Nicht alle Islamisten sind gleich. Die einen sind verabscheuungswürdig, andere moderat oder sogar Garanten einer neuen Ordnung. Das hängt davon ab, wie nützlich sie für den politischen Westen sein können. Über den Wandel des Islamistenbildes in westlichen Medien.
Ein Kommentar von Rüdiger Rauls.
Zweierlei Maß
Für Islamisten scheint immer häufiger im politischen Westen derselbe Grundsatz zu gelten wie für Terroristen: Dein Terrorist ist mein Freiheitskämpfer; dein Islamist ist mein Technokrat. Nicht dass die Werte sich im sogenannten Wertewesten verschoben hätten, nein, Terrorismus wird weiterhin abgelehnt, Menschenrechte sind weiterhin einzuhalten und Autokraten sind weiterhin keine Demokraten. Klarer Fall! Aber nicht jeder Autokrat ist gleich ein Schmuddelkind, schon gar nicht, wenn er wie die Saudis ein strategischer Partner ist oder über das dringend benötigte Gas verfügt wie Aserbaidschan, das man vom russischen Autokraten Putin nicht mehr beziehen will.
Auch bei den Menschenrechten scheint es zweierlei Maßeinheiten zu geben. Zur selben Zeit als im syrisch-irakischen Raum der Islamische Staat(IS) seinen Eroberungsfeldzug bis vor die Tore von Bagdad führte, verübten auch in der chinesischen Provinz Xingjang uigurische Islamisten Bombenanschläge (2014). China verurteilte die Bombenleger nach den Gesetzen seines Landes. Nach westlicher Sicht aber werden die Uiguren verfolgt, wobei die Opfer kaum eine Rolle spielen, ebenso wenig wie Chinas Sicht auf die Vorgänge. Die Exilvertretungen der Uiguren werden unterstützt. Ihretwegen haben die USA sogar Sanktionen gegen China erhoben.
Gleichzeitig werden seit Jahren in den Kurdengebieten „etwa 10.000 Islamisten in gut einem Dutzend Gefängnissen [ohne Prozess gefangen gehalten und im Lager al-Hol] rund 50.000 Angehörige, vor allem Frauen und Kinder, von IS-Kämpfern“ (1). Über deren Lebensumstände dringt nichts an die Öffentlichkeit. Dabei geschieht all das unter den Augen der dort stationierten US-Soldaten, mit Duldung durch die westlichen Wertemissionare, weitgehend verschwiegen von den westlichen Medien.
Es ist offensichtlich, dass der politische Westen einen Unterschied macht zwischen den Islamisten in den Uigurengebieten Chinas oder denen in Syrien und hier auch noch zwischen den Kämpfern des IS und denen aus Idlib. Trotz der neuen Namen, die sie sich die dort ansässigen zwischenzeitlich gaben, galten sie weiterhin als Islamisten. Das hinderte jedoch weder die Türkei noch den Westen daran, sie gegen Assad zu unterstützten, um dessen Regime zu schwächen. Da sie in der westlichen Darstellung weiterhin als Islamisten galten, vermied man jedoch den öffentlichen Umgang mit ihnen. Sie waren politisch nicht salonfähig.
Notwendige Umdeutung
Nun aber bringen die Kämpfer aus Idlib den Westen in eine Zwickmühle. Einerseits sind sie über Jahre als Al Quaida oder IS verteufelt und gemieden worden. Sogar ein Kopfgeld war auf den Anführer der Kämpfer aus Idlib ausgesetzt, den heutigen syrischen Staatschef Ahmad al Sharaa, mit Kampfnamen al-Golani. Das aber hindert heute westliche Vertreter nicht daran, sich mit ihm zu treffen und zu verhandeln im Gegensatz zu Putin, dem der Internationale Gerichtshof mit Verhaftung droht.
Andererseits hat al-Golani dem Westen mit dem Sturz Assads einen großen Gefallen getan. Dass seine Kämpfer die Wünsche des Westens erfüllen, bedeutet jedoch nicht, dass man sie nicht jederzeit auch wieder fallen lassen könnte. Diese Erfahrung hatten vor ihnen auch schon die Mudschaheddin in Afghanistan gemacht, die man, nachdem sie die sowjetischen Truppen zum Rückzug gezwungen hatten, fallen ließ und später als al Quaida sogar bekämpfte. Auch Saddam Hussein hatte die westliche Gunst verloren trotz des Krieges, den er gegen den Iran geführt hatte.
