Tagesdosis 20.1.2020 – 1920: Vertrag von Versailles – Nach dem Krieg ist vor dem Krieg (Podcast)

Ein Kommentar von Hermann Ploppa.

Es ist nun über hundert Jahre her, dass am 10. Januar 1920 der „Friedensvertrag“ von Versailles in Kraft trat. Auch nach hundert Jahren können dieser Vertrag und seine Folgen die Gemüter der Nachgeborenen noch erhitzen. Der Versailler Vertrag besagte, dass Deutschland als allein schuldiger Verursacher des Ersten Weltkriegs festgestellt wurde. Aus diesem Grund sollte Deutschland über viele Jahrzehnte hinweg eine astronomische Summe an Geld sowie immense Sachleistungen an Großbritannien und Frankreich abliefern. Zudem sollte Deutschland Abschnitte seines Staatsterritoriums an seine Nachbarländer abtreten.

Das alles wurde in dem Vertrag von Versailles geregelt, der am 28. Juni 1919 unterzeichnet wurde.

War denn die Übereinkunft von Versailles überhaupt ein richtiger Vertrag?

Das kann man verneinen. Denn ein Vertrag wird zwischen zwei gleichberechtigten Parteien nach freien Verhandlungen abgeschlossen. So wurde nach der Niederlage des napoleonischen Frankreichs bei der Wiener Konferenz im Jahre 1815 der Vertreter der Verlierernation, Talleyrand, als gleichberechtigter Verhandlungspartner zugelassen. Talleyrand konnte am Verhandlungstisch für Frankreich vorteilhafte Regelungen aushandeln.

Als nun der Präsident der USA, Woodrow Wilson, in der Endphase des Ersten Weltkrieges nach Europa signalisierte, dass im Falle eines Waffenstillstands Deutschland faire Verhandlungen erwarten konnte, wurde ihm Glauben geschenkt. So schloss am 11. November 1918 eine deutsche Delegation mit den Vertretern Großbritanniens und Frankreichs einen Waffenstillstandsvertrag ab. Die Deutschen erwarteten nun eine Einladung zu den Friedensverhandlungen, die in Paris stattfinden sollten. Als allerdings die Staatsoberhäupter der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Italiens in Paris die Verhandlungen eröffneten, wurde die deutsche Delegation in einem Pariser Hotel unter Hausarrest gestellt. An einen Zugang zu den Verhandlungsräumen war überhaupt nicht zu denken. Was dort verhandelt wurde, erfuhr die deutsche Delegation nur sehr lückenhaft. Die Deutschen konnten sich überhaupt nur durch schriftliche Eingaben zur Sache äußern. Als Angeklagte wurden die deutschen Zivilpolitiker durch ein Spalier von Kriegsversehrten nach vorne geführt, um dann das Urteil anzuhören. Gedemütigt wurden hier die zivilen deutschen Politiker, die jetzt aus Pflichtgefühl die politische Verantwortung übernehmen  mussten für eine Niederlage, die sie gar nicht zu verantworten hatten. Politiker wurden als Angeklagte vorgeführt, die sich gegen den Krieg ihrer Militärjunta unter Ludendorff gewehrt hatten. Offenkundig ging es den Siegermächten auch darum, der neuen demokratischen Regierung gleich ein tödliches Stigma auf die Stirn zu brennen, um der jungen deutschen Demokratie umgehend das Genick zu brechen.

Die Urteilsverkündung fand übrigens im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles, etliche Kilometer vor den Toren von Paris, statt. Ein geschickt gewählter Ort. Hier regierte dereinst in absolutistischer Machtvollkommenheit König Ludwig der Vierzehnte, der gar sagte: „Der Staat bin ich!“ Und es war kein Geringerer als der hochgelobte deutsche Kanzler Otto von Bismarck, der nach dem Sieg der deutschen Truppen über Frankreich im Jahre 1871 die Neugründung des Deutschen Reichs mit der Kaiserkrönung Wilhelms des Ersten von Hohenzollern in eben diesem für die Franzosen so heiligen Spiegelsaal von Versailles besiegeln ließ. Bismarck wollte den „gallischen Hahn“, wie er sich auszudrücken pflegte, hemmungslos mit dieser Aktion demütigen. Bismarck war es ja auch, der dem unterworfenen Frankreich knochenharte Friedensbedingungen auferlegte, die, so sagte der Eiserne Kanzler von Blut und Schwert, den Franzosen nur noch ihre zwei Augen übrig lassen sollten, mit denen sie dann über ihre „Verluste weinen konnten“.

Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es auch wieder heraus. Das unverschämte Benehmen Bismarcks gegen Frankreich hatte nun zur Folge, dass die französische Regierung den Deutschen diese Maßlosigkeit heimzahlen wollte, indem es die an der Niederlage vollkommen unbeteiligten deutschen Zivilpolitiker in eben diesem Spiegelsaal von Versailles erniedrigen und demütigen ließ.

Auf Seiten der Siegermächte USA, Großbritannien und Frankreich gab es durchaus vehementen Widerstand gegen den Diktatfrieden von Versailles, mit weitreichenden politischen Folgen in den betroffenen Ländern selber. Der klarsichtigste Kritiker auf englischer Seite war der bedeutende Ökonom John Maynard Keynes. Keynes gehörte als Abgesandter des britischen Finanzministeriums zur Verhandlungsdelegation und hatte Zugang zu den innersten Kreisen. Als Keynes mit seinen Warnungen gegen die Unmäßigkeit der alliierten Forderungen an Deutschland nicht durchkam, trat er von seinem Posten zurück und alarmierte die Weltöffentlichkeit mit seinem Buch: *„Die Konsequenzen des Friedens“. Keynes gibt uns zunächst einen hautnahen Einblick in die Atmosphäre bei diesen geheimen Verhandlungen. Da thront als autistischer Mittelpunkt der amerikanische Präsident Woodrow Wilson. Welche Erwartungen waren diesem Geschichtsprofessor aus den amerikanischen Südstaaten auf seinem Weg nach Europa vorausgeeilt! In Paris fuhr er als bejubelter Messias durch Menschenmassen, auf seinem Weg zum Verhandlungsort. Wilson hatte mit seinen berühmten Vierzehn Punkten Hoffnung auf Frieden in Europa geweckt. Die Völker sollten in Zukunft frei und selbstbestimmt ihr Schicksal gestalten können. Ein Völkerbund sollte Konflikte entschärfen, bevor es zum Krieg kommen konnte. Und nun hockt Wilson stumm herum und tut rein gar nichts. Stattdessen wuseln suspekte Gestalten um die Verhandlungstische herum. Die alten Männer der französischen Delegation leben in der Vergangenheit und sinnen nach Rache für die Schmach von 1871. Die Briten und die Franzosen wiederum wollen aus Deutschland gigantische Vermögenswerte rauspressen in Form von so genannten Reparationen. Denn Frankreich und Großbritannien haben sich im Laufe des viel zu langen Krieges hoffnungslos bei amerikanischen Banken verschuldet, und müssen jetzt irgendwie die Schulden abzahlen. Das soll das deutsche Volk für sie besorgen. Durch Geld- und Sachleistungen. Und man will Deutschland noch Sahnestücke aus dessen Staatsterritorium herausschneiden. Das alles hat nun allerdings herzlich wenig mit einer Friedensregelung zu tun, findet John Maynard Keynes. Haben denn die Macher der Verträge überhaupt kein Bewusstsein dafür, dass das Versailler Diktat geradewegs in ein Massenelend, in Chaos und letztendlich in einen neuen Krieg führen wird? Dieser so genannte „Friedensvertrag“ wird direkt in einen neuen Krieg in zwanzig Jahren führen, warnt Keynes. Anstatt aus den besiegten Ländern immense Mittel abzuziehen, müsste man Kredite und andere Starthilfen hineinpumpen, damit die Staaten wieder auf die Beine kommen können, meint Keynes.

Offensichtlich sahen das viele Menschen in den USA und Großbritannien ganz genauso wie Keynes. Denn sein Buch wurde ein Bestseller. Als 1920 in den USA eine neue Regierung gewählt wurde, gewann Warren Gamaliel Harding von der republikanischen Opposition die Präsidentschaft, und auch im Kongress verzeichneten die Republikaner einen Erdrutschsieg. Der neue Präsident versprach, zur Normalität zurückzukehren und mit Deutschland einen separaten eigenen Vertrag zu unterzeichnen. Der Washingtoner Kongress lehnte die Versailler Verträge rundweg ab und die USA traten auch nicht dem von ihrem ehemaligen Präsidenten Wilson erschaffenen Völkerbund bei. Im Laufe der 1920er Jahre folgten dann amerikanische Banken dem Rat von Keynes und schnürten ein Kreditpaket für Deutschland, das dann als Dawes-Plan 1924 die deutsche Gesellschaft wesentlich subtiler unter amerikanische Kontrolle nehmen sollte als alle Raubverträge und Annexionen der Briten und Franzosen zuvor.

