten so manche auf eine Politik der Lügenaufdeckung und Friedensbemühungen gehofft, doch leider sieht es so aus, als führe er die klassisch imperiale US-Politik weiter. Trumps Botschaft ist nicht der verhandelte Frieden, sondern ein Diktatfrieden, der auf Unterwerfung und Macht basiert. Er setzt auf das Prinzip

„Peace through Strength“: Frieden gibt es nur, wenn die Gegenseite nachgibt oder kapituliert. Kompromisse und langwierige Verhandlungen lehnt er ab, stattdessen will er mit schnellen, machtvollen Entscheidungen Ergebnisse erzwingen. (44)

Auf diese Weise wird die Kriegsgefahr ähnlich drohend wie 1914.

Anmerkungen und Quellen

Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete "atomare Gefechtsfeld" in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Zuletzt erschienen vom ihm „Schwarzbuch EU & NATO“ (2020) sowie "Die unterschätzte Macht" (2022)

1) https://www.weltkrieg2.de/07-1914-juli-1914-ktb/

2) https://wk1.staatsarchiv.at/diplomatie-zwischen-krieg-und-frieden/allgemeine-mobilisierung-1914/

3) https://wk1.staatsarchiv.at/diplomatie-zwischen-krieg-und-frieden/allgemeine-mobilisierung-1914/

4) Sean McMeekin: "Russlands Weg in den Krieg. Der Erste Weltkrieg – Ursprung der Jahrhundertkatastrophe." Europa Verlag, Berlin/München/Wien 2014, S. 102 ff. Auch Clark: Die Schlafwandler. 2013, S. 608 ff

5) https://www.mediathek.at/onlineausstellungen/der-erste-weltkrieg/der-erste-weltkrieg-ausgabe-2/armeen-und-kriegsverlauf/die-britische-armee

6) https://de.wikipedia.org/wiki/Korea_unter_japanischer_Herrschaft

7) https://www.dhm.de/lemo/kapitel/kaiserreich/aussenpolitik/marokko-krise-1911

8) https://www.mediathek.at/onlineausstellungen/der-erste-weltkrieg/der-erste-weltkrieg-ausgabe-. /die-weltlage-1914/eine-zeit-der-krisen

9) https://www.studysmarter.de/schule/geschichte/erster-weltkrieg/balkankriege/

10) https://www.mediathek.at/onlineausstellungen/der-erste-weltkrieg/der-erste-weltkrieg-ausgabe-1/die-weltlage-1914/eine-zeit-der-krisen

11) Bülow 1930/31, S. 165

12) Gerhart Binder: Epoche der Entscheidungen, Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart-Degerloch 1960, S. 42

13) Eigene Übersetzung, Originaltext zitiert in Schmidt, 2009, S. 94 „La visite [...] a offert aux deux gouvernements [...] l`occasion de constater la parfaite communauté de leurs vues sur les divers problémes que le souci de la paix générale et de l`équilibre européen posent devant les Puissances “

14) Originaltext zitiert in Schmidt, 2009, S. 94: „Les deux gouvernements ont constaté la parfaite concordance de leurs vues et de leurs intentions pour le maintien de l´équilibre européen, notament dans la peninsule balkanique.“

15) Zitiert aus Possony, 216 La visite [...] a offert aux deux gouvernements [...] l´occasion de constater la parfaite communauté de leurs vues sur les divers probléms que le souci de la paix générale et de l´équilibre européen pose devant les puissances, notament en Orient »

16) Zit. Runderlaß Bethmann Hollwegs an Pourtalés, Schoen, Lichnowsky, 21. 7. 1914, in Deutsche Dokumente (DD) 1, 100

17) „menace à peine déguisée 177 Zit. Notes journalières, in NL Poincaré, BNF, Nafr. 16027, fol.

18) Im Original: „que si la guerre venait à éclater aucune Puissance en Europe ne pourrait sén désintéresser et a affirmé à l`Ambassadeur de Russie quíl n`avait pas laissé de doute sur la participation probable de l`Angleterre“. 178 Zit. Bienvenu-Martin an Paul Cambon, Jules Cambon, Paléologue, Barrère, Dumaine und Bapst, in: DDF 3, 11, 90. Vgl. Paul Cambon an Bienvenu-Martin, 25. 7. 1914, in DDF 3, 11, 58.