Selbst dschihadistische Milizen hatten zu Beginn des Aufstands gegen Assad westliche Waffen erhalten, als diese noch im Verbund mit der Freien Syrischen Armee gegen diesen angetreten waren. All das zeigt, wie wankelmütig westliche Gunst sein kann. Aber nun haben die Islamisten nicht nur Assad gestürzt, sie haben auch die Macht in Syrien übernommen. Damit sind sie im Ringen um Einfluss in einer geopolitisch so bedeutenden Region ein Macht-Faktor, der nicht außer Acht gelassen werden darf.
Das Problem für die meisten Meinungsmacher im politischen Westen besteht nun darin, wie man diese Entwicklung und deren Akteure neu bewerten und darstellen soll. Denn in deren Weltbild und Denken stellen Islamisten, auch die der siegreichen HTS (Hayat Tahrir al-Scham) weiterhin eine große Bedrohung dar, für die man absolut keine Sympathien aufbringt. Schon gar nicht will man durch deren Aufwertung etwaigen Anhängern in den eigenen Gesellschaften Auftrieb geben und sie aus der gesellschaftlichen Ächtung entlassen.
Trotzdem muss man eine Erklärung dafür finden, weshalb man jetzt, wo Islamisten wichtig und mächtig geworden sind, zu ihnen Kontakte aufnimmt beziehungsweise solche öffentlich nutzt, die bisher nur diskret bestanden hatten. Man muss also vor seinem Publikum, aber auch vor sich selbst rechtfertigen, wieso diese Islamisten nun auf einmal hoffähig sein sollen im Gegensatz zu anderen und vor allem in Gegensatz zu all dem, was vorher über sie berichtet und gesagt worden war.
Wie will man deutlich machen, dass ein Unterschied besteht zwischen den Islamisten aus Idlib und denen des Islamischen Staats, die man weiterhin als gefährlich ansieht und darstellt? Denn es geht ja nicht nur um Berichterstattung und Meinungsmache. Es geht ja auch um die Zweifel am eigenen Weltbild. Vermutlich werden die meisten Vertreter des westlichen Wertedenkens dadurch keine schlaflosen Nächte haben. Aber das Publikum wird durch die derzeitigen Konflikte in der Welt immer öfter in Widersprüche zwischen dem vermittelten Weltbild und der Wirklichkeit selbst verwickelt, zwischen dem, was heute gesagt wird, und früheren Aussagen, zwischen den öffentlich proklamierten Werten und dem offensichtlichen Handeln.
Es sind letztlich solche Winkelzüge und Widersprüche in den Deutungen, Erklärungen und Theorien der Meinungsmacher, die den Einfluss der Hoheitsmedien bei immer mehr Bürgern schwinden lassen. Vermutlich wird der ein oder andere stutzig werden, dass nun auf einmal mit Islamisten verhandelt wird, was vor nicht allzu langer Zeit noch als ausgeschlossen galt und was im Falle der Taliban immer strikt abgelehnt wird. Mancher wird sich auch fragen, wieso mit Assad nicht möglich gewesen sein sollte, was mit den Islamisten nun auf einmal geht. Die Ungereimtheiten im Verhalten der westlichen Meinungsmacher lassen Unverständnis und Zweifel wachsen bei denen, die bisher ihre Sichtweisen teilten.
Aus Saulus wird Paulus
Selbst auf die Gefahr hin, den Einfluss auf das Denken des eigenen Publikums zu verlieren, bleibt dem westlichen Führungspersonal nichts anderes übrig, als die neuen Herrscher in Syrien salonfähig zu machen. Der Saulus muss ein Paulus werden. Denn sie haben die Macht, es sind keine anderen mehr da, die man hofieren könnte, nachdem Assad das Land verlassen hat. Ahmad al Sharaa und seine HTS sind die letzten gesellschaftlichen Kräfte, die im Moment noch zur Stabilisierung Syriens zur Verfügung stehen. Alle anderen hat man durch den Krieg und die westlichen Sanktionen so sehr geschwächt, dass sie verbraucht oder vertrieben wurden.
Man muss also jetzt den neuen Herrschern, auch wenn sie Islamisten sind mit entsprechender Vergangenheit, etwas Gutes abgewinnen oder andichten. Man muss nun den Mund mit Seife auswaschen und versuchen, das schlechte Bild, das man über Jahre von den Islamisten gezeichnet hat, weich zu zeichnen: Eine Abmilderung hier, eine Einschränkung dort, etwas Nachsicht hier, etwas Milde dort, ein Augenzwinkern, eine leichte Anerkennung, alles was nötig ist, um den Stallgeruch der islamistischen Unmenschlichkeit abzumildern zu einem verständlichen und nachvollziehbaren Verhalten.
