Tagesdosis 24.7.2017 – Die da rufen nach Lynchjustiz

Ein Kommentar von Susan Bonath.

Ein Sturm der Entrüstung tobt durch die Medien: Die 16jährige Linda W. aus Sachsen wird im Irak verhaftet. In ihrer Heimat hatte sie sich unbemerkt radikalisiert. Vor einem Jahr war sie über die Türkei nach Mossul eingereist – allein – um den mörderischen »Dschihad« zu unterstützen. Sie heiratete einen IS-Terroristen, wurde in den Trümmern verwundet. Nun, sagt das gefangene Mädchen einem Reporter, wolle sie nur noch nach Hause, weg vom Krieg, vom Elend, von der Zerstörung.

Was Linda W. selbst getan hat, ist unklar. Niemand weiß, warum sie, mitten im vermeintlichen Hort der Demokratie, das Verlangen fühlte, den IS-Terror zu unterstützen. Was verleitet eine 15jährige dazu, ihr Leben für eine mörderische Vision aufs Spiel zu setzen? Was läuft schief, wenn sich Kinder wie sie einem Mordkommando anschließen?

Das will der Mob gar nicht wissen. Er verlangt Rache. Er will lynchen. Das Mädchen nach Deutschland ausliefern und hier verurteilen? Dem Mädchen helfen, einen sinnvollen Weg in ihr Leben zu finden, das kaum begonnen hat? Nein!, ruft es in den Onlineforen. Selbst schuld sei sie. Und wenn sie im Irak zum Tode verurteilt werden sollte, sei das völlig in Ordnung. Dem Lynchmob reichen die Opfer des IS nicht. Er will mehr. Er schreit nach Autorität, nach härtesten Strafen. Er verlangt Tribut statt Aufarbeitung, Hilfe und Resozialisierung. Auch wenn er keine Ahnung von den Umständen hat.

Dass sich schon Kinder einer hoch militarisierten, raubenden, unterdrückenden, wie ein Konzern operierenden Todesarmee anschließen, ist ein Drama. Genauso fassungslos macht die Aggression, mit welcher sich moralisch erhaben Fühlende nach Vergeltung brüllen. Hängt sie alle!, schreien sie.

Eine ähnlich aggressive Stimmung beherrscht seit zwei Wochen die Berichterstattung zu den G20-Krawallen. Die Bild startet einen Fahndungsaufruf. Der Mob jubelt dem Springer-Blatt enthusiastisch zu. Würde da jemand selbst gern mit einer Kalaschnikow losziehen, um vermeintlich Erkannte zu richten?

Obwohl niemand weiß, wer die vermummten Zerstörer waren – immerhin haben bereits mehrere neofaschistische Gruppen ihre Teilnahme bekundet – ist der Feind erkannt: Linksextremisten. Die Antifa. Mit letzterer sei, schreibt ein Kommentator auf Facebook, »wie mit dem IS zu verfahren: Alle Anhänger sind zu vernichten«. Seit Tagen steht der Mordaufruf im Netz. Der Facebook-Konzern löscht lieber nackte Frauenbrüste.

Frei von aggressiven Gewaltfantasien sind auch Teile des Staatsapparats nicht. In Hamburg waren sie es nicht. Allein die Zahl der Polizeiangriffe auf Journalisten ist so groß, dass man nicht von Einzelfällen sprechen kann. Selbst ein Chefreporter der Bild zeigte sich schockiert darüber, wie Beamte Reporter massiv attackierten. Einem drohte ein Polizist: »Hau ab oder ins Krankenhaus!«

Die Liste ist lang: Ein Wassewerferstrahl zerstörte zwei Kameras von Stern-Reporter Jürgen Burkard; der Fahrer habe »herzlich gelacht«. Ein Berliner Fotograf, der seine Presseakkreditierung zeigte, bekam zur Antwort: »Ist mir scheißegal.«  Dann trat der Polizist zu. Beamte bedrohten Medienvertreter mit vorgehaltener Waffe. So taten sie es übrigens auch mit Sanitätern, die Verletzte versorgen wollten.

Die Videos im Netz sprechen für sich: Ein Polizist beugt sich über einen am Boden Liegenden und schlägt zu, sieben mal mit der Faust ins Gesicht. Ein Beamter nimmt Anlauf und tritt einem Sitzenden ohne ersichtlichen Grund gegen den Kopf. Polizisten prügeln mit Schlagstöcken auf einen Wehrlosen ein, der sich vor Schmerzen am Boden windet, einen anderen bearbeiteten sie fortgesetzt mit Stiefeltritten. Und so weiter.

Die massive Staatsgewalt ist bewiesen, selbst wenn sie Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz stoisch abstreitet. Doch sie stört offensichtlich wenige. Hysterisch sprechen die, die den Strick für eine 16jährige als gerecht empfinden, die Prügeljustiz des Staats auf der Straße heilig. Bayern hat dem Verlangen nach »voller Härte« stattgegeben: Gesetzliche Präventivhaft für potentielle Gefährder. Im Klartext: Unendliche Haft für jemanden, der noch gar nichts getan hat. Die Nazis nannten das in den frühen 30ern »Schutzhaft«. Mit diesem Ansinnen verschleppten sie Kommunisten und Sozialisten ins KZ Dachau, später nach Buchenwald.

Wer derart harte Staatsgewalt gegen Menschen fordert, ja, eine Art Lynchjustiz nach Gefühl, sollte nicht nur über mögliche Folgen für alle nachdenken. Er sollte sein eigenes Verhältnis zur Gewalt kritisch überprüfen. Und wer meint, dass der Staat auf dem linken Auge blind sei, wie es Springer und Co. pausenlos suggerieren, dem sei gesagt: In Hamburg überfiel die Polizei eine Demo, knüppelte wahllos drauflos, weil einige ihr Tuch vor Mund und Nase nicht lüften wollten. Im thüringischen Themar hingegen sah die Polizei jüngst seelenruhig zu, wie Hunderte Neofaschisten rhythmisch ihren Arm zum »Sieg Heil«-Gebrüll heben.

Etwas passt hier nicht. Vieles in dieser Gesellschaft scheint aus dem Ruder zu laufen. Vielleicht sollten wir einmal über systemische Gewalt und Verrohung nachdenken. Und über psychologische Folgen derselben in uns selbst. All die Rufer nach härtesten Strafen bei puren Verdacht mit ihrem offenkundigen Wunsch nach einem autoritären Regime inklusive Prügelpolizei und Lynchjustiz in Deutschland sollten sich fragen, warum sie genau das anderswo ablehnen.

Danke an den Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

KenFM bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Meinungsartikel und Gastbeiträge müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

+++

Alle weiteren Beiträge aus der Rubrik „Tagesdosis“ findest Du auf unserer Homepage: hier.

Dir gefällt unser Programm? Informationen zu Unterstützungsmöglichkeiten hier: https://kenfm.de/support/kenfm-unterstuetzen


Auch interessant...

Kommentare (14)

Hinterlassen Sie eine Antwort