Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.
Vor einigen Tagen war ich wieder einmal in Berlin. Die Stadt ist voller Erinnerungen. Eine taucht immer auf: die Begegnung mit Thomas Brasch. Es war im Jahre 2001. Ich traf ihn im Garten des Restaurants Ganymed am Schiffbauerdamm, wenige Schritte vom Berliner Ensemble entfernt. Zu dieser Zeit hatte der deutsche Literaturbetrieb seinen ehemaligen Shootingstar längst vergessen. Dabei war der streitbare Dissident nach seiner Aussiedlung aus der DDR (1976) vom westdeutschen Feuilleton geradezu verhätschelt worden. Sein Prosaband „Vor den Vätern sterben die Söhne“ stürmte die Bestsellerlisten, seine Theaterstücke „Lovely Rita“ und „Lieber Georg“ erreichten die großen Bühnen und mit seinen Filmen „Engel aus Eisen“ und „Der Passagier – Welcome to Germany“ vertrat er die alte Bundesrepublik bei den Filmfestspielen in Cannes. Thomas Brasch, so gestand er mir, hatte plötzlich richtig viel Geld.
Nach der Wende wurde es still um den Hochbegabten. Brasch kümmerte sich nicht länger um die Erfordernisse des Kulturbetriebes. Er war von einer Idee besessen, die er nicht mehr zu steuern vermochte, er hatte sich in eine „never ending story“ verstrickt. Bevor er mir davon erzählte, bat er um eine Zigarette, „weil ich mit dem Rauchen aufgehört habe“. Die Zigarette glitt unangezündet durch seine Finger, landete kurz zwischen den Lippen, um anschließend wieder virtuos in der Hand bewegt zu werden, als wollte er dem Nikotindämon zeigen, wer hier Herr im Hause ist. Ein Spatz hüpfte auf den Tisch und schaute den Mann, der aussah, als beginne der Tag für ihn wie selbstverständlich mit einer Schürfwunde, mit schräg gestelltem Kopf an. „Wir kennen uns“, sagte Brasch, „ich kenne alle Spatzen hier. Dieser hockt die meiste Zeit bei mir auf dem Fensterbrett, ich wohn ja um die Ecke. Wir reden aber nur über Brunke“, fügte er unvermittelt an, „alles andere interessiert mich nicht“.
Die Beziehung, die Thomas Brasch zu seinem Romanhelden Karl Brunke seit Jahren über nunmehr 14 000 Seiten pflegte, war das Ergebnis eines folgenschweren Fehltritts.
„Ich habe 1970 eine Freundin aus der Stadtbibliothek abholen wollen. Es hatte sehr stark geregnet, ich bin auf dem Hof in eine Pfütze getreten, mein Schuh war voller Wasser. Vor mir entdeckte ich eine Plane, unter der alte Zeitschriftenbände zum Auslagern gestapelt waren. Ich griff mir ein Exemplar, es waren die ´Braunschweiger Neuesten Nachrichten´ von 1906. In einer Gerichtsreportage las ich dann die folgenden Sätze: Er verließ das Haus und lief in Richtung Buchhorst. Dann besann er sich und lief wieder Richtung Braunschweig. Im Stadtpark geriet er in eine schlammige Gegend, sodass sein Schuh mit Wasser volllief. In diesem Augenblick meinte er, das Richtigste wäre, sich auf kürzestem Wege zur Polizeistation zu begeben und seine Tat zu gestehen“.
Es war nicht möglich, Brasch zu einer kontinuierlichen Schilderung seiner Monsterarbeit zu verleiten. Die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, war zu groß, sie traf ihn wie ein Meteoritenschwarm, den es demütig auszuhalten galt. Er hatte bis zu unserem Treffen mit 282 Menschen über den Fall gesprochen und ihre Vermutungen notiert. Er hatte Prostituierte bezahlt, um Brunke aus deren Sicht kommentiert zu sehen. Er hatte seinem Helden 640 Gedichte geschrieben, die dieser korrigiert zurück schickte, wie er gequält lächelnd anfügte. Er hatte 32 Aussagen von Brunke gefunden, zum Beispiel diese:
„Ich verstehe das Aufhebens nicht, das man hier von mir veranstaltet. Ich bin doch nichts anderes als der misslungene Held eines Hintertreppenromans!“
Thomas Brasch schaute mich an, als schulde er mir eine Erklärung.
„In einer meiner Fassungen heißt es: Was bist du anderes, Brunke, als einer der die Hintertreppe hinunterläuft und alle sind hinter dir her und stürzen sich über dich, sodass von dir nichts mehr sichtbar ist. Und du wolltest doch nur übern die Hintertreppe ins Freie…“
Als wollte er die 14.000 Seiten, die ihm der Mädchenmörder Brunke bisher abverlangt hatte, rechtfertigen, zitierte er einen Satz von Robert Musil:
„Prosa ist keine Kunstform, sondern eine Existenzform. Wenn man sich in diesem Wald aus Wörtern verläuft, wenn man das wirklich zulässt, und ich habe es zugelassen, bricht man mit der Zeit mit allem: mit seinen Beziehungen zum Beruf, mit der Stadt, mit den Frauen und vielem mehr. Das wusste ich am Anfang nicht.“
Der Spatz, der für gewöhnlich auf seinem Fensterbrett saß, stieß mit dem Schnabel gegen seinen kleinen Finger, als wollte er ihn an etwas erinnern. „Ich habe mich an dem Phänomen Brunke so richtig müde gedacht und geschrieben“, sagte Brasch, und erklärte die Arbeit an Mädchenmörder Brunke in diesem Moment für beendet. Wenige Tage später erfuhr ich, dass er gestorben war. Alles, was ich zu seinem Tode fand, war eine vierzeilige Meldung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
„Brunke ist ein Buch, in dem man rumblättern muss“, hatte Thomas Brasch mir in unserem Gespräch verraten. „Nichts, was man von vorne bis hinten lesen kann. Es ist wie eine Kugel, die kein Anfang und kein Ende hat“. Und mit der man ein Genie wie Thomas Brasch zum Schweigen bringen konnte …
PS: Der Suhrkamp Verlag, der Brasch lange durch Vorschüsse finanziert hatte, veröffentlichte am 19. März 2001 gegen den Willen des Autors ein extrem gekürztes nur 99 Seiten umfassendes Taschenbuch unter dem Titel „Mädchenmörder Brunke“. Thomas Brasch starb am 3. November desselben Jahres.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Anastasiia Hevko / shutterstock
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