Tagesdosis 2.10.2017 – Einheitsheuchelei

Ein Kommentar von Susan Bonath.

Morgen ist es wieder soweit: Politiker mit hohen Diäten werden den »Unrechtsstaat« verdammen und 27 Jahre Demokratie im vereinten Deutschland feiern. Das Volk wird das Bierglas erheben. Zwar kostet ein Bier heute in etwa 80mal so viel wie in der untergegangenen DDR, doch was soll´s. Das Volk wird ihn feiern, den Jahrestag der Heuchelei, des Betrugs, des Raubzuges, des Plünderns.

Heute muss die DDR als schlechtes Beispiel für alles herhalten. Die Herrschenden haben dem Unrecht drei Buchstaben verpasst, die alles Böse dieser Welt vereinen: Stasi, Mauertote, Hohenschönhausen. So können sie wunderbar ablenken von den Verwerfungen des realen Kapitalismus, die wir überall sehen. Natürlich – es gab sie auch, die Mauertoten, die denunzierenden Stasi-Spitzel, den Stasi-Knast.

Die Perspektive von unten ist vielfach eine andere. Meine ist die einer Jugendlichen, die den 9. November 1989 18jährig in einer Kleinstadt bei Magdeburg erlebte. Ich war gerade in meine erste Wohnung gezogen: Zwei Zimmer im Altbau, Küche, Dusche, Ofenheizung, das Klo auf dem Flur – 21 Mark Miete. Viele Jahre meiner Kindheit hatte ich im Kinderheim verbracht. Am Tag nach dem Mauerfall, ein Freitag, saß ich in der Berufsschule. Die meisten waren noch nicht wieder zurückgekehrt von ihrem Trip in den Westen. Wir waren zu viert. Ich, zwei Mitschülerinnen, die wie ich Keramikmalerin lernten und Herr K., Lehrer. Jetzt, meinten die anderen, werde man die DDR erneuern. Ich hielt dagegen: »Sie werden uns einverleiben, in ein paar Jahren werden wir Millionen Arbeitslose haben, und Obdachlose.« Niemand glaubte mir. Es kam schlimmer.

Kaum war die Mauer gefallen, fielen sie ein. Ganze Abordnungen von NPD und Republikanern besiedelten die Montagsdemos in Leipzig, Berlin, Magdeburg. Sie verteilten Hetzschriften gegen Ausländer, eröffneten Büros, drängten an die Mikrofone. Niemand kannte sie. Sie griffen sich jene Glatzköpfe, die vorher in der DDR nie zu Potte kamen. Die nun, wie alle, in eine ungewisse Zukunft blickten. Jene selbsternannten Skinheads, die so gern gegen in der DDR studierende Vietnamesen und Angolaner hetzten – es gab sie zu Hauf – hatten wir vorher aus Diskotheken verjagt. Unsere Jungs nannten das »Glatzen klatschen«.

Neben NPD und Reps standen bald andere Leute. Eine Mischung aus West- und Ostdeutschen. Sie hielten Transparente hoch mit Sprüchen wie »Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh´n wir zu ihr«. Ich erfuhr, dass es sich um ein Parteienbündnis aus West- und Blockflöten-Ost-CDU, der neu gegründeten DSU und einer Gruppe namens »Demokratischer Aufbruch« handelte. Die Allianz für Deutschland – die AfD 1.0 sozusagen. Spätestens im Januar 1990 posaunten sie die deutsche Einheit aus. Viele wunderten sich, andere nahmen sie nicht für voll. Doch westdeutsche Rosinenpicker lauerten bereits. Bald, mit der Installation der Treuhand, sollte ihre Stunde schlagen.

Ich will mich nicht allzu sehr über den beispiellosen Raubzug auslassen, dem Hunderte DDR-Betriebe zum Opfer fielen. Zum Beispiel die Gruben im Thüringer Kalirevier. Der hessische Konzern K+S kaufte sie auf, um sie anschließend als Konkurrenten auszuschalten. K+S war damals eine Tochter der BASF, die sich einst, während des Zweiten Weltkrieges, eine goldene Nase mit Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen verdient hatte. 1993 schlossen die Raubritter das letzte Werk in Bischofferode. Ein wochenlanger Hungerstreik bewahrte die Kumpel nicht vor der Arbeitslosigkeit. Ihre zerbrochenen Biographien reihten sich ein in die Millionen anderer Menschen, die ihre Arbeitskraft plötzlich als Ware auf einem Markt anbieten mussten.

