Ein Kommentar von Florian Kirner aka Prinz Chaos.
„In der schwarzen Bürgerrechtsbewegung rannten wir vor der Polizei. In der Friedensbewegung rannten wir vor der Polizei. Aber in dieser Nacht rannte die Polizei vor uns davon, vor uns, vor den Niedrigsten der Niedrigen. Und es war fantastisch.“
Das sagt der Aktivist John O’Brien rückblickend über jene Nacht der Nächte in der Christopher Street in New York City. Jene Nacht des 28. Juni 1969, als eine Polizeirazzia in der Bar „Stonewall Inn“ mit wütendem Widerstand beantwortet wurde, der in einen mehrtägigen Riot eskalierte.
Seymour Pine, Deputy Inspector der „Sittenabteilung“ der New Yorker Polizei, hat es auf der Gegenseite so erlebt:
„Wir hatten keine ausreichende Truppenstärke. Und die Truppen auf der anderen Seite kamen heran als wäre es ein Krieg. Und das genau ist es auch gewesen: es war ein Krieg!“
Flaschen flogen. Steine flogen. Gefangene wurden wieder befreit. Drei Tage und Nächte währten die Straßenschlachten im New Yorker Stadtteil Greenwich Village. Auf der einen Seite die Polizei. Auf der anderen Seite eine buntscheckige Menge von Leuten aller erdenklichen Hautfarben und sexuellen Identitäten, deren Wut über die ständigen Schikanen der Polizei, über den Moralterror der bürgerlichen Gesellschaft und die allgegenwärtige Diskriminierung ihrer Liebe endlich auf die Straße brach.
Drag Queens, lesbische Frauen, schwule Männer, Transgender, Stricher – alles, was nicht in die rigiden Moralvorstellungen dieser Zeit passte, hatte sich im Stonewall Inn gefunden gehabt.
Das Stonewall Inn war keine ideale Heimat. Der Laden war ein mieser Abzockschuppen, kontrolliert von der örtlichen Mafia, die bei den regelmäßigen Razzias mit der Polizei zusammenarbeitete.
Aber dieser miese Mafiaschuppen war auch ein echter Freiraum. Es war so ziemlich der einzige Ort im damaligen Amerika, wo Männer mit Männern tanzen konnten und Frauen mit Frauen, wo gleichgeschlechtliche Liebe und Leben außerhalb der Geschlechterdefinitionen sich offen zeigen konnte.
Im Verlauf des 28. Juni 1969 stand das Stonewall Inn dann irgendwann in Flammen. Die Polizei hatte sich zuvor darin vor der wütenden Menge verbarrikadiert. Gleichzeitig loderte zum ersten Mal in der Geschichte der Nachkriegszeit die Flamme der sexuellen Selbstbestimmung.
Der Schriftsteller Allen Ginsberg hat beschrieben, was das Erlebnis des militanten Widerstands mit den Beteiligten gemacht hat. „Und weißt Du“, sagte Ginsberg: „die Leute waren so unfassbar schön. Sie hatten diesen verwundeten Blick verloren, den zehn Jahre zuvor alle Schwuchteln gehabt hatten.“
Dieser verwundete Blick hatte seine Gründe. Homosexualität galt in den reaktionären USA der 1950er und 1960er Jahre als Krankheit – und war der ultimative moralische Verstoß in einem Land, das von den sittlichen Vorstellungen fundamentalistischer Christen dominiert wurde. Die angesagte „Heilmethode“ für Homosexualität bestand in einer Elektroschocktherapie. Unzählige schwule Männer wurden Opfer dieses medizinischen Terrors. Die allgegenwärtige Homophobie beendete zahllose Karrieren, Familien verstießen angewidert die eigenen Kinder. Die Selbstmordrate war horrend. Gewalt gegen queere Menschen ein Kavaliersdelikt.
Offenes, selbstbewusstes Leben außerhalb der heterosexuellen Norm war derweil undenkbar – aber in der Gegenkultur der 60er Jahre wuchs eine Generation heran, die sich mit den herrschenden Zuständen nicht mehr länger abfinden wollte. Frauen wurden selbstbewusster, die schwarze Bürgerrechtsbewegung brachte Massen auf die Straße, der Krieg in Vietnam politisierte Millionen.
In diesem rebellischen Umfeld erlebten auch queere Menschen ihren „Rosa Parks Moment“, wie Lucian Truscott schrieb: „Und sobald das passiert war, begann das ganze Kartenhaus der Unterdrückung zusammenzubrechen.“
Bis es dann tatsächlich zusammenbrach, sollte es noch Jahrzehnte dauern. Und bis heute steht ein Teil dieses Unterdrückungsgebäudes ziemlich stabil da.
Unmittelbar nach den Stonewall-Riots wurde die Gay Liberation Front gegründet und es gab einige wundervolle Jahre eines sehr radikalen queeren Aufbruchs. Eine ganze Lebenswelt entstand, mit Bars und Discos, mit Zeitungen und Buchverlagen, Treffpunkten, Coming-Out-Gruppen und den jährlichen Paraden zur Feier der Stonewall-Riots.
Nun wird den CSD-Paraden ja oft vorgeworfen, wie wild und freizügig es da zugeht und dass da „nur“ gefeiert würde. Ich persönlich würde den ewigen traurigen Latschdemos anderer Bewegungen von Herzen wünschen, von dieser Fröhlichkeit der CSD-Paraden mehr als nur eine Scheibe abzubekommen.
So lustig allerdings waren die Jahrzehnte nach dem Stonewall-Aufstand dann nicht. In den USA kam es Anfang der 1980er Jahre zu einer neoliberalen Wende unter Ronald Reagan, die mit einem kulturellen Rollback einherging. Mitten in diese ohnehin bedrohlichen Situation brach die AIDS-Katastrophe herein, die speziell die Stonewall-Generation zu Zehntausenden dahinraffte.
Die ersten schwulen Männer, die ich selbst wahrnahm, waren dann Leute um die 50 in AIDS-Talkshows, von denen man wusste: in wenigen Monaten sind die tot.
Der Wiederaufstieg der sexuellen Befreiungsbewegung dauerte lange. 1992 schrieb ich einen Eintrag in mein Tagebuch, in dem ich kaum fassen konnte, dass zum CSD in Berlin sage und schreibe 10.000 Menschen gekommen waren.
Irgendwann waren es dann Hunderttausende. Dann wurde mit Klaus Wowereit der erste offen schwule Politiker Bürgermeister der Hauptstadt usw.
Aber natürlich, wir leben im Kapitalismus. Da ist auch die Befreiung ein Geschäft und alle, die sich erfolgreich gegen Unterdrückung wehren, werden ins System hineingezogen, als neue Schicht von Konsumenten. Das ist natürlich auch in diesem Fall passiert.
Ich kann mich auch über eine lesbischen Alice Weidel oder einen schwulen Jens Spahn nicht großartig freuen. Und manche Scheindebatte einer auf das Unwesentliche fokussierten Identitätspolitik hat die radikalen Befreiungsutopien der frühen Bewegung völlig überlagert.
Dennoch: es ist gut, dass Menschen, die ihre Sexualität außerhalb der Heteronorm selbstbewusst leben wollen, nicht mehr mit Elektroschocks traktiert werden. Es ist gut, dass der Kampf für gleiche Rechte wenigstens in dieser einen Frage unbestreitbare Fortschritte gemacht hat.
Erinnert werden sollte aber daran, wie diese Fortschritte erreicht wurden. Mit militanter, massenhafter Gegenwehr und mit Millionen Menschen auf der Straße.
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Ewa Draze/ Shutterstock
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