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Stille Implosion

Stille Implosion

Insolvenzen galten einst als Weckruf – heute sind sie Anzeichen einer systemischen Selbstzerstörung. Der März 2025 brach historische Rekorde: 1.459 Firmeninsolvenzen in einem Monat, 49.000 bedrohte Arbeitsplätze allein im ersten Quartal. Und kein Ende in Sicht. Eine Wirtschaft taumelt – zwischen teurer Energie, geplatzten Investitionsträumen und einem politischen Kurs ohne Korrekturwille.

Ein Beitrag von Sabiene Jahn.

„Extrem niedrige Zinsen haben Insolvenzen über viele Jahre verhindert“, erklärt Steffen Müller, Leiter der Insolvenzforschung am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Doch was als Stütze galt, ist nun zur Schuld geworden. Der plötzliche Zinsanstieg seit 2022 hat die ohnehin fragile Unternehmenslandschaft ins Wanken gebracht. 1.459 Firmeninsolvenzen im März – so viele wie seit 2009 nicht mehr. Und nicht nur die Zahl ist rekordverdächtig. Auch die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind dramatisch: Im ersten Quartal standen über 49.000 Jobs auf der Kippe. Vor allem in der Industrie, die einst als Rückgrat der deutschen Wirtschaft galt. Der IWH-Insolvenztrend zeigt einen Anstieg um zwölf Prozent im Vergleich zum März 2024. Verglichen mit dem ersten Quartal 2020 – also noch bevor die Gesundheitskrise das Insolvenzgeschehen hätte prägen können – stieg die Zahl der Insolvenzen im ersten Quartal 2025 um 52 Prozent. Unter den großen Bundesländern gab es die stärksten Zuwächse. Besonders betroffen: Nordrhein-Westfalen mit 339 Firmenpleiten, Bayern (204) und Baden-Württemberg (147). In Berlin liegt die Quote bei 10,9 Insolvenzen pro 100.000 Einwohner – eine düstere Rekordmarke.

Was hinter nüchternen Zahlen verschwindet, sind die Geschichten derer, die mitgehen, wenn ein Unternehmen fällt. Die Industrie trifft es besonders hart: von Maschinenbau bis Batteriezellenproduktion – oft stehen ganze Zulieferketten, regionale Arbeitsmärkte und Familienexistenzen auf dem Spiel. Ein Beispiel: Die Insolvenz von Northvolt. Der schwedische Batteriehersteller, einst Hoffnungs- und Innovationssymbol, hat beim Stockholmer Gericht Gläubigerschutz beantragt. Die deutsche Tochter in Heide hängt am Tropf. Bei Porsche und Scania herrschte große Unruhe. Um Alternativen kümmerte sich Scania-Chef Christian Levin lange nicht. Inzwischen arbeitet man beim Lkw-Hersteller daran, die eigenen Trucks auch mit Zellen des chinesischen Lieferanten CATL ausrüsten zu können. Bei Porsche waren Northvolt-Zellen für die elektrische Version des 718 eingeplant. Einen anderen Lieferanten gibt es offenbar nicht. Wegen der Probleme bei Northvolt, so heißt es im Konzern, wurde der Start des Modells auf frühestens 2027 verschoben. Tausende Jobs in Skellefteå, Schweden, stehen auf der Kippe – und mit ihnen der Glaube an eine selbstständige europäische Batteriefertigung. „Es ist ein unglaublich schwieriger Tag für alle bei Northvolt“, sagt Interims-Aufsichtsratschef Tom Johnstone. Er erklärt den Schritt als Folge

„gestiegener Kapitalkosten, geopolitischer Unsicherheiten und interner Schwierigkeiten beim Produktionshochlauf.“

Traditionsmarken sterben leise

Manche Pleiten tun besonders weh, weil sie mehr als ein Unternehmen zerstören. Die ORWO Net GmbH, einst Herz der ostdeutschen Filmindustrie, ist insolvent. Die Marke „Original Wolfen“ – geboren aus Agfa, einst Exportschlager aus dem Osten Deutschlands und größtes Fotolabore Europas – steht erneut vor dem Aus. 244 Mitarbeiter, ein Jahresumsatz von 30 Millionen Euro, ein Verlust von 1,5 Millionen im Jahr 2023. Der erbitterte Preiskampf, die Inflation, hohe Energiepreise – all das lässt das Traditionshaus in Bitterfeld-Wolfen wanken. „Der Markt ist zu kompetitiv, die Marketingaufwendungen explodieren, und der Preiskampf mit Rabattaktionen frisst die Margen“, so der Geschäftsbericht. Insolvenzverwalter Christian Heintze erklärt:

