Ein Meinungsbeitrag von Stephan Ossenkopp.
In Neu-Delhi brennt die Hütte. Kaum ein anderes Thema beschäftigt Indien derzeit so sehr wie der „Dolchstoß” des US-Präsidenten gegen den vermeintlich größten amerikanischen Verbündeten in Asien. Konkret geht es um die Ende Juli beschlossenen zusätzlichen Importzölle in Höhe von 25 Prozent für indische Waren, die in die USA exportiert werden, sowie um die am 6. August verfügten zusätzlichen Strafzölle in Höhe von ebenfalls 25 Prozent, die indischen Exporteuren ab dem 28. August auferlegt werden sollen, als Reaktion darauf, dass Indien den Import russischer Ölprodukte nicht gestoppt hat. Der Vorwurf lautet, der Kauf russischen Öls befeuere Putins Kriegsmaschine.
Eine schlagartige Zollerhöhung um 50 Prozent ist für ein Land, das einen erheblichen Handelsüberschuss mit den USA unterhält, ein massiver Schlag. Indische Kommentatoren sprechen von einem „geopolitischen Erdbeben“ und fragen, ob Amerika als langfristiger Partner noch vertrauenswürdig sei. Trumps Zollkrieg hat die tektonischen Platten der strategischen Allianzen derart verschoben, dass bereits offen über eine neue Achse Russland-Indien-China spekuliert wird, die diesem Treiben entgegenwirken soll. Auch eine koordinierte Reaktion der BRICS-Staaten wurde bereits angeregt. Es scheint ganz so, als habe Trump das Gegenteil dessen erreicht, was er im Sinn hatte: nämlich mehr Kohäsion zwischen den sonst oft heterogenen Kräften in Eurasien und dem Globalen Süden.
Anstatt einzuknicken, wehrt sich Neu-Delhi gegen das, was es als ungerechtfertigten Angriff auf seine Souveränität betrachtet. Indien argumentiert, es habe auf Öl aus Russland ausweichen müssen, als Europa aufgrund seiner Sanktionen gegen russisches Öl auf andere Anbieter auf dem Weltmarkt zurückgriff. Um 1,5 Milliarden Inder mit Energie zu versorgen, werde jede Option genutzt. Russland bot Indien stabile Verträge zu moderaten Preisen an. Indien habe aus nationalem Interesse und aufgrund von Marktangeboten gehandelt. Dem indischen Außenministerium fehlte es auch nicht an Retourkutschen. Die Europäische Union hat schließlich mit Russland Waren und Dienstleistungen im Wert von fast 85 Milliarden Euro gehandelt, wesentlich mehr als Indien. Der Einkauf von russischem Flüssiggas durch Europa hat im Jahr 2023 sogar zugenommen und belief sich auf 16,5 Millionen Tonnen. Europa kaufe auch Dünger, Erze, Eisen, Stahl, chemische Produkte sowie Produkte aus dem Maschinen- und Verkehrssektor. Die USA bezogen zudem Uranhexafluorid für ihre Kernreaktoren und Palladium für ihre Elektroautos aus Russland. In den Kommentarspalten indischer Zeitungen sind die Worte „Heuchelei” und „Verrat” mittlerweile gängiges Vokabular. Sinngemäß heißt es dort: Der Westen, der stets auf seine Regeln pocht, hält sie selbst nicht ein.
Es herrscht bereits reges Treiben zwischen Russland, Indien und China, um gemeinsam Gegenmaßnahmen zu koordinieren und sich gegenseitig Solidarität zu bekunden. So telefonierte Chinas Staatspräsident Xi Jinping am Freitag, dem 8. August, mit dem russischen Präsidenten Putin. Dabei wurde nicht nur die gemeinsame Position im Ukraine-Konflikt abgestimmt, sondern auch das Versprechen abgegeben, das kommende Gipfeltreffen der Shanghai Cooperation Organization (SCO) vom 31. August bis zum 1. September in der chinesischen Hafenmetropole Tianjin zu einem „Gipfeltreffen der Freundschaft, Einheit und erfolgreichen Ergebnisse“ zu machen. In Tianjin werden neben den Präsidenten Russlands und Chinas auch die Staatschefs Indiens, Pakistans, Irans und der zentralasiatischen Staaten erwartet. Die SCO ist das größte Sicherheits- und Wirtschaftsbündnis der Welt.