Sich selbst vermarkten, gegeneinander konkurrieren zu müssen, war etwas anderes als das, was die Leute kannten. Niemand hatte sich bisher den Profit eingesteckt, den sie erwirtschafteten. Er floss in Schulen, Krankenhäuser, Subventionen für Lebensmittel und Mieten. Vielen wurde das zu spät klar.

Ja, wir konnten nicht reisen, wohin wir wollten. Vieles war nicht gut. Aber was mich ankotzt, sind die Lügen. Neulich las ich beim Deutschlandfunk, dass die DDR-Führung schon Dreijährige in Jugendwerkhöfen interniert habe. Der Sender lies angebliche frühere Insassen desselben zu Wort kommen – unkommentiert, unhinterfragt. Als ehemaliges Heimkind, das zumal als »schwierig« galt und zahlreiche Einrichtungen durchlaufen musste, weiß ich: Es ist gelogen.

Es war verboten, Minderjährige zu misshandeln. Um in einen Jugendwerkhof zu kommen, musste man schon einiges angestellt haben. Vor allem mussten die Jugendlichen mindestens 14 Jahre alt sein. Mag sein, dass einzelne Erzieher Gewalt ausübten. Das war nicht im Auftrag der DDR-Führung.

Die Medien reden auch von Zwangsarbeit in Jugendwerkhöfen. Richtig ist: Wer mit der Schule fertig war, musste eine Ausbildung absolvieren. Nicht immer nach Wunsch. Aber eben eine Ausbildung. Wer kümmert sich heute um Jugendliche an Berliner Bahnhöfen, die an der Flasche hängen oder drogensüchtig sind? Wer holt die 20.000 oder mehr obdachlosen Kinder von der Straße? Die Debatte ist verlogen.

Ein dunkles Thema sind Zwangsadoptionen. Es gab sie, vereinzelt. Ich habe Hunderte Heimkinder kennengelernt. C. war darunter der einzige Fall, der vermutlich mit einer Zwangsadoption endete. Ihre Mutter war mit einem Angolaner liiert, der in der DDR studierte und zurück sollte. Die Mutter wollte mit. Sie stellte Ausreiseanträge. Was noch geschah, weiß ich nicht. Aber sie landete irgendwann im Knast, um auf ihre Ausweisung zu warten. Ohne Kind. Ich erfuhr das damals von dem Angolaner, der C. im Heim besuchte. Sie nannte ihn Papa. Zwölf Jahre war sie damals alt. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist.

Um die Entwicklung in der DDR zu beurteilen, muss man die Geschichte betrachten. Hierzu nur so viel: Die Sowjets, damals unter Stalin, waren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht an einer neuen deutschen Großmacht interessiert. Sie stülpten ihrer Besatzungszone im Osten das Stalinsche System über. Es war nicht der Sozialismus, den Marx voraus geträumt hatte. Das lag nicht nur an der Führung, sowie auch die DDR nicht nur an inneren politischen Widersprüchen zerbrach. Es lag vor allem an wirtschaftlichen Abhängigkeiten vom westlichen Markt. Es mangelte an Rohstoffen, an Devisen. Als Gorbatschow die Sowjetunion aufgab, zerfiel die wichtigste Struktur, die die DDR am Tropf gehalten hatte. Kein kleines Land hätte unter diesen Bedingungen einen Sozialismus aufbauen können, selbst, wenn es das gewollt hätte.

Nichtsdestotrotz gaben die Menschen der DDR die wichtigste Errungenschaft auf, die Arbeiter der Neuzeit erringen konnten: Die Produktionsmittel. – Sämtliche Betriebe, Millionen Wohnungen, die Banken – sie gingen an westdeutsche Unternehmer. Die Mieten stiegen schneller als die Löhne. Arbeitsämter schossen wie Pilze aus dem Boden. Das Bauernland kam zurück in Junkerhand.

Der Raubzug war allgegenwärtig Auch in der Politik. Die höchsten Posten waren besetzt von Westdeutschen – um den Ossis die bürgerliche Demokratie beizubringen! Wer sich bei ihnen einschleimte und um ihre Gunst buhlte, wer das Blenden schnell genug lernte, hatte eine Chance, am Töpfchen mitzuessen. Beliebtes Mittel war ein CDU-Parteibuch. Nur wenige fielen nach oben. Viele zahlten dafür einen hohen Preis.

In diesem Sinne: Einen frohen Tag der Einheitsheuchelei.

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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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