Tagesdosis 27.9.2019 – Über dem Gesetz (Podcast)

Ein Kommentar von Dagmar Henn.

Als im Jahre 1789 das französische Volk die Mistgabeln ergriff und die Herrschaft des Adels beendete, waren es die Privilegien dieser Klasse, die den Zorn besonders befeuerten. Sie mussten keine Steuern bezahlen, sie standen über dem Recht, das für das gemeine Volk galt; die Gleichheit vor dem Gesetz gilt, bei aller Widersprüchlichkeit, die es Armen wie Reichen untersagt, Brot zu stehlen und unter Brücken zu schlafen, als eine der großen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts. Privilegien wie jene des Adels gibt es nicht mehr – oder doch? Sind sie nur dem öffentlichen Blick besser verborgen?

Das Bild der heutigen Tagesdosis zeigt den US-Amerikanischen Firmensitz eines Pharmakonzern, der in der letzten Woche Konkurs anmelden musste. Purdue Pharma war einer der Hauptakteure (1) in der landesweiten sogenannten Opioid-Krise. Opioide sind synthetische Opiate, die um ein vielfaches wirkungsvoller sind als Morphium, die aber von den vertreibenden Konzernen, darunter Purdue, mit massiver Werbung als eine Art besseres Aspirin in den Markt gedrückt wurden; sie wurden entsprechend häufig verschrieben, und in der Folge kam es zu hunderttausendfacher Abhängigkeit und bisher geschätzt zu 400 000 Todesfällen.

Purdue Pharma ist der erste Konzern, der dafür vor Gericht gezogen wurde, und der Konkurs ist die vorläufige Beilegung des Rechtsstreits. Weitere Verfahren (2) gegen Johnson & Johnson sowie andere Unternehmen sind noch anhängig. Während nach wie vor die Zahl der Drogentoten im Gefolge dieser Vermarktungskampagne in den USA über der Zahl der Verkehrsopfer liegt, wird sich die rechtliche Bearbeitung noch über Jahre hinziehen.

Nun ist die Haftung der Unternehmen in den USA deutlich ausgeprägter als in Deutschland. Nicht nur durch die immer wieder anfallenden, wesentlich höheren Schadensersatzzahlungen; auch eine strafrechtliche Ahndung (3) ist zumindest gegenüber den Entscheidungsträgern in den Unternehmen möglich.

Dennoch findet sich auch hier das feudale Privileg – die juristische Person steht wie eine Brandschutzmauer zwischen dem Konzern, seinen Handlungen und den Eigentümern, die letztlich den Profit einstreichen. Denn es sind die Erfüllungsgehilfen, die Angestellten an der Konzernspitze, die strafrechtlich belangt werden, aber nicht die Eigentümer.

Man hat sich so an diese Strukturen gewöhnt, dass man sie in einer anderen Umgebung nachgestalten muss, um das Privileg überhaupt sichtbar zu machen. Wie wäre es also, wenn statt eines Pharmakonzerns die Mafia mit diesen Pillen gehandelt hätte? Würde dann der oberste Boss, der das Geld einstreicht, das aus den Verbrechen stammt, straffrei ausgehen, weil er ja selbst nicht unmittelbar an Verbrechen beteiligt ist? In den meisten Ländern würde nicht nur die strafrechtliche Verantwortung erhalten bleiben, auch das durch kriminelle Handlungen erlangte Vermögen könnte eingezogen werden.

Im Falle der Familie Sackler (4) handelt es sich um 14 Milliarden Dollar, die sie neben dem Unternehmen besitzt – die Gewinne aus dem Vertrieb des 1995 auf den Markt gebrachten OxyContin wurden auf drei Milliarden Dollar jährlich geschätzt.

Als das Produkt auf den Markt kam, war selbstverständlich längst bekannt, dass Opiate Abhängigkeiten erzeugen, keiner der Beteiligten kann ernsthaft behaupten, ahnungslos gewesen zu sein. 400 000 Tote und eine Spur sozialer Verwüstungen stehen den Milliardengewinnen gegenüber, die bei den produzierenden Konzernen und deren Eignern landeten. Die Krise ist so tief, dass sich durch die laufenden Gerichtsverfahren das Haftungsrecht in den USA tatsächlich ändern könnte (5).

Davon sind wir in Deutschland weit entfernt. Wie wäre denn etwa der Cum-Ex-Skandal zu werten, wenn ihn eine Gruppe von Privatleuten ausgelöst hätte? Eine kriminelle Vereinigung zum Zwecke des Steuerbetrugs?

Bei einer kriminellen Vereinigung, das ist die Wirkung dieses Rechtskonstrukts, muss die Schuld jedes Einzelnen nicht im Detail nachgewiesen werden, die Beteiligung an der Gruppe ist Beleg genug. Eine kriminelle Vereinigung aus Bankern und ihren Kunden? Es wird nicht einmal zu einer Haftung der Banken für die mit ihrer Hilfe erschlichenen Gelder kommen. Unternehmen können in Deutschland nur Ordnungswidrigkeiten begehen (6), keine Straftaten, und die Strafen reichen in der Regel nur bis 10 Millionen Euro – ein Witz angesichts eines Schadens von Dutzenden Milliarden. Das ist wie ein Ticket wegen Falschparkens für einen Millionenraub.

Juristische Personen sind da äußerst hilfreich. Heutige Konzerne bestehen aus ganzen Armeen juristischer Personen, jede für sich formell unabhängig und mit fast den gleichen Rechten ausgestattet wie eine natürliche Person, aber bei weitem nicht mit den gleichen Pflichten. Diese Stapelung von Gesellschaften, seien sie GmbHs, SEs, AGs oder Stiftungen, dienen verschiedenen Zwecken. So können beispielsweise die Arbeitsverträge der Mitarbeiter eines Unternehmens auf eine kleine, gesonderte GmbH lauten, in der eigenartigerweise nur das erforderliche Stammkapital steckt; die daher im Falle eines Konkurses oder einer Entlassungswelle leider, leider gar keine Abfindungen zahlen kann.

