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Technik ohne Seele – Warum Fortschritt kein Fortschritt ist | Von Günther Burbach

Technik ohne Seele – Warum Fortschritt kein Fortschritt ist | Von Günther Burbach

Ein Meinungsbeitrag von Günther Burbach.

Der Fortschritt, den keiner wollte

Es passiert still, fast unbemerkt. Man wacht auf, und plötzlich braucht man für jede Kleinigkeit ein Smartphone, eine App, ein Passwort, eine Bestätigung, noch ein Passwort, eine TAN, eine Gesichtserkennung, eine Einverständniserklärung zur Gesichtserkennung und am Ende funktioniert es trotzdem nicht.

Willkommen im digitalen Deutschland 2025: dem Land, das angeblich „entbürokratisiert“ werden soll, während der Bürger immer mehr zum eigenen Verwaltungsgehilfen wird.
Alles, was einst als Dienstleistung des Staates galt, Formulare, Überweisungen, Behördengänge, wurde Stück für Stück ausgelagert. An uns. „Selbstservice“ nennt man das. In Wahrheit: Verlagerung staatlicher Arbeit auf den Steuerzahler.

Wir füllen selbst die Formulare aus, scannen unsere Ausweise, fotografieren unsere Gesichter, lesen Datenschutzerklärungen, bestätigen AGBs, klicken Captchas, und wenn etwas nicht funktioniert, heißt es: „Bitte wenden Sie sich an den Support.“

Wir haben das nicht gewählt. Niemand hat gefragt, ob wir das überhaupt wollen. Es wurde einfach entschieden. Unter dem schönen Vorwand: Digitalisierung ist Fortschritt.

Seit Jahren erzählen uns Politiker von „Bürokratieabbau“ und „Effizienz“. Das Ergebnis: noch mehr Regeln, noch mehr Passwörter, noch mehr IT-Abteilungen. Der Staat, der uns angeblich entlasten wollte, hat sich vervielfacht, digital und analog.

Man sprach von Entlastung, aber tatsächlich wurde nur der Kanal gewechselt: Statt Papierstau im Amt gibt es jetzt Datenstau in der Cloud. Statt Wartezimmer gibt es Warteschleifen. Statt Beamten, die etwas stempeln, gibt es Systeme, die etwas ablehnen.

Bürokratie verschwindet nicht. Sie mutiert. Sie wird schneller, undurchsichtiger, schwerer zu greifen. Früher wusste man wenigstens, wo man sich beschweren konnte. Heute heißt es: „Systemfehler. Bitte versuchen Sie es später erneut.“ Und der Bürger? Der macht mit. Weil er glaubt, dass Fortschritt unausweichlich sei.

Fortschritt als Zwang – Die neue Unfreiheit

Das größte Missverständnis unserer Zeit: Digitalisierung sei eine Wahl. Ist sie nicht. Sie ist Zwang. Man bekommt heute kein Bahnticket, keine Steuererklärung, keine Banküberweisung, kein Arztrezept, keine Kinderbetreuung mehr ohne App. Wer kein Smartphone hat, steht am Rand der Gesellschaft, so wie früher jemand, der nicht lesen konnte. Das nennt man „digitale Teilhabe“. Es ist in Wahrheit digitale Erpressung.

Wir reden über Inklusion, aber schaffen täglich neue Ausschlüsse. Alte Menschen, Arme, technikferne Bürger, sie alle werden zu Bittstellern in einer Welt, die vorgibt, für alle offen zu sein. Die App-Gesellschaft ist die neue Klassengesellschaft. Nur dass man diesmal kein Geld braucht, um dazuzugehören, sondern Geduld, Strom und Nerven.

Das Smartphone ist längst nicht mehr Werkzeug, sondern Schlüssel, Ausweis, Portemonnaie, Gesundheitskarte, Fahrschein, Steuercode und Beweismittel in einem. Verliert man es, verliert man seine Identität.

Und mit der Einführung der digitalen ID-Wallet, der Gesundheits-Cloud, des digitalen Führerscheins und des EU-Brussels-ID-Projekts (EDIP) ist klar: Der nächste Schritt ist nicht der Fortschritt, es ist die Totalkonsolidierung unserer Existenz in einem Gerät.

Wer sein Handy verliert, ist heute fast handlungsunfähig. Wer kein Netz hat, ist unsichtbar.
Wer sich verweigert, gilt als rückständig. Und genau das ist das perfide System dahinter: Abhängigkeit als Modernität. Ein Volk, das glaubt, es sei modern, weil es ständig erreichbar ist, merkt gar nicht, wie es sich selbst in die totale Kontrolle einschließt.