Indiens Premierminister Narendra Modi telefonierte ebenfalls mit „meinem Freund” Putin, der ihn über die Ergebnisse des Treffens mit dem US-Sondergesandten Steve Witkoff informierte. Wer glaubte, Modi würde angesichts des Drucks aus Washington von Moskau abrücken, hat sich mächtig verkalkuliert. Stattdessen erklärte Modi:
„Wir haben auch die Fortschritte bei unserer bilateralen Agenda evaluiert und unser Engagement für eine weitere Vertiefung der besonderen und privilegierten strategischen Partnerschaft zwischen Indien und Russland bekräftigt.“
Modi lud Putin auch demonstrativ zum indisch-russischen Jahresgipfel ein.
Bei den Produzenten in Indien, beispielsweise in den bedeutenden Textilfabriken, die Waren im Wert von elf Milliarden Dollar an amerikanische Kunden exportieren, schrillen die Telefone. Wo immer möglich, soll die Produktion in andere Länder verlagert oder umgeschichtet werden. Die 50-prozentigen Zölle übertreffen nun diejenigen von Bangladesch und Vietnam (jeweils „nur“ 20 Prozent). Zum anderen will man die heimische Kundschaft in Indien stärker erschließen und so den Außenhandel mehr und mehr durch Binnenkonsum ersetzen.
24 Stunden nach Trumps Ankündigung berichtete die Tageszeitung Hindustan Times, die indische Regierung sei bereits mit Produzenten und Exporteuren vor Ort im Gespräch. Die Notfallstrategie sieht vor, Exporte zu stützen, Handelsbeziehungen umzulenken und die heimische Nachfrage anzukurbeln, um zugleich bisher importierte Güter eher im eigenen Land herzustellen. Zwar wird die unmittelbare Disruption als unvermeidbar angesehen, jedoch bieten „Indiens großer Binnenmarkt und seine wachsende Mittelschicht einen Hebel für eine langfristige wirtschaftliche Restrukturierung, um letztendlich Anfälligkeiten für den Druck beim Außenhandel zu verringern“. Der Sprecher des Außenministeriums sprach von „unfairen, ungerechtfertigten und unverständlichen“ Praktiken seitens der USA. Der indische Handelsminister soll bei einer Veranstaltung in Neu-Delhi erklärt haben, Indien werde sich „niemals vor irgendjemandem verbeugen”.
Die Stimmung in Neu-Delhi hat sich stark gewandelt, wenngleich einige in Indien noch Verhandlungsspielraum sehen, da für den 25. August eine US-Delegation erwartet wird. Die Amerikaner wollen zweifellos einen größeren Anteil an den Energielieferungen nach Indien für sich gewinnen. Es geht immerhin um eine Summe von 186 Milliarden Dollar, die Indien jährlich für Energieimporte ausgeben muss. Indien bezieht Energie aus 28 Ländern weltweit. Der Anteil des russischen Öls ist dabei in den Jahren 2021/22 von 2,7 Prozent auf 26 Prozent in den Jahren 2024/25 hochgeschossen. Das lag vor allem an den günstigeren Einkaufspreisen, die sich in diesem Jahr allerdings verringert haben. Dadurch ist der Anteil der Energielieferungen aus den USA jüngst bereits angestiegen.
Ob Trumps Maßnahmen diesen Prozess künstlich beschleunigen sollten, ist anzunehmen. Doch die Brechstangenmethode hat ihr Gegenteil bewirkt. Die ebenfalls geforderte Öffnung des indischen Marktes für amerikanische Landwirtschaftsprodukte wird von Indien kategorisch ausgeschlossen, da das Land von sehr kleinen und kooperativen Höfen lebt – einschließlich der Milchbauern und kleinen Fischer. Deren Schutz aufzugeben, war für Neu Delhi stets ein absolutes Tabu. Indien möchte nicht riskieren, dass der eigene Landwirtschaftssektor von gigantischen US-Agrofirmen aufgekauft und der Profitmaximierung untergeordnet wird. Die indische Regierung hat bereits jetzt Probleme, die Preise für Nahrungsmittel unter Kontrolle zu halten. Laut Berichten des US-Landwirtschaftsministeriums ist Indien eines der Länder, die am stärksten von Ernährungsunsicherheit betroffen sind. Hier ist also eine deutliche rote Linie.