Oder sämtliche genutzten Patente werden in eine Tochterfirma in einem Steuerparadies verlagert, Irland beispielsweise, und die Tochterunternehmen, die wirkliche Erträge erzielen, führen diese dann als Lizenzgebühren an die Tochter im Steuerparadies ab und zahlen dementsprechend dort, wo die Erträge angefallen sind, keine Steuern mehr; ein Modell, dass Konzerne wie Apple intensivst nutzen. In jedem dieser Fälle ist es die Konstruktion der juristischen Person, die es ermöglicht, Rechte zu nutzen, aber Pflichten zu umgehen.

Einer der Schlüsselbegriffe lautet hier ‘organisierte Unverantwortlichkeit’.

Das bedeutet, die komplexe Struktur des Konzerns wird gezielt dazu genutzt, um die Verantwortung selbst für offen kriminelles Verhalten auf einen kleinen Bereich zu begrenzen oder gar komplett aufzulösen. Im Gefolge der Finanzkrise 2008 kam es in den USA zu einem Untersuchungsausschuss des Senats, und im Abschlussbericht dieses Ausschusses fanden sich interne Mails der Deutschen Bank, die von der US-Niederlassung nach Frankfurt geschickt wurden (7).

In diesen Mails wurden die geschichteten Hypothekenpapiere (MBS), an deren Ausgabe die Deutsche Bank massiv beteiligt war, offen als Schrott benannt, was ihren Vertrieb zum wissentlichen Betrug macht… Konsequenzen dafür gab es in Deutschland nicht, obwohl das Kreditwirtschaftsgesetz sogar einen Lizenzentzug ermöglicht hätte. Stattdessen wurde die Deutsche Bank mit Steuergeldern gerettet.

Nur um bei jedem weiteren Skandal um kriminelle Machenschaften wie Cum-Ex erneut aufzutauchen. Eine Abteilung weiß eben nie, was die andere treibt, und niemandem ist nachzuweisen, tatsächlich bewusst eine Entscheidung getroffen zu haben, das Gesetz zu brechen. Nichtsdestotrotz wird es stetig und mit hoher Kreativität gebrochen. Weil die juristische Person zwar besitzen und handeln kann, als wäre sie lebendig, wenn es aber um Verantwortung geht, in tausend Partikel zerfällt, die irgendwie nichts miteinander zu tun haben.

Im allerungünstigsten Fall wird ein hochrangiger Burgvogt, vulgo Manager, belangt; ein Durchgriff auf die Eigentümer ist in Deutschland gänzlich unvorstellbar. Wobei selbst die Eröffnung eines Verfahrens darunter leidet, dass Staatsanwälte in Deutschland auf Weisung ermitteln – oder eben nicht. Wohl mancher Innenminister dürfte den Versuch, die Oligarchen selbst zu belangen, sehr schnell ausbremsen. Dabei sind sie es, in deren Interesse gehandelt wird – und in deren Interesse auch Verbrechen begangen werden.

Große Verbrechen wie die Opioid-Krise bringen diese Probleme für eine kurze Zeit ans Licht der Öffentlichkeit. Unter Umständen muss dann eine Oligarchen-Familie wie die Sacklers mit einem schlechten Ruf leben und in den Museen werden die Plaketten entfernt, auf denen sie als Stifter geehrt werden. Aber spätestens nach einer Generation, das können die Nachfahren der Profiteure der Naziraubzüge hier in Deutschland gewiss bestätigen, ist die Weste wieder weiss und im Notfall reichen ein paar Bröckchen aus den erzielten Profiten, um den Ruf wieder herzustellen. Bröckchen, die dann, wohlgemerkt, aus den Firmenkassen stammen und nicht aus den Privatschatullen.

Die Fürsten früherer Jahrhunderte ritten auf der Jagd durch die Getreidefelder und scherten sich nicht um die Schäden, die sie dabei anrichteten. Die heutigen Fürsten richten ihre Schäden global an, und leben sicher hinter Mauern aus juristischen Konstrukten. Aber gleich, ob gottgegebene Rechte behauptet werden oder die Verantwortung hinter einem dutzend Gesellschaften verborgen wird, in beiden Fällen ist das Ergebnis das Privileg, über dem Gesetz zu stehen, und beide haben sich die Mistgabeln als Antwort ehrlich verdient.

Quellen:

  1. https://www.nzz.ch/wirtschaft/amerikas-meistgehasste-familie-ergreift-die-flucht-nach-vorn-ld.1504715
  2. https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/aug/29/opioids-crisis-drug-makers-pharma
  3. https://iclg.com/practice-areas/business-crime-laws-and-regulations
  4. https://www.forbes.com/sites/alexmorrell/2015/07/01/the-oxycontin-clan-the-14-billion-newcomer-to-forbes-2015-list-of-richest-u-s-families/#60ed541675e0
  5. https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/opioid-krise-prozesse-in-den-usa-gegen-sackler-und-purdue-pharma-die-abrechnung-a-1286835.html
  6. https://www.bundestag.de/resource/blob/370020/086a91d95577504fec952c904f982d59/201b_stellungnahme-juette-overmeyer-data.pdf
  7. http://hsgac.senate.gov/public/_files/Financial_Crisis/FinancialCrisisReport.pdf

Bildquelle:   GREG PATTON/ Shutterstock

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