Man kann es niemandem verübeln: Niemand will stundenlang im Bürgeramt sitzen.
Also laden wir uns Apps herunter. Wir machen Fotos von unseren Pässen. Wir tippen Codes. Und irgendwann glauben wir, das sei Fortschritt. Doch Bequemlichkeit ist der trojanische Gaul des 21. Jahrhunderts. Sie wirkt wie ein Geschenk, spart Zeit, Nerven, Wege. Aber in Wirklichkeit ist sie die Eintrittskarte in eine Welt, die uns erzieht, statt uns zu dienen.

Jede App, die wir nutzen, ersetzt ein Stück Eigenständigkeit. Wir lagern aus, was uns mühsam erscheint und geben dafür Kontrolle ab. Nicht nur über unsere Daten, sondern über unser Denken. Der Staat liebt das. Denn Bequemlichkeit ist die leise Schwester der Obrigkeit. Wer bequem lebt, stellt keine Fragen.

Der Beamtenstaat 2.0

Früher sagte man: Der Staat ist zu groß, zu träge, zu teuer. Heute ist er digital und trotzdem zu groß, zu träge, zu teuer. Der Unterschied: Früher war man wenigstens persönlich genervt. Heute ärgert man sich anonym, über Chatbots, Portale und automatische Rückmeldungen.

Und während Bürger und Unternehmen alles digitalisieren sollen, entstehen in Ministerien ganze Abteilungen für „digitale Transformation“, „KI-Koordination“ und „Open Government Data“. Es ist ein Wachstum ohne Mehrwert, ein Bürokratie-Tumor mit WLAN.

Jede Behörde hat jetzt ihren eigenen IT-Beauftragten, jedes Ministerium sein eigenes Digital-Labor. Doch am Ende können sie nicht einmal miteinander reden, weil jeder ein anderes System nutzt. Das ist kein Fortschritt, das ist nur teurer Stillstand in neuer Verpackung.

Die moderne Politik glaubt an Daten so wie frühere Generationen an Götter. Sie vertraut darauf, dass man aus Zahlen Wahrheit, aus Algorithmen Moral und aus Plattformen Demokratie gewinnen kann. Aber Daten sind keine Weisheit. Sie sind Rohstoff und wer sie besitzt, besitzt Macht.

Wenn also von „digitaler Transformation“ die Rede ist, geht es nicht um Komfort.
Es geht um Kontrolle, um eine neue Architektur der Gesellschaft. Wer den Zugang zu Datenströmen kontrolliert, kontrolliert die Wirklichkeit selbst. Das ist die wahre Dimension dieser Revolution: Nicht, dass wir effizienter werden, sondern berechenbarer.

Und wem gehört dieser Fortschritt eigentlich? Nicht uns.

  1. Die Infrastruktur: amerikanisch.
  2. Die Software: amerikanisch.
  3. Die Cloud: amerikanisch.
  4. Die KI-Modelle: amerikanisch.
  5. Die Daten: auf Servern außerhalb unserer Kontrolle.

Wir sind Konsumenten in einem System, das vorgibt, uns zu dienen, während es uns abhängig macht. Und weil niemand das Wort „Kolonie“ mag, nennt man es lieber „Digitale Partnerschaft“. Der Preis dafür ist unsere Souveränität. Wir verlieren nicht nur Arbeitsplätze oder Industrie, wir verlieren die Fähigkeit, überhaupt noch unabhängig zu denken, zu entscheiden, zu gestalten.

Was wäre, wenn wir langsamer wären?

Was, wenn wir einfach sagen: Nein, danke. Wir müssen nicht alles sofort haben. Nicht jede KI, nicht jedes Update, nicht jede App.

Langsamkeit ist keine Schwäche, sie ist Widerstand. Ein Staat, der Qualität vor Geschwindigkeit stellt, schützt seine Bürger. Ein Land, das seine Infrastruktur selbst betreibt, bleibt frei. Warum also rennen wir einem Fortschritt hinterher, den wir nicht verstehen und der uns nicht gehört? Vielleicht, weil wir Angst haben, abgehängt zu werden, ohne zu merken, dass wir längst geführt werden.

Souveränität ist nicht das Gegenteil von Digitalisierung. Sie ist ihre Bedingung. Ein souveräner digitaler Staat ist keiner, der die Bürger erzieht, sondern einer, der sie schützt.
Keiner, der Daten hortet, sondern einer, der sie trennt. Keiner, der alles misst, sondern einer, der Maß hält.

Souveränität bedeutet:

  • Eigene Server, eigene Software, eigenes Wissen.
  • Offene Standards statt proprietärer Fesseln.
  • Bildung vor Algorithmen.
  • Datenschutz als Staatsräson, nicht als Fußnote.

Das ist der Unterschied zwischen Technik mit Seele und Technik als Machtinstrument.

Wenn man heute Ämter, Banken oder Versicherungen beobachtet, erkennt man ein neues Muster: Der Bürger ist nicht mehr Kunde, sondern Zuarbeiter.