Auch in Brasilien stehen die Zeichen auf Sturm, nachdem Washington 50-prozentige Strafzölle gegenüber der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas verhängte. Dabei geht es zwar nicht um den Kauf russischen Öls, sondern um die politische Einmischung der USA zugunsten des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Bolsonaro, der wegen eines Putschvorwurfs vor Gericht steht – der Schaden ist jedoch ähnlich hoch. Am 8. August telefonierte der amtierende brasilianische Präsident Lula da Silva mit Modi. Thema war eine Ausweitung des bilateralen Handels und des Abkommens zwischen Indien und Mercosur, dem südamerikanischen Binnenmarkt mit 260 Millionen Menschen. Modi postete auf X:
„Eine starke, auf die Menschen zugeschnittene Partnerschaft zwischen den Nationen des Globalen Südens nützt allen.“
Präsident Lula sieht sich angesichts des um sich greifenden Unilateralismus der USA beim Welthandel als Wortführer des Multilateralismus und der Interessen des Globalen Südens. Er rief sowohl Indien als auch China dazu auf, eine gemeinsame Antwort auf die amerikanischen Zölle zu formulieren. Zudem will Lula eine Diskussion innerhalb der BRICS-Gruppe initiieren. Dazu will er ebenfalls mit dem chinesischen Präsidenten Xi telefonieren. Schließlich sehen sich die zehn BRICS-Staaten und ihre Partner kollektiv mit angedrohten Zöllen aus Washington konfrontiert.
Plötzlich stellen viele die Frage, ob Trump mit seiner Politik nicht Partner verprellt und die Solidarisierung seiner vermeintlichen Gegner im Zollstreit maßgeblich vorangetrieben hat. „Wie Trump Indien, China und Russland gegen Amerika vereint hat“, schrieb India Today vor wenigen Tagen. Der Kommentar endet mit den Worten:
„Das ist keine Verschwörung, sondern die Konsequenz. Amerika könnte auf eine Welt, in der dieselben Mächte, die es spalten wollte, nun zusammenarbeiten, nicht vorbereitet sein.“
Ist es auf Dauer möglich, einen Handelskrieg mit fast 100 Ländern, die Trump mit Zöllen belegt hat, aufrechtzuerhalten? Auch die „New York Times“ stellt fest, dass sich in den USA bereits die Preise erhöhen und sich der Arbeitsmarkt eintrübt. Jamieson Greer, Trumps Handelsrepräsentant, ist allerdings der Meinung, dass der Präsident auf eigene Faust erreicht habe, was er in internationalen Gremien nie erreicht hätte: mehr Marktzugang für US-Produkte und mehr Jobs in Amerika. Trumps Handelsberater Peter Navarro sprach von einer „fundamentalen Restrukturierung des internationalen Handelsumfelds“ und sieht Trump bereits als Empfänger des Nobelpreises für Wirtschaft.
Doch selbst wenn sich die USA durch kurzfristige Effekte wieder etwas größer fühlen, ist das eigentliche Ergebnis dieser „Umstrukturierung“, dass die globale Mehrheit mehr und mehr einen Bogen um die USA machen wird. Profitieren werden andere, wie China, die BRICS-Staaten und der Globale Süden insgesamt. So wirbt Beijing bereits damit, eine Alternative für den amerikanischen Markt zu sein, und schafft systematisch Zölle für Entwicklungsländer ab. Am Ende dieses Umbauprozesses könnten die USA womöglich kleiner dastehen als ursprünglich geplant.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bild: Narendra Modi (Premierminister Indiens), Wladimir Putin (Präsident Russlands) und Xi Jinping (Staatsoberhaupt Chinas)
Bildquelle: YashSD / shutterstock
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