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Die Ergebnisse der Bundestagswahl unterschieden sich wenig von den Prognosen der Meinungsforschungsinstitute im Vorfeld. Doch auch Salz und Zucker unterscheiden sich äußerlich kaum. Nur eine genauere Untersuchung lässt erkennen, ob das Gesehene unsere Erwartungen entspricht.
Ein Standpunkt von Rüdiger Rauls.
Wenig überraschend
Die CDU hat die Wahlen gewonnen. Das war von jedem erwartet worden. Etwas überraschend daran war, dass es keine Drei an vorderster Stelle gab, denn lange galt ein Ergebnis über 30 Prozent als selbstverständlich. Dass es dann mit 28,5 Prozent doch deutlich darunter lag, kann vielleicht zurückgeführt werden auf die Demonstrationen gegen Rechts, unter die nun auch die CDU fiel. Sie fiel damit in dasselbe Loch, das sie mitgeholfen hatte, der AfD zu schaufeln. Wie der Volksmund schon sagt: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Aber wer hört schon auf den Volksmund?
Dass die Parteien der ehemaligen Ampel dermaßen abschmierten, war auch vorauszusehen. Zu sehr hatten sie die Hoffnung der Menschen enttäuscht, ihre Geduld überfordert und vor allem ihre Geldbeutel gebeutelt. Angesichts solch eines weltfremden und verbohrten Verhaltens waren Hoffnungen auf Zugewinne oder gar Siege weiter nichts als die Bestätigung eigener Verblendung. Vielleicht etwas überraschend war das Scheitern der FDP an der 5-Prozent-Hürde, hauptsächlich aber für die Anhänger dieser Partei. Der Volksmund hat ihr schon lange keine Existenzberechtigung mehr gegeben.
Die geringsten Verluste unter den Ampelparteien verzeichneten die Grünen. Gegenüber der Bundestagswahl von 2021 verlor sie nur etwa eine Million Stimmen von 6,8 Mio auf 5,8 Mio, was ihr einen Anteil von 11,6 Prozent gegenüber 14,7 Prozent in 2021 sicherte. Dabei war besonders die politische Inkompetenz von Baerbock und Habeck, die größte Belastung für die Ampelregierung. Aber die Grünen sind weiterhin die Heimstatt der Werteorientierten und einer woken Elite. Von daher verfügen sie über eine relativ stabile Stammwählerschaft, die sich auf ein Selbstverständnis moralischer und auch intellektueller Überlegenheit stützt. Keine Partei verfügt über einen höheren Prozentsatz akademischer Abschlüsse.
Etwas überraschend
Trotz der katastrophalen Politik der Ampel und der herben Stimmenverluste ihrer Parteien erreichte die CDU mit 28,5 Prozent das zweitschlechteste Ergebnis bei Bundestagswahlen in ihrer Geschichte. Dabei war die Zahl der auf sie entfallenen absoluten Stimmen von 8,8 Millionen bei der Bundestagswahl von 2021 auf über 14 Millionen in diesem Jahr gestiegen. Auch die Wahlbeteiligung von 83 Prozent lag in diesem Jahr gegenüber 76,4 Prozent in 2021 wesentlich höher, wovon auch die CDU profitierte. Aber anscheinend nicht in dem Maße, wie die Meinungsforschungsinstitute lange Zeit in Aussicht gestellt hatten.
Laut Wählerwanderungsschema der Tagesschau (1) kam der Stimmenzuwachs der CDU in erster Linie aus den Verlusten der Ampelparteien SPD (1,7 Mio) und FDP (1,35 Mio). Von den Grünen kam nur eine halbe Million. Dass die bisherigen Nichtwähler nur 900.000 Stimmen beisteuerten, spricht nicht dafür, dass die CDU durch Inhalte überzeugen konnte. Denn gleichzeitig gingen ihr eine Million Wähler von der Fahne zur AfD. Die CDU nährte sich in erster Linie aus den Verlusten der Ampel.
Im Gegensatz dazu konnte die AfD von allen Parteien Stimmen abziehen. Sie verlor nur an das BSW einige Zehntausend. Der größte Aktivposten der AfD waren die bisherigen Nichtwähler. Von ihnen erhielt die Partei 1,8 Millionen Stimmen. Das bedeutet, dass sie neue Wählergruppen durch ihre Ansichten und Lösungsvorschläge für die gesellschaftlichen Probleme gewinnen konnte. Dementsprechend legte die Zahl der absoluten Stimmen bei der AfD erheblich zu von 4,8 Mio im Jahre 2021 auf 10,3 Mio bei der diesjährigen Wahl. Das entspricht einem Zuwachs von mehr als 100% an absoluten Stimmen und einem Anteil von 10,4 Prozent in 2021 auf derzeit 20,8 Prozent.