Man füllt Formulare, lädt Nachweise hoch, scannt Codes, überträgt Daten und am Ende kassiert man dafür nicht einmal Lohn, sondern Gebühren. Der Beamte kontrolliert nur noch, ob der Bürger seine Arbeit ordentlich gemacht hat.

So entsteht ein paradoxes System: Ein Staat, der seine Bürger dafür bezahlen lässt, dass sie seine Aufgaben übernehmen. Und niemand nennt es, was es ist: eine Umkehr des Gesellschaftsvertrags.

Die Müdigkeit der Demokratie

All das wäre nicht möglich, wenn Menschen sich wehren würden. Aber sie sind müde. Überfordert. Reizüberflutet. Man hat ihnen eingeredet, dass Fortschritt unausweichlich sei und dass jeder Zweifel Rückschritt ist. Doch das Gegenteil ist wahr: Nur wer zweifelt, kann noch frei denken.

Vielleicht ist es Zeit, diesen angeblichen Fortschritt zu verlangsamen. Nicht aus Nostalgie, sondern aus Vernunft. Die Zukunft braucht keine 200 neuen Apps. Sie braucht Verlässlichkeit. Sie braucht Systeme, die funktionieren, weil sie verstanden wurden, nicht, weil sie blind befolgt werden.

Sie braucht Beamte, die wieder Verantwortung übernehmen, statt Verantwortung in digitale Portale zu verlagern. Und sie braucht Politiker, die wissen, dass Technologie kein Ersatz für Vertrauen ist.

Epilog: Technik ohne Seele

Vielleicht ist das die eigentliche Tragödie unserer Zeit: Wir bauen Maschinen, die alles können, außer verstehen, warum. Wir nennen das Fortschritt. Aber vielleicht ist es bloß ein großer Irrtum in Hochglanzoptik. Denn was nützt die schönste App, wenn sie den Menschen überflüssig macht? Was nützt KI, wenn sie den Geist verkümmern lässt? Was nützt Effizienz, wenn sie uns die Freiheit kostet?

Vielleicht ist die wahre Zukunft die, in der wir wieder lernen, nein zu sagen. Langsam, vorsichtig, aber mit Haltung. Nicht gegen Technik, sondern gegen ihre Entmenschlichung.

Denn Fortschritt ist nur dann Fortschritt, wenn er uns nicht ersetzt, sondern versteht.

Quellen und Anmerkungen

Bundesrechnungshof – Verwaltungsdigitalisierung (Bericht) – 11. Juli 2025
„Die Bundesregierung steuerte die Verwaltungsdigitalisierung nicht ausreichend. Digitalstrategien waren lediglich Bestandsaufnahmen …“
https://www.bundesrechnungshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Berichte/2025/verwaltungsdigitalisierung-volltext.pdf?__blob=publicationFile&v=2 

Bundesrechnungshof – Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG) (Beratungsbericht) – 8. Oktober 2024
Kritische Bestandsaufnahme zu Zielen, Steuerung, EfA-Rollout.
https://www.bundesrechnungshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Berichte/2024/umsetzung-onlinezugangsgesetz-volltext.pdf?__blob=publicationFile&v=2 Bundesrechnungsho 

Nationaler Normenkontrollrat – Jahresbericht 2025 „Einfach, schnell, wirksam“ (PDF) – 2. Oktober 2025
Entlastung/Erfüllungsaufwand, Empfehlungen für echte Vereinfachung.
https://www.normenkontrollrat.bund.de/Webs/NKR/SharedDocs/Downloads/DE/Jahresberichte/2025-jahresbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=5

BundID – Start/Übersicht (offizielle Portalseite) – laufend aktualisiert
Zentrale Drehscheibe für OZG-Diensteanmeldung.
https://id.bund.de/ 

BaFin – Verbraucherinfo: Starke Kundenauthentifizierung – 17. April 2019 (weiter gültig)
Verbraucherverständliche Darstellung der SCA-Pflichten.
https://www.bafin.de/DE/Verbraucher/Bank/Starke_Kundenauthentifizierung/Starke_Kundenauthentifizierung_node.html

BMG – Elektronisches Rezept (E-Rezept) – offizielle Information – laufend (Hinweis: Pflicht seit 01.01.2024)
Primärquelle zu Einlösewegen (eGK, App, Ausdruck).
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/e-rezept.html

EU-Kommission – „What is the Wallet“ (offizielle Erläuterung) – 2025
Nutzung, Signaturen, Dokumente, Governance.
https://ec.europa.eu/digital-building-blocks/sites/display/EUDIGITALIDENTITYWALLET/What%2Bis%2Bthe%2BWallet 

BRH – Digitalstrategie der Bundesregierung (Prüfbericht) – 30. Aug. 2024
https://www.bundesrechnungshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Berichte/2024/digitalstrategie-volltext.pdf?__blob=publicationFile&v=2

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bild: Konzept der digitalen Einstellung, Auswahl
Bildquelle: CardIrin / shutterstock


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