Die Unerbittlichkeit in der früheren Berichterstattung über Islamisten weicht allmählich einer Haltung, dass jeder eine zweite Chance verdient. In der Berichterstattung in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) über die Ereignisse, die zum Sturz von Assad führten, werden die Kämpfer aus Idlib kaum noch als Islamisten bezeichnet. Immer häufiger erscheinen Begriffe wie Rebellen, Aufständische, gelegentlich noch Dschihadisten, aber Islamisten kommen kaum noch vor. Diese Bezeichnung wird eigentlich nur noch im Zusammenhang mit dem IS (Islamischer Staat) verwendet.
Gesinnungswandel
Zu Beginn der Offensive der Kämpfer aus den Norden gegen die syrische Regierung war die Einstellung bei der FAZ gegenüber den Rebellen und ihrer Führung noch abwartend. Man schien sich alle Optionen zukünftiger Deutung der Ereignisse und Urteile über die Akteure offen halten zu wollen. So wird erwähnt, dass die HTS
„aus einer mit Al Quaida verbündeten Gruppe namens Nusra-Front hervorgegangen ist, [aber] von dem dschihadistischen Terrornetz hat sich Golani öffentlich losgesagt“ (2).
Er wird als „eine Art sunnitischer Hassan Nasrallah“ [dargestellt, der sich mit seinen Leuten] in Anzügen [präsentiert und ] der wirtschaftlichen Entwicklung, Infrastrukturmaßnahmen und öffentlichen Dienstleistungen das Wort“ (3) redet. Gleichzeitig wird aber auch erwähnt:
„In der Bevölkerung von Idlib herrscht Widerwillen gegen den brutalen HTS-Sicherheitsapparat, der auch vor Folter nicht zurückschreckt … ein Gutteil der dort lebenden Menschen ist nicht bereit, die Assad-Diktatur … gegen eine HTS-Autokratie einzutauschen“(4).
Zu Beginn der Offensive aus dem Norden werden in der Berichterstattung und Deutung der Ereignisse Assad und Golani und die Systeme, für die sie stehen, noch auf eine gleiche Stufe gestellt. Diese ausgewogen neutrale Haltung ändert sich mit dem zunehmenden Erfolg der Rebellen und dann mit ihrer späteren Übernahme der Macht in Syrien. Nur wenige Tage später, nach dem Fall von Damaskus, wird der Führer der HTS immer öfter unter seinem bürgerlichen Namen erwähnt als „Golani, alias Sharaa“ (5), der mit seinem bürgerlichen Namen dann auch seine Islamisten-Vergangenheit zumindest für die westlichen Meinungsmacher abgelegt zu haben scheint.
Man erkennt bei ihm inzwischen „einen pragmatischen Kurs [, dem zwar noch] „nicht alle Syrer oder ausländische Beobachter vertrauen“(6). Die Schreckensherrschaft der HTS, die man am 3.12. noch in Idlib erkannte, wird nun nicht mehr erwähnt, stattdessen wird herausgestellt, dass Golani als Sharaa erklärt hat,
„Racheakte oder Plünderungen seien zu unterlassen“ (7).
Mit der Befreiung der Gefangenen des Assad-Regimes werden die ehemaligen Islamisten sympathisch und
„abgesehen von einzelnen Plünderungen wirkte der Einmarsch der Islamisten in die Hauptstadt geordnet“ (8).
In der Berichterstattung der FAZ wird deutlich, dass man einer neuen Ordnung ohne Assad immer weniger ablehnend gegenübersteht, selbst wenn diese neue Normalität von früheren Islamisten hergestellt wird. Was nun noch ein Stein das Anstoßes werden könnte, sind die russischen Stützpunkte. Sind diese erst einmal beseitigt, ist Syrien wieder voll und ganz in den Händen des politischen Westens. Sie und die Anwesenheit der russischen Luftwaffe waren unter Assad die Garantie für die syrische Unabhängigkeit.
Quellen und Anmerkungen
(1) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 15.12.2024: Im staatsfreien Vakuum
(2) Frankfurter Allgemeine Zeitung(FAZ) vom 3.12.2024: Pragmatische Islamisten und Vasallen Erdogans
(3) ebenda
(4) ebenda
(5) FAZ vom 9.12.2024: Das Ende des Assad-Regimes
(6) ebenda
(7) ebenda
(8) FAZ vom 10.12.2024: Freudenschüsse und Plünderungen
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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Bildquelle: Mohammad Bash / shutterstock
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