„Die außergerichtliche Sanierung ist gescheitert.“

Nicht weit davon entfernt, in Sachsen, kämpfte die Glashütte Freital ums Überleben. Die „Königliche Friedrich-Hütte“, gegründet 1802, produziert heute noch Flaschen und Gläser – unter Schmerzen. Am 26. Februar meldete sie Insolvenz an. Die Ursachen: „Energiepreise, CO2-Abgaben und schwankende Marktpreise“, so Sanierungsberater Matthias Rönsch. Von 125 Jobs sollen 40 wegfallen. Selbst ein möglicher Edeka-Auftrag bringt bislang nur Hoffnung, keine Sicherheit.

Politik im Off

Dass sich die wirtschaftliche Lage weiter verschärfen wird, ist für Ökonomen keine Überraschung. Die Kombination aus gestiegenen Produktionskosten, Investitionsstau, geopolitischen Risiken und einer BIP-Schrumpfung durch US-Zölle wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Das Bruttoinlandsprodukt könnte im ersten Halbjahr 2025 stärker sinken als prognostiziert – mit langfristigen Folgen für Beschäftigung, Staatsfinanzen und soziale Stabilität. Hinzu kommt: Der Reformdruck auf das Insolvenzrecht hat zu einem Anstieg der gerichtlichen Anträge geführt – viele Unternehmen nutzen die Insolvenz heute gezielt zur Sanierung. Doch wo sind die politischen Lösungen? Wo bleiben Investitionsimpulse, Energiepreisdeckel, Energiepreissenkungen, gezielte Entlastungen für mittelständische Betriebe?

Die politische Antwort? Bisher kaum mehr als Floskeln und Vertröstungen auf 2026. Doch so lange wird es für viele nicht mehr reichen. Der stellvertretende Leiter des Dresdner ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, Joachim Ragnitz, beruhigt mit Blick auf die US-Zollerhöhungen unterdes die neuen Bundesländer. Die meisten Exportwaren aus Thüringen gingen in die USA:

"Auf der anderen Seite ist es so, so Ragnitz, dass die Exportquoten in Ostdeutschland ja deutlich geringer sind, als es in Westdeutschland der Fall ist. Also dieser negative Effekt, den man da zu erwarten hat, wird nach meiner Einschätzung dann in Ostdeutschland nicht ganz so stark ausfallen wie in Deutschland insgesamt.“

Er berücksichtigt dabei nicht, wie Ute Zacharias, Sprecherin des Thüringer Wirtschaftsverband, verdeutlicht, dass die Situation bereits schwierig ist. Zacharias:

“Wir haben ja jetzt schon eine schwierige, wirtschaftliche Situation. Wir haben eine Rezession, wir haben jetzt schon in Thüringen Kurzarbeit in einigen Betrieben, es kommt jetzt schon dazu, dass zum Teil einige Arbeitsplätze abgebaut werden.“

Zacharias schlussfolgert ganz logisch, „wenn das noch dazukommt, verschärft sich natürlich die Lage.“ Die stille Implosion der Wirtschaft schreitet in ungeahntem Tempo fort.

Quellen und Anmerkungen:

1.) https://www.iwh-halle.de/forschung/daten-und-analysen/iwh-insolvenzforschung

2.) https://www.iwh-halle.de/presse/pressemitteilungen/detail/iwh-insolvenztrend-weiterhin-hoechststaende-bei-insolvenz-zahlen-industrie-stark-betroffen

3.) https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/northvolt-insolvenz-schweden-100.html

4.) https://www.manager-magazin.de/unternehmen/industrie/northvolt-insolvenz-robert-habeck-hofft-auf-neuen-investor-fuer-batteriezellfabrik-in-heide-a-b81434aa-21d8-4559-a38c-3869458fc3c5

5.) https://www.wiwo.de/unternehmen/handel/orwo-die-foto-firma-ist-insolvent/100116557.html

6.) https://www.wirtschaft-in-sachsen.de/de/glashuette-freital-ist-insolvent/

7.) https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen/dresden/freital-pirna/glashuette-insolvenz-konkurs-entlassungen-arbeitsplatz-100.html

8.) https://www.tag24.de/sachsen/insolvenzantrag-glas-tradition-nach-223-jahren-vor-aus-3363791

9.) https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/wirtschaft/usa-zoelle-ifo-institut-preis-teuerung-nicht-sofort-100.html

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Wir danken der Autorin für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: Alexey Fursov / shutterstock


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