Und die Reaktion in Deutschland? Die zivilen Instanzen, die Reichsregierung und das Parlament, aber auch Kaiser Wilhelm der Zweite, waren im Krieg sukzessive in den Hintergrund geschoben worden. Die Generäle Hindenburg und Ludendorff hielten Deutschland in Schach und regierten selbstherrlich als Militärjunta. Ludendorff hatte die deutsche Niederlage mit seiner Irrsinnsstrategie geradezu erzwungen. Mit der Anordnung des bedingungslosen U-Boot-Krieges gegen alle Schiffe im Atlantik hatte Ludendorff die Steilvorlage für den Eintritt der USA in den europäischen Krieg geliefert. Die potentiellen Verbündeten aus der neuen bolschewistischen russischen Regierung hatte er gegen sich aufgebracht mit unverschämten Forderungen im Vertrag von Brest-Litowsk. Nachdem seine neue Strategie an der Westfront kläglich gescheitert war, kam Ludendorff im September 1918 auf die perfide Idee, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Ab sofort sollte in dieser hoffnungslosen Situation eine parlamentarisch legitimierte Reichsregierung die von Ludendorff in den Dreck gefahrene Karre wieder herausziehen. Ludendorff verkrümelte sich mit einem gefälschten Pass nach Schweden und tauchte erst in Deutschland wieder auf, als die Luft rein war. Jetzt durfte am 11. November 1918 der neue Finanzminister Erzberger, der mit dem Kriegsverlauf rein gar nichts zu tun hatte, anstelle von Hindenburg und Ludendorff den Waffenstillstand im Eisenbahnwaggon im französischen Compiègne unterzeichnen, flankiert von zwei relativ unbedeutenden Generälen aus dem deutschen Heer und der Marine.

Und auch hier wiederholt sich die Niederlage Frankreichs im Jahre 1871, diesmal mit umgekehrten Vorzeichen: 1871 hatte die französische Elite komplett abgewirtschaftet, und Bürgerkomitees übernahmen in Paris die Verwaltung und die Ordnung. Die französischen Eliten krochen unter die Fittiche Bismarcks und ließen mit deutschem Geld und deutscher Munition über 30.000 Pariser Bürger abschlachten. Nun 1918: auch hier war der Totalbankrott der bisherigen militärpolitischen Eliten offensichtlich. Auch in Deutschland begannen sich die Bürger selber zu organisieren. Jetzt krochen die deutschen Eliten unter die Fittiche der Briten und Franzosen. Der deutsche Unternehmer Karl Helfferich sammelte 500 Millionen Reichsmark für den Antibolschewistenfond und ließ aus traumatisierten gedemütigten Soldaten eine Killertruppe aufbauen, die in der jungen Weimarer Republik als Freikorpsverbände schreckliche Leichenberge aufschichtete. Der so genannte Kapp-Putsch 1920 wurde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vom englischen Geheimdienst gesteuert und sollte die Weimarer Demokratie durch eine Militärdiktatur ersetzen. Politiker, die sich dem Diktat von Versailles entgegenstellten und die versuchten, mit der Sowjetunion zusammen ein souveränes Deutschland zu errichten, wurden von Schergen der Helfferich-Verbände ermordet oder schwer verletzt. Hier sind stellvertretend für viele zu nennen: Finanzminister Erzberger, Außenminister Walther Rathenau und Philipp Scheidemann. In absurder Umkehrung der Tatsachen wurde dann verbreitet, man habe diese Männer angegriffen, weil sie „Erfüllungspolitiker“ seien: sie hätten also das Versailler Diktat besonders eifrig unterstützt.

Es gab indes tatsächlich einen „Erfüllungspolitiker“, der energisch die Intentionen des Versailler Vertrags durchgesetzt hat: ein Münchner Politiker namens Adolf Hitler. Zu den äußerst umstrittenen Regelungen des Versailler Vertrags gehörte die Übergabe des österreichischen Südtirols an Italien. In seinem Buch „Mein Kampf“ fordert Hitler ausdrücklich die Übergabe Südtirols an Italien. Zudem plädiert Hitler für die Unterordnung Deutschlands unter das Britische Weltreich. 1934 ist unter der Diktatur Hitlers ein wesentlicher Agendapunkt endlich erfüllt: Deutschland tritt als Juniorpartner Englands einem Staatenbund von Großbritannien, Italien und Frankreich bei. Von dort aus vergingen nur noch fünf Jahre, nach denen dann auch noch die Voraussage von John Maynard Keynes exakt eingetroffen ist: im Jahre 1939 begann bekanntlich der nächste große Krieg.

Anmerkungen

*John Maynard Keynes: The Consequences of the Peace. London 1919

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.

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Bildhinweis: Everett Historical / Shutterstock

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