19) Im Original: “Je donne cette fermeté en exemple à Viviani, qui est, de plus en plus, troublé et inquiet et qui remue les idées le plus contradictoires” 179 Zit. Notes journalières, in NL Poincaré, BNF, Nafr. 16027, fol. 12 (Eintrag vom 27. 7. 1914).

20) Possony 1968, S. 73

21) Die Vorgeschichte des Weltkrieges, a.a.O., Band V/2, 5. 191 f.

22) Possony 1968, S. 73

23) Kurt Riezler, Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, eingel. und hg. v. Karl Dietrich Erdmann, Göttingen 1972, Eintrag v. 7. Juli 1914, S. 183. Zweibund Entente mit könnte hoffen, die dem Hebel Serbien "auseinanderzumanövrieren"

24) Andreas Kilb:  "Alle diese Staaten waren Bösewichte" vom 29. September 2013, Kilb im Gespräch mit Christopher Clark  in Aktuell Feuilleton der F.A.Z. unter http://www.faz.net/-gqz-7hsa5 [3. Januar 2014]

25) Bulgarisches Orangebuch Bd. I Nr. 218

26) Thomas Kielinger und Florian Stark: Britischer Minister gibt Deutschen die Kriegsschuld, in Die Welt vom 9. Januar 2014 unter http://www.welt.de/geschichte/article123683306/Britischer-Minister-gibt-Deutschen-die-Kriegsschuld.html

27) Deutsche Dokumente Nr. 502, 503

28) Bülow Grundlinien S. 88, vgl. Weißbuch Nr. 576/ Nr. 518.

29) Zitiert aus: Stark, Hans-Günther: In Europa gehen die Lichter aus. In: Deutsche Geschichte Nr. 71 3/2004, S. 27 f

30) "petersburg weicht – wiederholten – anfragen deutschlands aus . auch heut . es will nur gewehr bei fusz stehen" . privater telegrammverkehr zwischen kaiser und zar trotz zunehmender kriegsspannung noch nicht abbruch gekommen = korrespondenzgesellschaft

31) Bülow Grundlinien S. 88; Weißbuch Nr. 490

32) https://www.lbma.org.uk/alchemist/issue-73/the-great-financial-crisis-of-1914

33) https://wk1.staatsarchiv.at/diplomatie-zwischen-krieg-und-frieden/kriegserklaerungen-grossbritanniens-und-frankreichs-an-oesterreich-ungarn-1914/index.html

34) George F. Kennan, Die schicksalhafte Allianz. Frankreich und Russland am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Köln 1990, S. 337

35) Andreas Kilb: "Alle diese Staaten waren Bösewichte" vom 29. September 2013, Kilb im Gespräch mit Christopher Clark  in "Aktuell Feuilleton" der F.A.Z. unter http://www.faz.net/-gqz-7hsa5

36) https://www.studysmarter.de/schule/geschichte/erster-weltkrieg/julikrise/

37) https://www.friedensbildung-bw.de/aktuelle-konflikte

38) Für den US-Ökonom Jeffrey Sachs war es Großbritannien, das „diesen ganzen Schlamassel verursacht hat. 200 Jahre lang war es das mächtigste Imperium der Welt und hinterließ nichts als Konflikte, als es ging. Die Katastrophe, die sich jetzt in Gaza abspielt, ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass Großbritannien dieses Gebiet zwischen 1915 und 1917 drei verschiedenen Gruppen versprochen hat. …Dreimal haben sie Land verschenkt, das ihnen gar nicht gehörte. Wie unverfroren! Damit hat der ganze Ärger angefangen." Peacemaker (@peacemaket71) on X vom 5. Juli 20

39) Michael von Taube: Der großen Katastrophe entgegen, Leipzig 1937, S.379

40) https://sonar21.com/the-empire-of-lies-must-fall/

41) Ebda.

42) Ebda.

43) https://www.dw.com/de/friedensgutachten-2025-nato-hat-wegen-trump-keine-zukunft-v-1/a-72764106

44) https://www.focus.de/politik/ausland/trumps-groesster-triumph-in-wahrheit-hat-er-im-krieg-nur-die-pausentaste-gedrueckt_3a718942-9427-4c7b-b0a8-46c0824d22b4.html

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Dejan Lazarevic / shutterstock


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