Überraschend
Die eigentlichen Überraschungen stellten die Ergebnisse des BSW und der Partei Die Linke dar. Nach den überwältigenden Ergebnisse der Europawahl und den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt kam das Scheitern des BSW an der 5-Prozent-Hürde unerwartet. Sie ereilte damit das Schicksal, das Wagenknecht ihrer Partei selbst vorausgesagt hatte, dass es nämlich keine weitere Partei brauche, die Politik im Stile der Altparteien mache.
Genau das ist nun eingetreten nach den politischen Winkelzügen des BSW in den ostdeutschen Bundesländern. Manche Entscheidungen waren für die Wähler des Bündnisses nicht mehr nachvollziehbar. Sehr oft hatten sie den Geruch von Wunsch nach Teilhabe an der Macht um jeden Preis. Die politischen Konturen des BSW wurden immer unschärfer und die Frage immer lauter:
„Wofür steht denn das BSW noch?“
Wagenknechts politische Hilflosigkeit wurde von Mal zu Mal deutlicher. Getragen von einer starken Welle an Unterstützung und Hoffnungen in der Bevölkerung, verstand sie es nicht, diese Begeisterung in politisches Handeln umzusetzen. Das fand für sie immer öfter in den Hinterzimmern der Macht statt anstelle öffentlicher Auftritte und der damit verbundenen Mobilisierung von Anhängern. Parlamentssitze sind kein Ersatz für politisches Handeln, und der Krieg in der Ukraine lässt sich nicht mit Präambeln in Koalitionsverträgen beenden. Und dann stahl ihr Donald Trump die Show.
Sie hat die Ankündigung nie wahr gemacht, dass die Berliner Großversammlung vom 25.2.2023 mit Alice Schwarzer zusammen nicht die letzte Kundgebung gegen den Krieg sein werde. Es war die letzte. Die mit Alice Schwarzer ins Leben gerufene Petition gegen den Krieg hatte etwa eine Million Unterschriften und damit auch potentielle Unterstützer erhalten. Wagenknecht hat nie versucht, diese Unterstützer zu einer politischen Kraft zu formen. Sie hat die Menschen sich selbst überlassen, ohne ihnen eine Möglichkeit der Organisierung zu hinterlassen wie seinerzeit bei „aufstehen“ auch.
Als sich das Schicksal des BSW abzeichnete, den Einzug ins Parlament nicht mehr zu schaffen, ergriff sie einen Strohhalm: Sie verband ihr politisches Schicksal mit dem Einzug ihrer Partei in dieses Parlament. Das ist einerseits ein Verzweiflungsakt, andererseits aber auch Ausdruck eines Denkens, das sich politisches Handeln nur im Rahmen der bestehenden Machtstrukturen vorstellen kann. Das Einschwenken auf AfD-nahe Positionen in der Migrationsfrage half dem BSW nicht mehr, beschleunigte vielmehr den Niedergang. Denn hiervon profitierte die Linkspartei.
Sie ist die eigentliche Überraschung. Sie schaffte mit 8,8 Prozent locker die Latte, die für den Einzug ins Parlament bei 5 Prozent aufgelegt ist. Damit hatte niemand mehr gerechnet. Die Linkspartei hatte bei bei den 18- bis 24 Jährigen mit 26 Prozent den größten Zuwachs von allen Parteien. Dabei stützte sie sich in erster Linie auf solche Jugendlichen, die die Migrationspolitik der anderen Parteien ablehnten. Das zeigte sich besonders bei der Wanderung von 700.000 Stimmen von den Grünen zur Linkspartei, seitdem auch die Grünen ein schärferes Vorgehen in diesem Bereich unterstützen.
Aber auch beim Thema „Soziale Gerechtigkeit“ wird der Linkspartei nach CDU und SPD die meiste Kompetenz zugewiesen – noch vor der AfD (2). Nachdem sich alle anderen Parteien auf das Thema Migration gestürzt hatten und hier nach den Anschlägen in Magdeburg und München hatten punkten wollen, hatte die Linkspartei geschickt diese Lücke zu nutzen gewusst.
Nicht so Überraschendes
Dass sich bei der Linkspartei die Gegner der Migrationspolitik und die Vertreter der sozialen Fragen sammeln, ist ungewöhnlich. Diese beiden Themenbereiche schließen nicht unbedingt aus, sehr häufig aber wird gerade hier von anderen Parteien und Politikern ein Gegensatz zu den Interessen der deutschen Bevölkerung konstruiert. Es wird Unfrieden gesät zwischen Deutschen und Ausländern mit Behauptungen, dass letztere nur in die deutschen Sozialsysteme einwandern wollen. Unbestritten ist, dass Flüchtlinge die Sozialsysteme belasten, wodurch sich viele Einheimische benachteiligt fühlen.
Es wird sich also auch für die Linkspartei die Frage stellen, wie sie diesen Konflikt in Bezug auf ihre Wählerschaft lösen kann, und sie muss das dann argumentativ so vortragen können, dass es nachvollziehbar ist. Bekenntnisse, gute Absichten und scheinbar klare Vorstellungen helfen da nicht weiter. Sie müssen auch Fundamente haben, die der Wirklichkeit standhalten. Daran sind bisher die meisten Parteien gescheitert, die es gut meinten und glaubten, gute Vorsätze reichten aus, um Politik machen zu können. Entscheidend ist die Klarheit des Weltbildes, und das sollte auch mit der Welt in Einklang sein.
Denn das gerade ist der Schwachpunkt der Parteien des parlamentarischen Systems. Sie machen Politik auf der Basis von Vorstellungen, die sie sich ausdenken und von denen sie annehmen, dass sie den Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen. Wer aber ist das Volk? Ist das ein Klumpen Knete, den man zu dem formen kann, was man gerne als Ergebnis sehen möchte? Wie stellt man fest, was das Volk will?
In der Regel läuft das so ab: Die Parteien haben eine Vorstellung von dem, was dem Volk unter den Nägeln brennt. Aus diesen Vorstellungen formen sie Parolen, drucken Plakate, machen Werbespots und lassen die Menschen alle vier Jahre über diese Parolen abstimmen. Wer am Ende die meisten Stimmen bekam, gewinnt dann den Eindruck, die richtigen Parolen gehabt zu haben und damit auch die richtigen Vorstellungen von dem, was das Volk will. Das genügte den Parteien. Sie glauben dann zu wissen, was das Volk will, denn es hatte ja gewählt, was man ihm vorgeschlagen hatte. Dann macht man weiter wie bisher.
Aber das Volk wählte nicht, was es wollte, sondern was man ihm vorsetzte. Das waren die Menüs der Parteien. Die einen boten Schnitzel, die anderen Veganes und wieder andere Dünnbier. Daraus wurde dann Politik für alle gemacht. Das konnte dann veganes Dünnbier sein, was eigentlich keiner gewollt hatte, und das Volk beginnt zu murren. Die Parteien machen Vorschläge auf der Basis ihrer Vorstellungen. Aber was ist die Grundlage dieser Vorstellungen?
„Die Parteien der Ampel hatten ihre Chance, das Land nach ihren Vorstellungen zu gestalten, sind aber krachend gescheitert“ (3).
Wie kann man scheitern, wenn man die Macht hat? Das geht nur, wenn man die Realität falsch einschätzt und die Warnungen, die von der Wirklichkeit kommen, nicht wahrhaben will. Wenn man die Wirklichkeit nach den eigenen Wunschvorstellungen hinbiegen will. Die Parteien und Politiker fragen nicht das Volk, was es will. Sie versuchen, das Volk von dem zu überzeugen, was sie für richtig halten.
Dann stellen sie immer wieder vor den Wahlen ihre Infotische auf und suchen den Kontakt zum Bürger, den sie vier Jahre lang vermieden haben. Kommt dann der Bürger und sagt ihnen, was er von der Politik hält, dann kommen picklige Grünschnäbel und erklären dem Bürger, dass er das falsch sieht. Später wundern sich die Politiker, wenn der Bürger sich politikverdrossen abwendet. Wer Politik machen will im Interesse der Bürger, muss sich zuerst überlegen, welchen Bürger er gewinnen will. Alle kann man nicht gewinnen.
Die Linkspartei wirft die soziale Frage auf. Die soziale Frage ist aber nicht woke. Über kurz oder lang wird sie sich entscheiden müssen, mit wem sie Politik machen will, mit der großen Mehrheit, für die die soziale Frage wichtig ist, oder für woke Minderheiten. Das muss sich nicht ausschließen, aber es verlangt Klarheiten. Im Moment geht das noch, weil die anderen Parteien der Linkspartei das Feld der sozialen Gerechtigkeit unbedacht und vor allem kampflos überlassen haben.
Wenn sie aber zu ihren Wurzeln zurückfinden will, wird sie vor allem zuhören müssen. Was wollen diese Menschen wirklich, für die die soziale Frage wichtig ist? Will die Linkspartei hören, was diesen Menschen wichtig ist, oder will sie nur hören, dass diesen das wichtig ist, was die Linkspartei selbst für wichtig hält? So machen es jedenfalls die anderen. Die Bedürfnisse richtig zu deuten, braucht es vor allem politische Klarheit und eine Weltanschauung auf festem Grund.
Quellen und Anmerkungen
(1) https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/analyse-wanderung.shtml
(2) https://www.zdf.de/nachrichten/thema/bundestagswahl-120.html
(3) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.2.2025: Sieg mit Warnschuss
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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Bildquelle: travelview / shutterstock
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